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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

er auch Gustav Waagen, den man wohl den Begründer der vergleichenden
Kunstwissenschaft nennen darf, in Berlin kennen. Zu literarischen, auf die Kunst
bezüglichen Arbeiten kam Morelli damals noch nicht. Nachdem er sich 1838
zu Agassiz nach NeufclMel begeben und sich in Gemeinschaft mit diesem natur¬
wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich namentlich ans den Bau und die
Bewegung der Gletscher richteten, gewidmet und dann seine Studien in Paris
und Siena fortgesetzt hatte, war er Jahrzehnte hindurch im Dienste seiner
Mitbürger, zuletzt als Deputirter in Bergamo, thätig. Aber er fand doch nebenbei
Gelegenheit, dnrch größere Reisen seine Kenntnisse zu erweitern und sich durch
eigene Anschauung ein allmählig zu großer Gründlichkeit und Bedachtsamkeit
heranreifendes Urteil an dem in öffentlichen und Privatsammlungen Enropas
aufgespeicherten Besitz von Gemälden der italienischen Schulen zu bilden. Aus
seinem Studieugaugc mag es sich zum Teil erklären, daß sich sein Ange zu¬
nächst für die Unterscheidung jener nußern Merkmale schärfte, auf die er seine
Lehre gründete; doch ist seine Bildung so umfassend, daß er auch alle übrigen
Umstände, die bei der Beurteilung eines Bildes in Betracht zu ziehen sind,
die der malerischen Analyse, den geistigen Gehalt und die ästhetische Würdigung,
die letztere freilich in bescheidensten Maße, nicht außer Acht läßt. Jedenfalls
befinde!? sich aber die im Unrecht, die Morellis Berechtigung, über Bilder zu
urteilen, in Frage stellen, weil er von Hause aus Mediziner ist. Er selbst
hat einen solchen Angriff kürzlich abgewiesen, indem er daran erinnerte, daß
sein Hanptgegner, der gcgenwütig für einen der größten Kunstkenner Europas
gilt, ursprünglich Jurist und als solcher schon praktisch thätig gewesen war,
ehe er sich dem Studium der Kunst zuwendete. Und dies ist kein vereinzeltes
Beispiel. Die Mehrzahl der namhaften Kunstgelehrten der Gegenwart und
der Professoren der Kunstgeschichte an deutschen Hochschulen ist zur Kunst¬
wissenschaft von einem andern Studium gelangt, da bis zum Ende der sechziger
Jahre kaum die Archäologie, geschweige denn die Kunstwissenschaft universitäts¬
fähig, ein systematisches Studium der Kunstgeschichte an deutschen Universitäten
also bis 187", von einigen wenigen Ansncchmen abgesehen, gar nicht möglich
war.

So ist denn auch Morellis oben erwähntes Buch "Die Werke ita¬
lienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin" gerade
von den gelehrtesten und besonnensten Vertretern der deutschen Kunstwissenschaft
mit lebhaftem Beifall und mit Zustimmung aufgenommen worden, und Männer
wie Anton Springer in Leipzig, Julius Meyer in Berlin, Karl Wvermann
in Dresden und Karl von Lützow in Wien haben kein Bedenken getragen, die
Ergebnisse der Mvrellischen Kritik anzunehmen, zum Teil sogar Galericnkatalvgeu
einzuverleiben, in keinem Falle aber zu ignoriren. Was insbesondre Springer
betrifft, so ist er, was hier beiläufig erwähnt sein mag, in mehreren Fällen
unabhängig von Morelli hinsichtlich berühmter Bilder zu ähnlichen Ergebnissen


Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

er auch Gustav Waagen, den man wohl den Begründer der vergleichenden
Kunstwissenschaft nennen darf, in Berlin kennen. Zu literarischen, auf die Kunst
bezüglichen Arbeiten kam Morelli damals noch nicht. Nachdem er sich 1838
zu Agassiz nach NeufclMel begeben und sich in Gemeinschaft mit diesem natur¬
wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich namentlich ans den Bau und die
Bewegung der Gletscher richteten, gewidmet und dann seine Studien in Paris
und Siena fortgesetzt hatte, war er Jahrzehnte hindurch im Dienste seiner
Mitbürger, zuletzt als Deputirter in Bergamo, thätig. Aber er fand doch nebenbei
Gelegenheit, dnrch größere Reisen seine Kenntnisse zu erweitern und sich durch
eigene Anschauung ein allmählig zu großer Gründlichkeit und Bedachtsamkeit
heranreifendes Urteil an dem in öffentlichen und Privatsammlungen Enropas
aufgespeicherten Besitz von Gemälden der italienischen Schulen zu bilden. Aus
seinem Studieugaugc mag es sich zum Teil erklären, daß sich sein Ange zu¬
nächst für die Unterscheidung jener nußern Merkmale schärfte, auf die er seine
Lehre gründete; doch ist seine Bildung so umfassend, daß er auch alle übrigen
Umstände, die bei der Beurteilung eines Bildes in Betracht zu ziehen sind,
die der malerischen Analyse, den geistigen Gehalt und die ästhetische Würdigung,
die letztere freilich in bescheidensten Maße, nicht außer Acht läßt. Jedenfalls
befinde!? sich aber die im Unrecht, die Morellis Berechtigung, über Bilder zu
urteilen, in Frage stellen, weil er von Hause aus Mediziner ist. Er selbst
hat einen solchen Angriff kürzlich abgewiesen, indem er daran erinnerte, daß
sein Hanptgegner, der gcgenwütig für einen der größten Kunstkenner Europas
gilt, ursprünglich Jurist und als solcher schon praktisch thätig gewesen war,
ehe er sich dem Studium der Kunst zuwendete. Und dies ist kein vereinzeltes
Beispiel. Die Mehrzahl der namhaften Kunstgelehrten der Gegenwart und
der Professoren der Kunstgeschichte an deutschen Hochschulen ist zur Kunst¬
wissenschaft von einem andern Studium gelangt, da bis zum Ende der sechziger
Jahre kaum die Archäologie, geschweige denn die Kunstwissenschaft universitäts¬
fähig, ein systematisches Studium der Kunstgeschichte an deutschen Universitäten
also bis 187», von einigen wenigen Ansncchmen abgesehen, gar nicht möglich
war.

