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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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mau sagt, es sei das Zeitalter des unversorgten Mädchens. Dus unversorgte
Mädchen ist überall zu finden, in allen Gesellschaftsschichten, in allen Ständen,
in alleu kinderreichen Familien; ja es giebt Städte, selbst kleine Provinzialstädte,
wo mau die unversorgten Mädchen der bessern Stände nach Hunderten zählen
kann. Sie bleiben oft in ihrem Wesen, ihren Anschauungen, ihrer Tracht bis zum
dreißigsten Jahre Backfische, lassen sich von einer Seite nach der andern schieben
und wissen selbst nicht recht, zu welchem Zweck und Nutzen sie eigentlich ans
der Welt sind. Die unversorgten Mädchen sind die Zaungäste unsers modernen
Kulturlebens; aber der Kampf ums Dasein dringt auch zu ihnen, sie alle wollen
Eintrittskarten haben und an dem großen Wettrennen um eine sichre Zukunft
teilnehmen. Was Wunder, wenn die Lehrerinnenseminare, ans denen diese
Eintrittskarte scheinbar am schnellsten und sichersten zu erreichen ist, und zu
denen sich deshalb diese Mädchen selbst bei unzureichenden Fähigkeiten in
immer größern Massen drängen, überall wie die Pilze aus der Erde schießen.
Es giebt fast keine Provinzialstadt von mehr als zehntausend Einwohnern, in
der nicht eine Lehreriuuenbilduugsanstalt eröffnet und ans städtischen Mitteln
oder noch häufiger durch Privatspeknlation unterhalten würde. Ist in dem
Städtchen ein Gymnasium vorhanden, so sind die Lehrkräfte leicht und billig
zu finden; sind doch viele Gymnasiallehrer auch schon in den großen Städten
zu wahren Wanderlehrern geworden, die in ihren Zwischenstunden atemlos ans
einer Privatschule in die andre rennen und Mciunlein und Weiblein über ein
und denselben Leisten schlagen. Aber anch die fachmännisch geleiteten, mit
einem einheitlichen Lehrkörper besetzten und nach einem vernünftigen Plane
arbeitenden Seminare können nicht ans dem Hohlweg heraus, in den sie durch
die thatsächlich veraltete Prüfungsordnung vom 24. April 1874 hineingetrieben
werden.

Was wird alles in dieser Prüfungsordnung von den Bewerberinnen
verlangt, die ein volles Lehrerinnenzeugnis erhalte" wollen, in welcher Masse
von Fächern müssen diese Unglücklichen geprüft werden! Man höre und staune:
Religion, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte
(Zoologie, Botanik, und Mineralogie), Naturlehre (Physik und Chemie), Päda¬
gogik, Gesang, Zeichne", Turner, Handarbeit! Wer jemals einer Prüfungs-
kommission angehört hat, wer jemals diese bemitleidenswerten Wesen mit ihrem
abgezehrten Körper, ihren bleichen Wangen und stumpfen, übernächtigen Augen
vor sich gesehen hat, der muß sich alles Ernstes die Frage vorlegen, ob es
nicht eine unglaubliche Barbarei, eine unverantwortliche Sünde wider den
Menschengeist, wider dus weibliche Gehirn sei, von achtzehn oder zwanzig¬
jährigen Mädchen in diesen sechzehn, sage sechzehn verschiednen Fächern, mit
ihren weitverzweigten oft völlig auseinanderliegenden Wissensgebieten, eine ernst¬
hafte Prüfung zu verlangen -- man denke Religion und Chemie, Litteraturgeschichte
und Mineralogie n. s. w. lind welch ein gewaltiger Gedächtnisstoff, welche


mau sagt, es sei das Zeitalter des unversorgten Mädchens. Dus unversorgte
Mädchen ist überall zu finden, in allen Gesellschaftsschichten, in allen Ständen,
in alleu kinderreichen Familien; ja es giebt Städte, selbst kleine Provinzialstädte,
wo mau die unversorgten Mädchen der bessern Stände nach Hunderten zählen
kann. Sie bleiben oft in ihrem Wesen, ihren Anschauungen, ihrer Tracht bis zum
dreißigsten Jahre Backfische, lassen sich von einer Seite nach der andern schieben
und wissen selbst nicht recht, zu welchem Zweck und Nutzen sie eigentlich ans
der Welt sind. Die unversorgten Mädchen sind die Zaungäste unsers modernen
Kulturlebens; aber der Kampf ums Dasein dringt auch zu ihnen, sie alle wollen
Eintrittskarten haben und an dem großen Wettrennen um eine sichre Zukunft
teilnehmen. Was Wunder, wenn die Lehrerinnenseminare, ans denen diese
Eintrittskarte scheinbar am schnellsten und sichersten zu erreichen ist, und zu
denen sich deshalb diese Mädchen selbst bei unzureichenden Fähigkeiten in
immer größern Massen drängen, überall wie die Pilze aus der Erde schießen.
Es giebt fast keine Provinzialstadt von mehr als zehntausend Einwohnern, in
der nicht eine Lehreriuuenbilduugsanstalt eröffnet und ans städtischen Mitteln
oder noch häufiger durch Privatspeknlation unterhalten würde. Ist in dem
Städtchen ein Gymnasium vorhanden, so sind die Lehrkräfte leicht und billig
zu finden; sind doch viele Gymnasiallehrer auch schon in den großen Städten
zu wahren Wanderlehrern geworden, die in ihren Zwischenstunden atemlos ans
einer Privatschule in die andre rennen und Mciunlein und Weiblein über ein
und denselben Leisten schlagen. Aber anch die fachmännisch geleiteten, mit
einem einheitlichen Lehrkörper besetzten und nach einem vernünftigen Plane
arbeitenden Seminare können nicht ans dem Hohlweg heraus, in den sie durch
die thatsächlich veraltete Prüfungsordnung vom 24. April 1874 hineingetrieben
werden.

