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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Weiteres zur Charakteristik der Dentschfreisinnigen

Sache; sie haben bereits den Sozialdemokraten ihre Stimmen bei den Stich¬
wahlen zur Verfügung gestellt, mit dem Wunsche, daß diese von dem Beschluß von
Se. Gallen, der der Sozialdemokratie bei den Stichwahlen keine andre Partei zu
unterstützen vorschrieb, absähen. An mehreren Orten ist es, wie z. B. in Stade,
bereits zu einem deutschfreisinnig-sozialdemokratischen Verbrüderuugsfest ge¬
kommen. So stark ist bei diesem Freisinn der Haß gegen eine Regierung, um die
wir von den freiesten Staaten beneidet werden, daß sie auch mit den geschwornen
Feinden aller modernen Staatsordnung sich zu verbinden keinen Anstoß nehmen.
Wie sehr bei ihnen die blinde Opposition gegen die Regierung und die bloße
Verneinung alles beherrscht, das geht recht ausfallend aus ihrem Verhalten
in der Arbeiterschutzfrage hervor. Richter wie Barth und Bamberger wie
Nickert waren früher stets für das sogenannte "freie Spiel der Kräfte" und
gegen alles staatliche Eingreifen in die Arbeiterverhältnisse gewesen. Dann,
als der Bundesrat es ablehnte, das vom Reichstag angenommene Arbeiter¬
schutzgesetz zu bestätige,,, weil es ihm gegen die Lebensbedingungen der heimischen
Industrie zu streiten schien, trat der Freisinn für deu Arbeiterschutz ein und
blieb so lange dafür, bis das arbeiterfreundliche Programm in der Thronrede
beim Neichstagsschluß abgegeben wurde. Der Kaiser hatte in der Thronrede
gesagt: "Es ist mein dringender Wunsch und meine Hoffnung, daß es dem
folgenden Reichstage gelingen möge, im Verein mit den verbündeten Regie¬
rungen für die auf diesem Felde (auf dem der Verbesserung der Lebenslage der
arbeitenden Klassen) notwendigen Verbesserungen wirksam gesetzliche Formen zu
schaffen. Ich betrachte es als meine ernste und erhabene Aufgabe, auf die
Erfüllung dieser Hoffnung hinzuwirken." Der Freisinn sagte sich, daß diese
kaiserlichen Worte wahrscheinlich die Grundlage sür das Programm der Kartell-
Parteien abgeben würden, und sofort gab der deutschfreisinnige Papst das
Stichwort vom "patriarchalischen Imperialismus" aus. Auf einmal war aller
Arbeiterschutz eine "ungehörige Einmischung des Staates in die Gütererzeugung."
Das ist deutschfreisinnige Überzeuguugstreue. Nun erschienen am 4. Februar
die beiden kaiserlichen Erlasse. Gegen diese sich wenden, hieß, wie die Dinge
lagen, die Partei ruiniren. Darum galt es, Kapital daraus zu schlagen. Auf
der ganzen freisinnigen Linie von Richter bis zu Hänel wurde das Stichwort
ausgegeben, in den Erlassen die eigne, stets befolgte deutschfreisinuige Politik zu
sehen und sich als die treuesten Genossen der kaiserlichen Politik auf sozialem
Gebiete hinzustellen. Man sah bereits Bismarck halb auf die Seite geschoben.
Schon daß die Herren in den Erlassen eine Niederlage Bismarcks sahen und
sie sofort zur Wühlerei gegen den Kanzler mit seinen "harten, dauernden"
Grundsätzen verwerteten, läßt sehr an der Ehrlichkeit ihrer Stellungnahme
zweifeln. Mit dieser freisinnigen Schwenkung bei den Wahlen etwa zu rechnen
und die Freisinnigen den staatserhaltenden Parteien zuweisen, dazu liegt für
letztere bis jetzt durchaus kein Grund vor. Nach allen Regeln der bisherigen


