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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Rennzeichenlehro Giovanni Morellis

Beispiel hervorzuheben, ein vielbesprochenes, dem Raffacl zugeschriebenes Bildchen:
Apollo und Marsyas, das dreißig Jahre lang von seinem Entdecker und Be¬
sitzer, dem Engländer Morris Moore, allen Galerien angeboten wurde, bis es
sich endlich 1883 die Verwaltung des Louvre für die unsinnige Summe von
200,000 Franks aufhängen ließ, in einem jener ersten Aufsätze für "ein herrliches
Werk des jungen Timoteo Viti von Urbino" erklärt, während er es in seinem
neuen Buche el" "weltbekanntes Bild des Pietro Perugino" nennt, womit er
übrigens Wohl das Richtige getroffen haben wird. Seine" Betrachtungen über
die beiden römischen Privatgnlerien hat Morelli aber noch eine Vorrede und
eine sehr umfangreiche Einleitung vorausgeschickt, worin er sich eingehend über
sein Prinzip und seine Methode ausspricht, häufig unter unmittelbaren Angriffen
oder versteckte" Seitenhieben gegen seinen Widersacher Bode. "Ist meine Auf¬
fassung und Anschauung die richtige, sagt er, so ist die seinige grundfalsch, und
umgekehrt, da wir beide leider in allem die erklärtesten Antipoden sind. Was
dem einen von uns schwarz erscheint, ist dem andern weiß, und was für Herrn
Direktor Bode Meisterwerke sind, erscheint meinen Augen meist als mittelmäßige
Schularbeit. Und weder aus seinem, noch ans meinem Munde spricht Partei¬
leidenschaft; sowohl ihm wie nur ist es dabei lediglich um die Wahrheit zu
thun, und seine Augen wie die meinen sehen die Dinge wirklich so, wie wir
beide sie beurteilen und beschreiben." Aber, sagt Morelli an einer andern
Stelle seines Vorworts, es giebt zwei Arte" des Sehens. "Die eine ist die
Sache des äußern, die andere des innern Auges. Die erste Art, die Dinge dieser
Welt anzusehen, gehört jener großen Menge an, aus deren grenzenlose Glnubens-
fähigkeit die meisten Kunstschriftsteller auch stets gerechnet haben; die andre
ist das Privilegium einer winzig kleinen Zahl einsichtsvoller und unabhängiger
Kunstfreunde und Künstler. Nur diesen durch natürliche Anlagen und durch
langes, freudiges Studium bevorzugten ist es vorbehalten, im menschlichen
Antlitz, in der Form und Bewegung der Hand, in der Stellung des Körpers,
kurz in der menschlichen Gestalt geistige Beziehungen wahrzunehmen, die den
andern entweder ganz und gar entgehen oder, was dasselbe ist, ganz bedeutungslos
erscheinen. Mit einem Wort: die äußre Form in den Werken der Kunst
richtig aufzufassen, auf deren Erkenntnis ich ein besondres Gewicht lege, ist
nicht jedermanns Sache; diese äußre Form der Menschengestalt ist nicht zufällig,
wie viele meinen, sondern sie hängt von geistigen Ursachen ab, wogegen die
sogenannten Schnörkel nceidentiell und Sachen der Angewöhnung sind. Während
nun die Grundform sowohl der Hand als des Ohres bei allen selbständigen
Meistern charakteristisch und daher bei der Bestimmung ihrer Werke maßgebend
ist, dürften die sogenannten Schnörkel höchstens dazu dienen, die Werke von
charakterlosen Künstlern leichter zu erkennen."

In der Hauptsache richten sich Morellis Angriffe gegen die von Bode
bearbeitete fünfte Auslage von Burckhardts bekanntem und mit Recht geschätzten


Die Rennzeichenlehro Giovanni Morellis

Beispiel hervorzuheben, ein vielbesprochenes, dem Raffacl zugeschriebenes Bildchen:
Apollo und Marsyas, das dreißig Jahre lang von seinem Entdecker und Be¬
sitzer, dem Engländer Morris Moore, allen Galerien angeboten wurde, bis es
sich endlich 1883 die Verwaltung des Louvre für die unsinnige Summe von
200,000 Franks aufhängen ließ, in einem jener ersten Aufsätze für „ein herrliches
Werk des jungen Timoteo Viti von Urbino" erklärt, während er es in seinem
neuen Buche el» „weltbekanntes Bild des Pietro Perugino" nennt, womit er
übrigens Wohl das Richtige getroffen haben wird. Seine» Betrachtungen über
die beiden römischen Privatgnlerien hat Morelli aber noch eine Vorrede und
eine sehr umfangreiche Einleitung vorausgeschickt, worin er sich eingehend über
sein Prinzip und seine Methode ausspricht, häufig unter unmittelbaren Angriffen
oder versteckte» Seitenhieben gegen seinen Widersacher Bode. „Ist meine Auf¬
fassung und Anschauung die richtige, sagt er, so ist die seinige grundfalsch, und
umgekehrt, da wir beide leider in allem die erklärtesten Antipoden sind. Was
dem einen von uns schwarz erscheint, ist dem andern weiß, und was für Herrn
Direktor Bode Meisterwerke sind, erscheint meinen Augen meist als mittelmäßige
Schularbeit. Und weder aus seinem, noch ans meinem Munde spricht Partei¬
leidenschaft; sowohl ihm wie nur ist es dabei lediglich um die Wahrheit zu
thun, und seine Augen wie die meinen sehen die Dinge wirklich so, wie wir
beide sie beurteilen und beschreiben." Aber, sagt Morelli an einer andern
Stelle seines Vorworts, es giebt zwei Arte» des Sehens. „Die eine ist die
Sache des äußern, die andere des innern Auges. Die erste Art, die Dinge dieser
Welt anzusehen, gehört jener großen Menge an, aus deren grenzenlose Glnubens-
fähigkeit die meisten Kunstschriftsteller auch stets gerechnet haben; die andre
ist das Privilegium einer winzig kleinen Zahl einsichtsvoller und unabhängiger
Kunstfreunde und Künstler. Nur diesen durch natürliche Anlagen und durch
langes, freudiges Studium bevorzugten ist es vorbehalten, im menschlichen
Antlitz, in der Form und Bewegung der Hand, in der Stellung des Körpers,
kurz in der menschlichen Gestalt geistige Beziehungen wahrzunehmen, die den
andern entweder ganz und gar entgehen oder, was dasselbe ist, ganz bedeutungslos
erscheinen. Mit einem Wort: die äußre Form in den Werken der Kunst
richtig aufzufassen, auf deren Erkenntnis ich ein besondres Gewicht lege, ist
nicht jedermanns Sache; diese äußre Form der Menschengestalt ist nicht zufällig,
wie viele meinen, sondern sie hängt von geistigen Ursachen ab, wogegen die
sogenannten Schnörkel nceidentiell und Sachen der Angewöhnung sind. Während
nun die Grundform sowohl der Hand als des Ohres bei allen selbständigen
Meistern charakteristisch und daher bei der Bestimmung ihrer Werke maßgebend
ist, dürften die sogenannten Schnörkel höchstens dazu dienen, die Werke von
charakterlosen Künstlern leichter zu erkennen."

