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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

Auftragen von Karminrot markirte, kehrt ebenfalls bei ihm fast immer wieder und
ist auch von seinen Schülern und Nachahmern allgemein angenommen worden.
Es ist ferner bekannt, daß our Dyck in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens,
wo er mit Pvrtraitanfträgen überhäuft war, Hände und Ohren selten nach
der Natur malte, sondern aus seinem ziemlich beschränkten Formengedächtnis
oder, wie die heutigen Maler sagen würden, "aus der Tiefe des Gemüts"
schöpfte, weshalb die genannten Extremitäten alle ein sehr einförmiges und
unter sich übereinstimmendes Aussehen erhielten.

Nach solchen und ähnlichen beiläufigen Andeutungen des Russen konnte
mau aber damals noch nicht vermuten, daß sich daraus ein wohl organisirtes
System entwickeln würde, das seinerseits eine nicht geringere Umwälzung her¬
vorrufen sollte, als sie einst den Herren Crowe und Cavalcaselle gelungen war.
Jenen Aufsätzen folgte im Jahre 1380 ein Buch unter dem Titel "die Werke
italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin"
(Leipzig bei Seemann), worin Ivan Lermolieff seine Methode auf eine Anzahl
der berühmtesten Bilder der genannten Sammlungen anwandte und dabei zu
geradezu verblüffenden Ergebnissen gelangte. In dein Grade aber, wie er sein
System aufbaute und erweiterte, nahm auch die Lebhaftigkeit zu, mit der er
gegen das so kunstvoll aufgerichtete Gebäude der Herren Crowe und Calvaeaselle
Sturm lief, und es ließ sich nicht leugnen, daß das Ansehen dieser beiden
Säulen der Kunstwissenschaft durch die beißende Ironie und die vernichtende
Kritik des radikale" Russen gewaltig geschädigt und jedenfalls für immer seiner
Unfehlbarkeit entkleidet worden ist. Inzwischen war es ein offenkundiges Ge¬
heimnis geworden, daß der unhöfliche, von keinem Autoritätsglauben angekränkelte
Mann aus Kasan in Wirklichkeit ein Italiener war, der seinen russischen Namen
aus dem gntitalienischen Giovanni Morelli umgebildet hatte.

Giovanni Morelli, seit 1873 Senator des Königreichs Italien, ist aus
Verona gebürtig. Er steht gegenwärtig im vierundsiebzigsten Lebensjahre; aber
die Leichtigkeit seines Stils, die weltmännische Gewandtheit seiner Beweisführung
und die überlegene Ironie nach vollendetem Beweis haben nichts Greisenhaftes
an sich, es müßte denn sein, daß man in seiner Redseligkeit, die lusweilen etwas
breit, aber niemals seicht ist, ein Zeichen seines Alters erblicken wollte. Da
er seine Bildung auf deutschen Schulen und Universitäten, in Aarau in der
Schweiz, in München und Erlangen genossen hat, anch später mit deutscher Wissen¬
schaft und deutschem Leben in Fühlung geblieben ist, bedarf er keines Übersetzers.
Die deutsche Sprache ist ihm ebenso geläufig wie die italienische, und in der
Kunst der schriftstellerischen Darstellung übertrifft er sogar manche seiner Gegner,
deren Muttersprache das Deutsche ist. Obwohl Morelli in München eigentlich
Naturwisseuschnften, insbesondere Physiologie und Anatomie studierte, hat er
doch dort auch deu Grund zu seinen Kunststudien gelegt, auf die er zunächst
durch die Bekanntschaft mit dem Maler Genelli geführt wurde. Später lernte


Grenzboten I 1LV0 5L
Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis

Auftragen von Karminrot markirte, kehrt ebenfalls bei ihm fast immer wieder und
ist auch von seinen Schülern und Nachahmern allgemein angenommen worden.
Es ist ferner bekannt, daß our Dyck in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens,
wo er mit Pvrtraitanfträgen überhäuft war, Hände und Ohren selten nach
der Natur malte, sondern aus seinem ziemlich beschränkten Formengedächtnis
oder, wie die heutigen Maler sagen würden, „aus der Tiefe des Gemüts"
schöpfte, weshalb die genannten Extremitäten alle ein sehr einförmiges und
unter sich übereinstimmendes Aussehen erhielten.

Nach solchen und ähnlichen beiläufigen Andeutungen des Russen konnte
mau aber damals noch nicht vermuten, daß sich daraus ein wohl organisirtes
System entwickeln würde, das seinerseits eine nicht geringere Umwälzung her¬
vorrufen sollte, als sie einst den Herren Crowe und Cavalcaselle gelungen war.
Jenen Aufsätzen folgte im Jahre 1380 ein Buch unter dem Titel „die Werke
italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin"
(Leipzig bei Seemann), worin Ivan Lermolieff seine Methode auf eine Anzahl
der berühmtesten Bilder der genannten Sammlungen anwandte und dabei zu
geradezu verblüffenden Ergebnissen gelangte. In dein Grade aber, wie er sein
System aufbaute und erweiterte, nahm auch die Lebhaftigkeit zu, mit der er
gegen das so kunstvoll aufgerichtete Gebäude der Herren Crowe und Calvaeaselle
Sturm lief, und es ließ sich nicht leugnen, daß das Ansehen dieser beiden
Säulen der Kunstwissenschaft durch die beißende Ironie und die vernichtende
Kritik des radikale» Russen gewaltig geschädigt und jedenfalls für immer seiner
Unfehlbarkeit entkleidet worden ist. Inzwischen war es ein offenkundiges Ge¬
heimnis geworden, daß der unhöfliche, von keinem Autoritätsglauben angekränkelte
Mann aus Kasan in Wirklichkeit ein Italiener war, der seinen russischen Namen
aus dem gntitalienischen Giovanni Morelli umgebildet hatte.

