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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nicht umsonst hat der bekannte französische Sozialist als Motto auf den
Kopf seines Blattes gedruckt: M Dien, ni iriMrs. Hat das arme Volk keinen
Gott mehr, in dem es zufrieden ist, ist ihm das, was ihm in den Kinderjahren
als heilige und gewisse Wahrheit vorgehalten worden ist, Lüge und Pfaffen¬
trug geworden, erfunden, um das arme Volk durch das Versprechen des Jen¬
seits über das Elend des Diesseits zu täuschen, so ist einem solchen eben
nichts mehr heilig, am wenigsten der Geldsack des Fabrikanten. Er sieht sich
an als genarrt und betrogen. Wenn die neue Zeit mit ihrer Sturzflut von
Gesetzen so vieles Alte geändert hat, warum nicht auch die Einrichtung des
Eigentums? "Man muß nur die Mehrheit haben, und die haben wir, wenn
wir einig sind: dann machen wir die Gesetze." Was will man dem entgegen¬
halten? Vorläufig Gendarmen, dann Kanonen; das hilft aber auf die
Dauer nicht. Diesem Materialismus ist nur durch den Idealismus zu be¬
gegnen, den das Christentum predigt.

Die Stellung der evangelischen Kirche muß gehoben werden, das sollten
alle, die den Staat, wie wir ihn jetzt haben, behalten wollen und lieben, ein¬
sehe". Sie hat es auch sehr nötig, daß ihre Angehörigen und alle Freunde
des deutschen Vaterlandes wieder einmal einen freundlichen Blick auf sie werfen.
Sie ist im Verlauf der letztem Jahrzehnte sehr an die Wand gedrückt worden,
man hat ihr viele Wurzeln abgegraben. Der Materialismus richtet seine
Verheerungen hauptsächlich in ihren Reihen an; der Katholik bleibt in: Gehorsam
gegen seine Kirche.

Wer nun dem Materialismus verfalle" ist, wer den Glauben an einen
persönlichen Gott u"d an die Unsterblichkeit des Geistes als eine Kinderkrank¬
heit betrachtet, die uuter dem scharfen, aber reinen Hauche der Wissenschaft bald
verschwinden müsse, für den hat das Schicksal der Kirche der Reformation
kein Interesse. Aber diese bilden mir eine verschwindende Zahl, die Mehrzahl
unsers evangelischen Volkes, auch der Gebildeten, ist durchaus nicht gleichgiltig
gegen ihre Kirche. Das zeigte das Lutherjahr und so manches andre hoffnungs¬
volle Zeichen der Zeit. Und sie möchte ich aufrufen, zu der Kirche ihrer
Vorfahren und ihrer Jugend wieder in ein unseres Verhältnis zu treten.

1. Vor allen Dingen dadurch, daß sie sich mehr um das bekümmern,
was die evangelische Kirche ist und will. Man kann da heutzutage die boden¬
loseste Unwissenheit antreffen. Wenn man z. B. in den Museen und Kirchen
Italiens mit deutschen Protestanten zusammengeht, so erlebt man geradezu
wunderbare Dinge. Viele wissen besser Bescheid über die Religionssysteme und
Göttergeschichten der antiken und modernen Heidenvölker, als über den Glauben
und die Lehre ihrer Kirche und das, was in der Kirche vorgeht. Einem
Katholiken gegenüber sind sie alsbald geschlagen.

2. Man helfe dafür sorgen, daß unsre Kirchen und gottesdienstlichen Ein-
richtungen nicht gar zu dürftig neben den katholischen stehen. Es ist durch-


Nicht umsonst hat der bekannte französische Sozialist als Motto auf den
Kopf seines Blattes gedruckt: M Dien, ni iriMrs. Hat das arme Volk keinen
Gott mehr, in dem es zufrieden ist, ist ihm das, was ihm in den Kinderjahren
als heilige und gewisse Wahrheit vorgehalten worden ist, Lüge und Pfaffen¬
trug geworden, erfunden, um das arme Volk durch das Versprechen des Jen¬
seits über das Elend des Diesseits zu täuschen, so ist einem solchen eben
nichts mehr heilig, am wenigsten der Geldsack des Fabrikanten. Er sieht sich
an als genarrt und betrogen. Wenn die neue Zeit mit ihrer Sturzflut von
Gesetzen so vieles Alte geändert hat, warum nicht auch die Einrichtung des
Eigentums? „Man muß nur die Mehrheit haben, und die haben wir, wenn
wir einig sind: dann machen wir die Gesetze." Was will man dem entgegen¬
halten? Vorläufig Gendarmen, dann Kanonen; das hilft aber auf die
Dauer nicht. Diesem Materialismus ist nur durch den Idealismus zu be¬
gegnen, den das Christentum predigt.

Die Stellung der evangelischen Kirche muß gehoben werden, das sollten
alle, die den Staat, wie wir ihn jetzt haben, behalten wollen und lieben, ein¬
sehe». Sie hat es auch sehr nötig, daß ihre Angehörigen und alle Freunde
des deutschen Vaterlandes wieder einmal einen freundlichen Blick auf sie werfen.
Sie ist im Verlauf der letztem Jahrzehnte sehr an die Wand gedrückt worden,
man hat ihr viele Wurzeln abgegraben. Der Materialismus richtet seine
Verheerungen hauptsächlich in ihren Reihen an; der Katholik bleibt in: Gehorsam
gegen seine Kirche.

