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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Lehre'rinuensemmare

Zeitschrift für den deutschen Unterricht erzählt (1390, Heft 1): "Fragt man
beim Lehrerinnenexamen, das zum Unterricht in allen Klassen einer höhern
Mädchenschule berechtigt und in dem bei uns durchschnitlich 8 -- 10 Minuten
Deutsch geprüft wird: Haben Sie Schillers Gedichte einmal in der Hand
gehabt? so erfolgt nicht selten die Antwort: Nein, aber wir haben in unserm
Seminar Proben aus dem Lesebuche durchgenommen."

Es ist keine Frage, so lange die Lehrerinnenseminare nach den Kautschuk¬
paragraphen der Prüfungsordnung eingerichtet werdeu, solange mit diesen
Bildungsanstalten in vielen Städten geradezu eine Geldspekulativn verbunden
ist, so lauge ist eine zweckmäßige Ausbildung, eine gesunde pädagogische Schulung
unsrer Lehrerinnen uicht zu erwarten. Ist es nicht im höchsten Grade seltsam,
daß besonders Geistliche, deren Arbeitskraft durch ihren anstrengenden Beruf
eigentlich vollständig in Anspruch genommen wird, Muße und Neigung genug
haben, große Privatschulen und Seminare zu gründen- und zu leiten? nicht
aus Liebe zur Sache, wer wollte das behaupten! sondern lediglich als einträgliches
Geschäft, aus Sucht "ach Geldgewinn. Das sind unwürdige Zustände, die
das Ansehen der Kirche ebenso wie das der Schule schädigen müssen, und gegen
die die Regierung entschieden vorgehen sollte.

Der Staat hat unzweifelhaft ein hohes Interesse an der gesunden Erziehung,
an dem körperlichen und geistigen Gedeihen unsrer weiblichen Jugend, denn von
ihrem Zustande hängt doch im Grunde das Wohl und Wehe des kommenden
Geschlechtes, die ganze Zukunft der Nation ab. Und wo die lieben Mütter
mit ihrer albernen oder verbohrten Ansichten über Kindererziehung der weiblichem
Jugend thatsächlich Schaden zufügen, da hat der Staat nicht allein das gute
Recht, sondern auch die unabweisliche Pflicht, rücksichtslos einzugreifen. Der
abwartende Grundsatz des lmLser ullsr rächt sich am schlimmsten aus dein Ge¬
biete der Jugenderziehung. Wie soll man aber im Mädchenschulwesen zu
günstigen Ergebnissei? kommen, wenn die ganze Ausbildung unsrer Lehrerinnen
infolge der bestehenden Prüfungsordnung in vieler Hinsicht mangelhaft genannt
werden muß, so unzulänglich, daß man von vielen behaupten kann, sie seien
die eigentlichen Vertreter der unglücklichen modernen Halbbildung? Wer die
Abfertigung des preußischen Kultusministers liest, mit der die von vielen
Lehrerinnen unterzeichnete Frauenpetition und die von einer Lehrerin verfaßte
Beischrift zurückgewiesen wurden, der muß zu der Überzeugung kommen, daß
auch in den leitenden Kreisen eine ziemlich geringe Meinung von der geistigen
Schulung und den: logischen Denkvermögen vieler unsrer Lehrerinnen vor¬
herrschend sei. Ja die Verständigen unter ihnen haben selbst das unangenehme
Gefühl, als seien sie ihrer Aufgabe gar nicht gewachsen, als wandelten sie mit
ihrer ganzen Lehrthätigkeit auf einem schwankenden Moorboden. Daher ihr
verzweifelter Schrei nach einer festen wissenschaftlichen Grundlage, nach aka¬
demischer Bildung, nach der Stellung einer "Oberlehrerin."


Unsre Lehre'rinuensemmare

Zeitschrift für den deutschen Unterricht erzählt (1390, Heft 1): „Fragt man
beim Lehrerinnenexamen, das zum Unterricht in allen Klassen einer höhern
Mädchenschule berechtigt und in dem bei uns durchschnitlich 8 — 10 Minuten
Deutsch geprüft wird: Haben Sie Schillers Gedichte einmal in der Hand
gehabt? so erfolgt nicht selten die Antwort: Nein, aber wir haben in unserm
Seminar Proben aus dem Lesebuche durchgenommen."

Es ist keine Frage, so lange die Lehrerinnenseminare nach den Kautschuk¬
paragraphen der Prüfungsordnung eingerichtet werdeu, solange mit diesen
Bildungsanstalten in vielen Städten geradezu eine Geldspekulativn verbunden
ist, so lauge ist eine zweckmäßige Ausbildung, eine gesunde pädagogische Schulung
unsrer Lehrerinnen uicht zu erwarten. Ist es nicht im höchsten Grade seltsam,
daß besonders Geistliche, deren Arbeitskraft durch ihren anstrengenden Beruf
eigentlich vollständig in Anspruch genommen wird, Muße und Neigung genug
haben, große Privatschulen und Seminare zu gründen- und zu leiten? nicht
aus Liebe zur Sache, wer wollte das behaupten! sondern lediglich als einträgliches
Geschäft, aus Sucht »ach Geldgewinn. Das sind unwürdige Zustände, die
das Ansehen der Kirche ebenso wie das der Schule schädigen müssen, und gegen
die die Regierung entschieden vorgehen sollte.