So ist denn auch Morellis oben erwähntes Buch „Die Werke ita¬
lienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin" gerade
von den gelehrtesten und besonnensten Vertretern der deutschen Kunstwissenschaft
mit lebhaftem Beifall und mit Zustimmung aufgenommen worden, und Männer
wie Anton Springer in Leipzig, Julius Meyer in Berlin, Karl Wvermann
in Dresden und Karl von Lützow in Wien haben kein Bedenken getragen, die
Ergebnisse der Mvrellischen Kritik anzunehmen, zum Teil sogar Galericnkatalvgeu
einzuverleiben, in keinem Falle aber zu ignoriren. Was insbesondre Springer
betrifft, so ist er, was hier beiläufig erwähnt sein mag, in mehreren Fällen
unabhängig von Morelli hinsichtlich berühmter Bilder zu ähnlichen Ergebnissen


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[0442] Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis er auch Gustav Waagen, den man wohl den Begründer der vergleichenden Kunstwissenschaft nennen darf, in Berlin kennen. Zu literarischen, auf die Kunst bezüglichen Arbeiten kam Morelli damals noch nicht. Nachdem er sich 1838 zu Agassiz nach NeufclMel begeben und sich in Gemeinschaft mit diesem natur¬ wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich namentlich ans den Bau und die Bewegung der Gletscher richteten, gewidmet und dann seine Studien in Paris und Siena fortgesetzt hatte, war er Jahrzehnte hindurch im Dienste seiner Mitbürger, zuletzt als Deputirter in Bergamo, thätig. Aber er fand doch nebenbei Gelegenheit, dnrch größere Reisen seine Kenntnisse zu erweitern und sich durch eigene Anschauung ein allmählig zu großer Gründlichkeit und Bedachtsamkeit heranreifendes Urteil an dem in öffentlichen und Privatsammlungen Enropas aufgespeicherten Besitz von Gemälden der italienischen Schulen zu bilden. Aus seinem Studieugaugc mag es sich zum Teil erklären, daß sich sein Ange zu¬ nächst für die Unterscheidung jener nußern Merkmale schärfte, auf die er seine Lehre gründete; doch ist seine Bildung so umfassend, daß er auch alle übrigen Umstände, die bei der Beurteilung eines Bildes in Betracht zu ziehen sind, die der malerischen Analyse, den geistigen Gehalt und die ästhetische Würdigung, die letztere freilich in bescheidensten Maße, nicht außer Acht läßt. Jedenfalls befinde!? sich aber die im Unrecht, die Morellis Berechtigung, über Bilder zu urteilen, in Frage stellen, weil er von Hause aus Mediziner ist. Er selbst hat einen solchen Angriff kürzlich abgewiesen, indem er daran erinnerte, daß sein Hanptgegner, der gcgenwütig für einen der größten Kunstkenner Europas gilt, ursprünglich Jurist und als solcher schon praktisch thätig gewesen war, ehe er sich dem Studium der Kunst zuwendete. Und dies ist kein vereinzeltes Beispiel. Die Mehrzahl der namhaften Kunstgelehrten der Gegenwart und der Professoren der Kunstgeschichte an deutschen Hochschulen ist zur Kunst¬ wissenschaft von einem andern Studium gelangt, da bis zum Ende der sechziger Jahre kaum die Archäologie, geschweige denn die Kunstwissenschaft universitäts¬ fähig, ein systematisches Studium der Kunstgeschichte an deutschen Universitäten also bis 187», von einigen wenigen Ansncchmen abgesehen, gar nicht möglich war. So ist denn auch Morellis oben erwähntes Buch „Die Werke ita¬ lienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin" gerade von den gelehrtesten und besonnensten Vertretern der deutschen Kunstwissenschaft mit lebhaftem Beifall und mit Zustimmung aufgenommen worden, und Männer wie Anton Springer in Leipzig, Julius Meyer in Berlin, Karl Wvermann in Dresden und Karl von Lützow in Wien haben kein Bedenken getragen, die Ergebnisse der Mvrellischen Kritik anzunehmen, zum Teil sogar Galericnkatalvgeu einzuverleiben, in keinem Falle aber zu ignoriren. Was insbesondre Springer betrifft, so ist er, was hier beiläufig erwähnt sein mag, in mehreren Fällen unabhängig von Morelli hinsichtlich berühmter Bilder zu ähnlichen Ergebnissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/442>, abgerufen am 23.07.2024.