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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Wie sieht es in dieser Hinsicht mit unserm weiblichen Geschlecht ans?
Welche Frauengestalt giebt der Gegenwart das eigentümliche Gepräge, oder
richtiger, in welchem weiblichen Wesen finden wir den charakteristischen Zug
unsrer Zeit am deutlichsten wieder? Die Frage ist schwer zu beantworten.
Handelte es sich um die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, so hätten wir
die vielbesungene, häuslich erzogene, einfach denkende und gesund empfindende
Lottcngestalt; wollten wir die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts mit ihrer
schöngeistigen, versteckt sinnlichen Richtung charakterisiren, so müßten wir die
geistreiche Salondame herausgreifen, die einen Kreis schweifwedelnder, zahnloser
Gelehrten und lockenschüttelnder Dichter um Theetisch um sich versammelt;
hätten wir den Typus des weiblichen Geschlechts in den fünfziger Jahren zu
schildern, so fänden wir in Jaue Ehre, der Waisen von Lvwvod, "der süßen
angeschwärmten Gouvernante," die bezeichnende Gestalt. Wo aber in aller
Welt sür unsre zerfahrene, rücksichtslose Zeit, die dem weiblichen Geschlechte
das Recht der häuslichen Seßhaftigkeit, der individuellen Entwicklung genommen
zu haben scheint, das treffende Wort finden!

Ist es nicht eine sehr auffallende Erscheinung, daß gegenwärtig die Liebes¬
lyrik, die in früherer Zeit alle übrigen Dichtungsgattungen überwucherte, im
Sterben liegt? Noch vor zwanzig Jahren wurde der Büchermarkt mit Dithy¬
rambe,? auf das Ewigweibliche überschwemmt. Und heutzutage? Es ist traurig,
aber wahr, die Frauen fangen heutzutage an, sich ihren Bedarf an dichterischer
Verherrlichung selbst zu schreibe". Die hochtrabende und blendende Redensart:
"Die Fran ist zu allen Arbeiten gesellschaftlich berechtigt, zu denen sie befähigt
ist," hat in den letzten Jahren die Frauen in ganzen Scharen auf den Tummelplatz
der litterarischen Thätigkeit geführt; und wenn man in dem beständig wachsenden
Litteratnrkalender von Kürschner fast keine Seite mehr findet, ans der nicht ein
Fraueuuame oder Frauenpseudouym prangte, so könnte man versucht sein, das
schriftstellernde Weib mit dem Wahlspruch: aut lidöi-i ant libri! als die charak¬
teristische Frauengestalt der Gegenwart anzunehmen. Aber Schriftstellerinnen,
und überdies bessere und einflußreichere, hat es schon zu andern Zeiten gegeben;
auch gehört zum Federkampf ums Dasein immerhin ein gewisser Grad von
geistiger Begabung und Sprachbeherrschung, die dein modernen Dnrchschnitts-
weibe zu fehlen pflegen.

Es ist keine Frage, die immer höher steigende Zahl ledig bleibender
Frauen -- wir haben gegenwärtig in Deutschland nicht weniger als fünf
Millionen unverheirateter Frauen -- erzeugt eine Notlage, die vom Staate eine
sehr eruste Berücksichtigung und schleunige Abhilfe verlangt; schon jetzt finden
junge Mädchen, die ihre Lehrerinnenprüfung sehr gut bestanden und ihre Kennt¬
nisse in Frankreich und England erweitert haben, nnr mit Mühe eine Stellung,
in der sie ihren Lebensunterhalt erwerben könnten. Es mag hart klingen, aber
mau kann das Ende unsers Jahrhunderts nicht treffender bezeichnen, als wenn


Wie sieht es in dieser Hinsicht mit unserm weiblichen Geschlecht ans?
Welche Frauengestalt giebt der Gegenwart das eigentümliche Gepräge, oder
richtiger, in welchem weiblichen Wesen finden wir den charakteristischen Zug
unsrer Zeit am deutlichsten wieder? Die Frage ist schwer zu beantworten.
Handelte es sich um die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, so hätten wir
die vielbesungene, häuslich erzogene, einfach denkende und gesund empfindende
Lottcngestalt; wollten wir die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts mit ihrer
schöngeistigen, versteckt sinnlichen Richtung charakterisiren, so müßten wir die
geistreiche Salondame herausgreifen, die einen Kreis schweifwedelnder, zahnloser
Gelehrten und lockenschüttelnder Dichter um Theetisch um sich versammelt;
hätten wir den Typus des weiblichen Geschlechts in den fünfziger Jahren zu
schildern, so fänden wir in Jaue Ehre, der Waisen von Lvwvod, „der süßen
angeschwärmten Gouvernante," die bezeichnende Gestalt. Wo aber in aller
Welt sür unsre zerfahrene, rücksichtslose Zeit, die dem weiblichen Geschlechte
das Recht der häuslichen Seßhaftigkeit, der individuellen Entwicklung genommen
zu haben scheint, das treffende Wort finden!