Wer nun dem Materialismus verfalle» ist, wer den Glauben an einen
persönlichen Gott u»d an die Unsterblichkeit des Geistes als eine Kinderkrank¬
heit betrachtet, die uuter dem scharfen, aber reinen Hauche der Wissenschaft bald
verschwinden müsse, für den hat das Schicksal der Kirche der Reformation
kein Interesse. Aber diese bilden mir eine verschwindende Zahl, die Mehrzahl
unsers evangelischen Volkes, auch der Gebildeten, ist durchaus nicht gleichgiltig
gegen ihre Kirche. Das zeigte das Lutherjahr und so manches andre hoffnungs¬
volle Zeichen der Zeit. Und sie möchte ich aufrufen, zu der Kirche ihrer
Vorfahren und ihrer Jugend wieder in ein unseres Verhältnis zu treten.

1. Vor allen Dingen dadurch, daß sie sich mehr um das bekümmern,
was die evangelische Kirche ist und will. Man kann da heutzutage die boden¬
loseste Unwissenheit antreffen. Wenn man z. B. in den Museen und Kirchen
Italiens mit deutschen Protestanten zusammengeht, so erlebt man geradezu
wunderbare Dinge. Viele wissen besser Bescheid über die Religionssysteme und
Göttergeschichten der antiken und modernen Heidenvölker, als über den Glauben
und die Lehre ihrer Kirche und das, was in der Kirche vorgeht. Einem
Katholiken gegenüber sind sie alsbald geschlagen.

2. Man helfe dafür sorgen, daß unsre Kirchen und gottesdienstlichen Ein-
richtungen nicht gar zu dürftig neben den katholischen stehen. Es ist durch-


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[0453] Nicht umsonst hat der bekannte französische Sozialist als Motto auf den Kopf seines Blattes gedruckt: M Dien, ni iriMrs. Hat das arme Volk keinen Gott mehr, in dem es zufrieden ist, ist ihm das, was ihm in den Kinderjahren als heilige und gewisse Wahrheit vorgehalten worden ist, Lüge und Pfaffen¬ trug geworden, erfunden, um das arme Volk durch das Versprechen des Jen¬ seits über das Elend des Diesseits zu täuschen, so ist einem solchen eben nichts mehr heilig, am wenigsten der Geldsack des Fabrikanten. Er sieht sich an als genarrt und betrogen. Wenn die neue Zeit mit ihrer Sturzflut von Gesetzen so vieles Alte geändert hat, warum nicht auch die Einrichtung des Eigentums? „Man muß nur die Mehrheit haben, und die haben wir, wenn wir einig sind: dann machen wir die Gesetze." Was will man dem entgegen¬ halten? Vorläufig Gendarmen, dann Kanonen; das hilft aber auf die Dauer nicht. Diesem Materialismus ist nur durch den Idealismus zu be¬ gegnen, den das Christentum predigt. Die Stellung der evangelischen Kirche muß gehoben werden, das sollten alle, die den Staat, wie wir ihn jetzt haben, behalten wollen und lieben, ein¬ sehe». Sie hat es auch sehr nötig, daß ihre Angehörigen und alle Freunde des deutschen Vaterlandes wieder einmal einen freundlichen Blick auf sie werfen. Sie ist im Verlauf der letztem Jahrzehnte sehr an die Wand gedrückt worden, man hat ihr viele Wurzeln abgegraben. Der Materialismus richtet seine Verheerungen hauptsächlich in ihren Reihen an; der Katholik bleibt in: Gehorsam gegen seine Kirche. Wer nun dem Materialismus verfalle» ist, wer den Glauben an einen persönlichen Gott u»d an die Unsterblichkeit des Geistes als eine Kinderkrank¬ heit betrachtet, die uuter dem scharfen, aber reinen Hauche der Wissenschaft bald verschwinden müsse, für den hat das Schicksal der Kirche der Reformation kein Interesse. Aber diese bilden mir eine verschwindende Zahl, die Mehrzahl unsers evangelischen Volkes, auch der Gebildeten, ist durchaus nicht gleichgiltig gegen ihre Kirche. Das zeigte das Lutherjahr und so manches andre hoffnungs¬ volle Zeichen der Zeit. Und sie möchte ich aufrufen, zu der Kirche ihrer Vorfahren und ihrer Jugend wieder in ein unseres Verhältnis zu treten. 1. Vor allen Dingen dadurch, daß sie sich mehr um das bekümmern, was die evangelische Kirche ist und will. Man kann da heutzutage die boden¬ loseste Unwissenheit antreffen. Wenn man z. B. in den Museen und Kirchen Italiens mit deutschen Protestanten zusammengeht, so erlebt man geradezu wunderbare Dinge. Viele wissen besser Bescheid über die Religionssysteme und Göttergeschichten der antiken und modernen Heidenvölker, als über den Glauben und die Lehre ihrer Kirche und das, was in der Kirche vorgeht. Einem Katholiken gegenüber sind sie alsbald geschlagen. 2. Man helfe dafür sorgen, daß unsre Kirchen und gottesdienstlichen Ein- richtungen nicht gar zu dürftig neben den katholischen stehen. Es ist durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/453>, abgerufen am 23.07.2024.