Der Staat hat unzweifelhaft ein hohes Interesse an der gesunden Erziehung,
an dem körperlichen und geistigen Gedeihen unsrer weiblichen Jugend, denn von
ihrem Zustande hängt doch im Grunde das Wohl und Wehe des kommenden
Geschlechtes, die ganze Zukunft der Nation ab. Und wo die lieben Mütter
mit ihrer albernen oder verbohrten Ansichten über Kindererziehung der weiblichem
Jugend thatsächlich Schaden zufügen, da hat der Staat nicht allein das gute
Recht, sondern auch die unabweisliche Pflicht, rücksichtslos einzugreifen. Der
abwartende Grundsatz des lmLser ullsr rächt sich am schlimmsten aus dein Ge¬
biete der Jugenderziehung. Wie soll man aber im Mädchenschulwesen zu
günstigen Ergebnissei? kommen, wenn die ganze Ausbildung unsrer Lehrerinnen
infolge der bestehenden Prüfungsordnung in vieler Hinsicht mangelhaft genannt
werden muß, so unzulänglich, daß man von vielen behaupten kann, sie seien
die eigentlichen Vertreter der unglücklichen modernen Halbbildung? Wer die
Abfertigung des preußischen Kultusministers liest, mit der die von vielen
Lehrerinnen unterzeichnete Frauenpetition und die von einer Lehrerin verfaßte
Beischrift zurückgewiesen wurden, der muß zu der Überzeugung kommen, daß
auch in den leitenden Kreisen eine ziemlich geringe Meinung von der geistigen
Schulung und den: logischen Denkvermögen vieler unsrer Lehrerinnen vor¬
herrschend sei. Ja die Verständigen unter ihnen haben selbst das unangenehme
Gefühl, als seien sie ihrer Aufgabe gar nicht gewachsen, als wandelten sie mit
ihrer ganzen Lehrthätigkeit auf einem schwankenden Moorboden. Daher ihr
verzweifelter Schrei nach einer festen wissenschaftlichen Grundlage, nach aka¬
demischer Bildung, nach der Stellung einer „Oberlehrerin."


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[0410] Unsre Lehre'rinuensemmare Zeitschrift für den deutschen Unterricht erzählt (1390, Heft 1): „Fragt man beim Lehrerinnenexamen, das zum Unterricht in allen Klassen einer höhern Mädchenschule berechtigt und in dem bei uns durchschnitlich 8 — 10 Minuten Deutsch geprüft wird: Haben Sie Schillers Gedichte einmal in der Hand gehabt? so erfolgt nicht selten die Antwort: Nein, aber wir haben in unserm Seminar Proben aus dem Lesebuche durchgenommen." Es ist keine Frage, so lange die Lehrerinnenseminare nach den Kautschuk¬ paragraphen der Prüfungsordnung eingerichtet werdeu, solange mit diesen Bildungsanstalten in vielen Städten geradezu eine Geldspekulativn verbunden ist, so lauge ist eine zweckmäßige Ausbildung, eine gesunde pädagogische Schulung unsrer Lehrerinnen uicht zu erwarten. Ist es nicht im höchsten Grade seltsam, daß besonders Geistliche, deren Arbeitskraft durch ihren anstrengenden Beruf eigentlich vollständig in Anspruch genommen wird, Muße und Neigung genug haben, große Privatschulen und Seminare zu gründen- und zu leiten? nicht aus Liebe zur Sache, wer wollte das behaupten! sondern lediglich als einträgliches Geschäft, aus Sucht »ach Geldgewinn. Das sind unwürdige Zustände, die das Ansehen der Kirche ebenso wie das der Schule schädigen müssen, und gegen die die Regierung entschieden vorgehen sollte. Der Staat hat unzweifelhaft ein hohes Interesse an der gesunden Erziehung, an dem körperlichen und geistigen Gedeihen unsrer weiblichen Jugend, denn von ihrem Zustande hängt doch im Grunde das Wohl und Wehe des kommenden Geschlechtes, die ganze Zukunft der Nation ab. Und wo die lieben Mütter mit ihrer albernen oder verbohrten Ansichten über Kindererziehung der weiblichem Jugend thatsächlich Schaden zufügen, da hat der Staat nicht allein das gute Recht, sondern auch die unabweisliche Pflicht, rücksichtslos einzugreifen. Der abwartende Grundsatz des lmLser ullsr rächt sich am schlimmsten aus dein Ge¬ biete der Jugenderziehung. Wie soll man aber im Mädchenschulwesen zu günstigen Ergebnissei? kommen, wenn die ganze Ausbildung unsrer Lehrerinnen infolge der bestehenden Prüfungsordnung in vieler Hinsicht mangelhaft genannt werden muß, so unzulänglich, daß man von vielen behaupten kann, sie seien die eigentlichen Vertreter der unglücklichen modernen Halbbildung? Wer die Abfertigung des preußischen Kultusministers liest, mit der die von vielen Lehrerinnen unterzeichnete Frauenpetition und die von einer Lehrerin verfaßte Beischrift zurückgewiesen wurden, der muß zu der Überzeugung kommen, daß auch in den leitenden Kreisen eine ziemlich geringe Meinung von der geistigen Schulung und den: logischen Denkvermögen vieler unsrer Lehrerinnen vor¬ herrschend sei. Ja die Verständigen unter ihnen haben selbst das unangenehme Gefühl, als seien sie ihrer Aufgabe gar nicht gewachsen, als wandelten sie mit ihrer ganzen Lehrthätigkeit auf einem schwankenden Moorboden. Daher ihr verzweifelter Schrei nach einer festen wissenschaftlichen Grundlage, nach aka¬ demischer Bildung, nach der Stellung einer „Oberlehrerin."

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/410>, abgerufen am 23.07.2024.