In der Hauptsache richten sich Morellis Angriffe gegen die von Bode
bearbeitete fünfte Auslage von Burckhardts bekanntem und mit Recht geschätzten


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[0444] Die Rennzeichenlehro Giovanni Morellis Beispiel hervorzuheben, ein vielbesprochenes, dem Raffacl zugeschriebenes Bildchen: Apollo und Marsyas, das dreißig Jahre lang von seinem Entdecker und Be¬ sitzer, dem Engländer Morris Moore, allen Galerien angeboten wurde, bis es sich endlich 1883 die Verwaltung des Louvre für die unsinnige Summe von 200,000 Franks aufhängen ließ, in einem jener ersten Aufsätze für „ein herrliches Werk des jungen Timoteo Viti von Urbino" erklärt, während er es in seinem neuen Buche el» „weltbekanntes Bild des Pietro Perugino" nennt, womit er übrigens Wohl das Richtige getroffen haben wird. Seine» Betrachtungen über die beiden römischen Privatgnlerien hat Morelli aber noch eine Vorrede und eine sehr umfangreiche Einleitung vorausgeschickt, worin er sich eingehend über sein Prinzip und seine Methode ausspricht, häufig unter unmittelbaren Angriffen oder versteckte» Seitenhieben gegen seinen Widersacher Bode. „Ist meine Auf¬ fassung und Anschauung die richtige, sagt er, so ist die seinige grundfalsch, und umgekehrt, da wir beide leider in allem die erklärtesten Antipoden sind. Was dem einen von uns schwarz erscheint, ist dem andern weiß, und was für Herrn Direktor Bode Meisterwerke sind, erscheint meinen Augen meist als mittelmäßige Schularbeit. Und weder aus seinem, noch ans meinem Munde spricht Partei¬ leidenschaft; sowohl ihm wie nur ist es dabei lediglich um die Wahrheit zu thun, und seine Augen wie die meinen sehen die Dinge wirklich so, wie wir beide sie beurteilen und beschreiben." Aber, sagt Morelli an einer andern Stelle seines Vorworts, es giebt zwei Arte» des Sehens. „Die eine ist die Sache des äußern, die andere des innern Auges. Die erste Art, die Dinge dieser Welt anzusehen, gehört jener großen Menge an, aus deren grenzenlose Glnubens- fähigkeit die meisten Kunstschriftsteller auch stets gerechnet haben; die andre ist das Privilegium einer winzig kleinen Zahl einsichtsvoller und unabhängiger Kunstfreunde und Künstler. Nur diesen durch natürliche Anlagen und durch langes, freudiges Studium bevorzugten ist es vorbehalten, im menschlichen Antlitz, in der Form und Bewegung der Hand, in der Stellung des Körpers, kurz in der menschlichen Gestalt geistige Beziehungen wahrzunehmen, die den andern entweder ganz und gar entgehen oder, was dasselbe ist, ganz bedeutungslos erscheinen. Mit einem Wort: die äußre Form in den Werken der Kunst richtig aufzufassen, auf deren Erkenntnis ich ein besondres Gewicht lege, ist nicht jedermanns Sache; diese äußre Form der Menschengestalt ist nicht zufällig, wie viele meinen, sondern sie hängt von geistigen Ursachen ab, wogegen die sogenannten Schnörkel nceidentiell und Sachen der Angewöhnung sind. Während nun die Grundform sowohl der Hand als des Ohres bei allen selbständigen Meistern charakteristisch und daher bei der Bestimmung ihrer Werke maßgebend ist, dürften die sogenannten Schnörkel höchstens dazu dienen, die Werke von charakterlosen Künstlern leichter zu erkennen." In der Hauptsache richten sich Morellis Angriffe gegen die von Bode bearbeitete fünfte Auslage von Burckhardts bekanntem und mit Recht geschätzten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/444>, abgerufen am 23.07.2024.