Giovanni Morelli, seit 1873 Senator des Königreichs Italien, ist aus
Verona gebürtig. Er steht gegenwärtig im vierundsiebzigsten Lebensjahre; aber
die Leichtigkeit seines Stils, die weltmännische Gewandtheit seiner Beweisführung
und die überlegene Ironie nach vollendetem Beweis haben nichts Greisenhaftes
an sich, es müßte denn sein, daß man in seiner Redseligkeit, die lusweilen etwas
breit, aber niemals seicht ist, ein Zeichen seines Alters erblicken wollte. Da
er seine Bildung auf deutschen Schulen und Universitäten, in Aarau in der
Schweiz, in München und Erlangen genossen hat, anch später mit deutscher Wissen¬
schaft und deutschem Leben in Fühlung geblieben ist, bedarf er keines Übersetzers.
Die deutsche Sprache ist ihm ebenso geläufig wie die italienische, und in der
Kunst der schriftstellerischen Darstellung übertrifft er sogar manche seiner Gegner,
deren Muttersprache das Deutsche ist. Obwohl Morelli in München eigentlich
Naturwisseuschnften, insbesondere Physiologie und Anatomie studierte, hat er
doch dort auch deu Grund zu seinen Kunststudien gelegt, auf die er zunächst
durch die Bekanntschaft mit dem Maler Genelli geführt wurde. Später lernte


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[0441] Die Aennzeichenlehre Giovanni Morellis Auftragen von Karminrot markirte, kehrt ebenfalls bei ihm fast immer wieder und ist auch von seinen Schülern und Nachahmern allgemein angenommen worden. Es ist ferner bekannt, daß our Dyck in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens, wo er mit Pvrtraitanfträgen überhäuft war, Hände und Ohren selten nach der Natur malte, sondern aus seinem ziemlich beschränkten Formengedächtnis oder, wie die heutigen Maler sagen würden, „aus der Tiefe des Gemüts" schöpfte, weshalb die genannten Extremitäten alle ein sehr einförmiges und unter sich übereinstimmendes Aussehen erhielten. Nach solchen und ähnlichen beiläufigen Andeutungen des Russen konnte mau aber damals noch nicht vermuten, daß sich daraus ein wohl organisirtes System entwickeln würde, das seinerseits eine nicht geringere Umwälzung her¬ vorrufen sollte, als sie einst den Herren Crowe und Cavalcaselle gelungen war. Jenen Aufsätzen folgte im Jahre 1380 ein Buch unter dem Titel „die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin" (Leipzig bei Seemann), worin Ivan Lermolieff seine Methode auf eine Anzahl der berühmtesten Bilder der genannten Sammlungen anwandte und dabei zu geradezu verblüffenden Ergebnissen gelangte. In dein Grade aber, wie er sein System aufbaute und erweiterte, nahm auch die Lebhaftigkeit zu, mit der er gegen das so kunstvoll aufgerichtete Gebäude der Herren Crowe und Calvaeaselle Sturm lief, und es ließ sich nicht leugnen, daß das Ansehen dieser beiden Säulen der Kunstwissenschaft durch die beißende Ironie und die vernichtende Kritik des radikale» Russen gewaltig geschädigt und jedenfalls für immer seiner Unfehlbarkeit entkleidet worden ist. Inzwischen war es ein offenkundiges Ge¬ heimnis geworden, daß der unhöfliche, von keinem Autoritätsglauben angekränkelte Mann aus Kasan in Wirklichkeit ein Italiener war, der seinen russischen Namen aus dem gntitalienischen Giovanni Morelli umgebildet hatte. Giovanni Morelli, seit 1873 Senator des Königreichs Italien, ist aus Verona gebürtig. Er steht gegenwärtig im vierundsiebzigsten Lebensjahre; aber die Leichtigkeit seines Stils, die weltmännische Gewandtheit seiner Beweisführung und die überlegene Ironie nach vollendetem Beweis haben nichts Greisenhaftes an sich, es müßte denn sein, daß man in seiner Redseligkeit, die lusweilen etwas breit, aber niemals seicht ist, ein Zeichen seines Alters erblicken wollte. Da er seine Bildung auf deutschen Schulen und Universitäten, in Aarau in der Schweiz, in München und Erlangen genossen hat, anch später mit deutscher Wissen¬ schaft und deutschem Leben in Fühlung geblieben ist, bedarf er keines Übersetzers. Die deutsche Sprache ist ihm ebenso geläufig wie die italienische, und in der Kunst der schriftstellerischen Darstellung übertrifft er sogar manche seiner Gegner, deren Muttersprache das Deutsche ist. Obwohl Morelli in München eigentlich Naturwisseuschnften, insbesondere Physiologie und Anatomie studierte, hat er doch dort auch deu Grund zu seinen Kunststudien gelegt, auf die er zunächst durch die Bekanntschaft mit dem Maler Genelli geführt wurde. Später lernte Grenzboten I 1LV0 5L

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/441>, abgerufen am 23.07.2024.