Ist es nicht eine sehr auffallende Erscheinung, daß gegenwärtig die Liebes¬
lyrik, die in früherer Zeit alle übrigen Dichtungsgattungen überwucherte, im
Sterben liegt? Noch vor zwanzig Jahren wurde der Büchermarkt mit Dithy¬
rambe,? auf das Ewigweibliche überschwemmt. Und heutzutage? Es ist traurig,
aber wahr, die Frauen fangen heutzutage an, sich ihren Bedarf an dichterischer
Verherrlichung selbst zu schreibe». Die hochtrabende und blendende Redensart:
„Die Fran ist zu allen Arbeiten gesellschaftlich berechtigt, zu denen sie befähigt
ist," hat in den letzten Jahren die Frauen in ganzen Scharen auf den Tummelplatz
der litterarischen Thätigkeit geführt; und wenn man in dem beständig wachsenden
Litteratnrkalender von Kürschner fast keine Seite mehr findet, ans der nicht ein
Fraueuuame oder Frauenpseudouym prangte, so könnte man versucht sein, das
schriftstellernde Weib mit dem Wahlspruch: aut lidöi-i ant libri! als die charak¬
teristische Frauengestalt der Gegenwart anzunehmen. Aber Schriftstellerinnen,
und überdies bessere und einflußreichere, hat es schon zu andern Zeiten gegeben;
auch gehört zum Federkampf ums Dasein immerhin ein gewisser Grad von
geistiger Begabung und Sprachbeherrschung, die dein modernen Dnrchschnitts-
weibe zu fehlen pflegen.

Es ist keine Frage, die immer höher steigende Zahl ledig bleibender
Frauen — wir haben gegenwärtig in Deutschland nicht weniger als fünf
Millionen unverheirateter Frauen — erzeugt eine Notlage, die vom Staate eine
sehr eruste Berücksichtigung und schleunige Abhilfe verlangt; schon jetzt finden
junge Mädchen, die ihre Lehrerinnenprüfung sehr gut bestanden und ihre Kennt¬
nisse in Frankreich und England erweitert haben, nnr mit Mühe eine Stellung,
in der sie ihren Lebensunterhalt erwerben könnten. Es mag hart klingen, aber
mau kann das Ende unsers Jahrhunderts nicht treffender bezeichnen, als wenn


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[0407] Wie sieht es in dieser Hinsicht mit unserm weiblichen Geschlecht ans? Welche Frauengestalt giebt der Gegenwart das eigentümliche Gepräge, oder richtiger, in welchem weiblichen Wesen finden wir den charakteristischen Zug unsrer Zeit am deutlichsten wieder? Die Frage ist schwer zu beantworten. Handelte es sich um die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, so hätten wir die vielbesungene, häuslich erzogene, einfach denkende und gesund empfindende Lottcngestalt; wollten wir die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts mit ihrer schöngeistigen, versteckt sinnlichen Richtung charakterisiren, so müßten wir die geistreiche Salondame herausgreifen, die einen Kreis schweifwedelnder, zahnloser Gelehrten und lockenschüttelnder Dichter um Theetisch um sich versammelt; hätten wir den Typus des weiblichen Geschlechts in den fünfziger Jahren zu schildern, so fänden wir in Jaue Ehre, der Waisen von Lvwvod, „der süßen angeschwärmten Gouvernante," die bezeichnende Gestalt. Wo aber in aller Welt sür unsre zerfahrene, rücksichtslose Zeit, die dem weiblichen Geschlechte das Recht der häuslichen Seßhaftigkeit, der individuellen Entwicklung genommen zu haben scheint, das treffende Wort finden! Ist es nicht eine sehr auffallende Erscheinung, daß gegenwärtig die Liebes¬ lyrik, die in früherer Zeit alle übrigen Dichtungsgattungen überwucherte, im Sterben liegt? Noch vor zwanzig Jahren wurde der Büchermarkt mit Dithy¬ rambe,? auf das Ewigweibliche überschwemmt. Und heutzutage? Es ist traurig, aber wahr, die Frauen fangen heutzutage an, sich ihren Bedarf an dichterischer Verherrlichung selbst zu schreibe». Die hochtrabende und blendende Redensart: „Die Fran ist zu allen Arbeiten gesellschaftlich berechtigt, zu denen sie befähigt ist," hat in den letzten Jahren die Frauen in ganzen Scharen auf den Tummelplatz der litterarischen Thätigkeit geführt; und wenn man in dem beständig wachsenden Litteratnrkalender von Kürschner fast keine Seite mehr findet, ans der nicht ein Fraueuuame oder Frauenpseudouym prangte, so könnte man versucht sein, das schriftstellernde Weib mit dem Wahlspruch: aut lidöi-i ant libri! als die charak¬ teristische Frauengestalt der Gegenwart anzunehmen. Aber Schriftstellerinnen, und überdies bessere und einflußreichere, hat es schon zu andern Zeiten gegeben; auch gehört zum Federkampf ums Dasein immerhin ein gewisser Grad von geistiger Begabung und Sprachbeherrschung, die dein modernen Dnrchschnitts- weibe zu fehlen pflegen. Es ist keine Frage, die immer höher steigende Zahl ledig bleibender Frauen — wir haben gegenwärtig in Deutschland nicht weniger als fünf Millionen unverheirateter Frauen — erzeugt eine Notlage, die vom Staate eine sehr eruste Berücksichtigung und schleunige Abhilfe verlangt; schon jetzt finden junge Mädchen, die ihre Lehrerinnenprüfung sehr gut bestanden und ihre Kennt¬ nisse in Frankreich und England erweitert haben, nnr mit Mühe eine Stellung, in der sie ihren Lebensunterhalt erwerben könnten. Es mag hart klingen, aber mau kann das Ende unsers Jahrhunderts nicht treffender bezeichnen, als wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/407>, abgerufen am 23.07.2024.