Was wird alles in dieser Prüfungsordnung von den Bewerberinnen
verlangt, die ein volles Lehrerinnenzeugnis erhalte» wollen, in welcher Masse
von Fächern müssen diese Unglücklichen geprüft werden! Man höre und staune:
Religion, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte
(Zoologie, Botanik, und Mineralogie), Naturlehre (Physik und Chemie), Päda¬
gogik, Gesang, Zeichne», Turner, Handarbeit! Wer jemals einer Prüfungs-
kommission angehört hat, wer jemals diese bemitleidenswerten Wesen mit ihrem
abgezehrten Körper, ihren bleichen Wangen und stumpfen, übernächtigen Augen
vor sich gesehen hat, der muß sich alles Ernstes die Frage vorlegen, ob es
nicht eine unglaubliche Barbarei, eine unverantwortliche Sünde wider den
Menschengeist, wider dus weibliche Gehirn sei, von achtzehn oder zwanzig¬
jährigen Mädchen in diesen sechzehn, sage sechzehn verschiednen Fächern, mit
ihren weitverzweigten oft völlig auseinanderliegenden Wissensgebieten, eine ernst¬
hafte Prüfung zu verlangen — man denke Religion und Chemie, Litteraturgeschichte
und Mineralogie n. s. w. lind welch ein gewaltiger Gedächtnisstoff, welche


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[0408] mau sagt, es sei das Zeitalter des unversorgten Mädchens. Dus unversorgte Mädchen ist überall zu finden, in allen Gesellschaftsschichten, in allen Ständen, in alleu kinderreichen Familien; ja es giebt Städte, selbst kleine Provinzialstädte, wo mau die unversorgten Mädchen der bessern Stände nach Hunderten zählen kann. Sie bleiben oft in ihrem Wesen, ihren Anschauungen, ihrer Tracht bis zum dreißigsten Jahre Backfische, lassen sich von einer Seite nach der andern schieben und wissen selbst nicht recht, zu welchem Zweck und Nutzen sie eigentlich ans der Welt sind. Die unversorgten Mädchen sind die Zaungäste unsers modernen Kulturlebens; aber der Kampf ums Dasein dringt auch zu ihnen, sie alle wollen Eintrittskarten haben und an dem großen Wettrennen um eine sichre Zukunft teilnehmen. Was Wunder, wenn die Lehrerinnenseminare, ans denen diese Eintrittskarte scheinbar am schnellsten und sichersten zu erreichen ist, und zu denen sich deshalb diese Mädchen selbst bei unzureichenden Fähigkeiten in immer größern Massen drängen, überall wie die Pilze aus der Erde schießen. Es giebt fast keine Provinzialstadt von mehr als zehntausend Einwohnern, in der nicht eine Lehreriuuenbilduugsanstalt eröffnet und ans städtischen Mitteln oder noch häufiger durch Privatspeknlation unterhalten würde. Ist in dem Städtchen ein Gymnasium vorhanden, so sind die Lehrkräfte leicht und billig zu finden; sind doch viele Gymnasiallehrer auch schon in den großen Städten zu wahren Wanderlehrern geworden, die in ihren Zwischenstunden atemlos ans einer Privatschule in die andre rennen und Mciunlein und Weiblein über ein und denselben Leisten schlagen. Aber anch die fachmännisch geleiteten, mit einem einheitlichen Lehrkörper besetzten und nach einem vernünftigen Plane arbeitenden Seminare können nicht ans dem Hohlweg heraus, in den sie durch die thatsächlich veraltete Prüfungsordnung vom 24. April 1874 hineingetrieben werden. Was wird alles in dieser Prüfungsordnung von den Bewerberinnen verlangt, die ein volles Lehrerinnenzeugnis erhalte» wollen, in welcher Masse von Fächern müssen diese Unglücklichen geprüft werden! Man höre und staune: Religion, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte (Zoologie, Botanik, und Mineralogie), Naturlehre (Physik und Chemie), Päda¬ gogik, Gesang, Zeichne», Turner, Handarbeit! Wer jemals einer Prüfungs- kommission angehört hat, wer jemals diese bemitleidenswerten Wesen mit ihrem abgezehrten Körper, ihren bleichen Wangen und stumpfen, übernächtigen Augen vor sich gesehen hat, der muß sich alles Ernstes die Frage vorlegen, ob es nicht eine unglaubliche Barbarei, eine unverantwortliche Sünde wider den Menschengeist, wider dus weibliche Gehirn sei, von achtzehn oder zwanzig¬ jährigen Mädchen in diesen sechzehn, sage sechzehn verschiednen Fächern, mit ihren weitverzweigten oft völlig auseinanderliegenden Wissensgebieten, eine ernst¬ hafte Prüfung zu verlangen — man denke Religion und Chemie, Litteraturgeschichte und Mineralogie n. s. w. lind welch ein gewaltiger Gedächtnisstoff, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/408>, abgerufen am 23.07.2024.