Weiteres zur Charakteristik der Dentschfreisinnigen

Sache; sie haben bereits den Sozialdemokraten ihre Stimmen bei den Stich¬
wahlen zur Verfügung gestellt, mit dem Wunsche, daß diese von dem Beschluß von
Se. Gallen, der der Sozialdemokratie bei den Stichwahlen keine andre Partei zu
unterstützen vorschrieb, absähen. An mehreren Orten ist es, wie z. B. in Stade,
bereits zu einem deutschfreisinnig-sozialdemokratischen Verbrüderuugsfest ge¬
kommen. So stark ist bei diesem Freisinn der Haß gegen eine Regierung, um die
wir von den freiesten Staaten beneidet werden, daß sie auch mit den geschwornen
Feinden aller modernen Staatsordnung sich zu verbinden keinen Anstoß nehmen.
Wie sehr bei ihnen die blinde Opposition gegen die Regierung und die bloße
Verneinung alles beherrscht, das geht recht ausfallend aus ihrem Verhalten
in der Arbeiterschutzfrage hervor. Richter wie Barth und Bamberger wie
Nickert waren früher stets für das sogenannte „freie Spiel der Kräfte" und
gegen alles staatliche Eingreifen in die Arbeiterverhältnisse gewesen. Dann,
als der Bundesrat es ablehnte, das vom Reichstag angenommene Arbeiter¬
schutzgesetz zu bestätige,,, weil es ihm gegen die Lebensbedingungen der heimischen
Industrie zu streiten schien, trat der Freisinn für deu Arbeiterschutz ein und
blieb so lange dafür, bis das arbeiterfreundliche Programm in der Thronrede
beim Neichstagsschluß abgegeben wurde. Der Kaiser hatte in der Thronrede
gesagt: „Es ist mein dringender Wunsch und meine Hoffnung, daß es dem
folgenden Reichstage gelingen möge, im Verein mit den verbündeten Regie¬
rungen für die auf diesem Felde (auf dem der Verbesserung der Lebenslage der
arbeitenden Klassen) notwendigen Verbesserungen wirksam gesetzliche Formen zu
schaffen. Ich betrachte es als meine ernste und erhabene Aufgabe, auf die
Erfüllung dieser Hoffnung hinzuwirken." Der Freisinn sagte sich, daß diese
kaiserlichen Worte wahrscheinlich die Grundlage sür das Programm der Kartell-
Parteien abgeben würden, und sofort gab der deutschfreisinnige Papst das
Stichwort vom „patriarchalischen Imperialismus" aus. Auf einmal war aller
Arbeiterschutz eine „ungehörige Einmischung des Staates in die Gütererzeugung."
Das ist deutschfreisinnige Überzeuguugstreue. Nun erschienen am 4. Februar
die beiden kaiserlichen Erlasse. Gegen diese sich wenden, hieß, wie die Dinge
lagen, die Partei ruiniren. Darum galt es, Kapital daraus zu schlagen. Auf
der ganzen freisinnigen Linie von Richter bis zu Hänel wurde das Stichwort
ausgegeben, in den Erlassen die eigne, stets befolgte deutschfreisinuige Politik zu
sehen und sich als die treuesten Genossen der kaiserlichen Politik auf sozialem
Gebiete hinzustellen. Man sah bereits Bismarck halb auf die Seite geschoben.
Schon daß die Herren in den Erlassen eine Niederlage Bismarcks sahen und
sie sofort zur Wühlerei gegen den Kanzler mit seinen „harten, dauernden"
Grundsätzen verwerteten, läßt sehr an der Ehrlichkeit ihrer Stellungnahme
zweifeln. Mit dieser freisinnigen Schwenkung bei den Wahlen etwa zu rechnen
und die Freisinnigen den staatserhaltenden Parteien zuweisen, dazu liegt für
letztere bis jetzt durchaus kein Grund vor. Nach allen Regeln der bisherigen


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[0388] Weiteres zur Charakteristik der Dentschfreisinnigen Sache; sie haben bereits den Sozialdemokraten ihre Stimmen bei den Stich¬ wahlen zur Verfügung gestellt, mit dem Wunsche, daß diese von dem Beschluß von Se. Gallen, der der Sozialdemokratie bei den Stichwahlen keine andre Partei zu unterstützen vorschrieb, absähen. An mehreren Orten ist es, wie z. B. in Stade, bereits zu einem deutschfreisinnig-sozialdemokratischen Verbrüderuugsfest ge¬ kommen. So stark ist bei diesem Freisinn der Haß gegen eine Regierung, um die wir von den freiesten Staaten beneidet werden, daß sie auch mit den geschwornen Feinden aller modernen Staatsordnung sich zu verbinden keinen Anstoß nehmen. Wie sehr bei ihnen die blinde Opposition gegen die Regierung und die bloße Verneinung alles beherrscht, das geht recht ausfallend aus ihrem Verhalten in der Arbeiterschutzfrage hervor. Richter wie Barth und Bamberger wie Nickert waren früher stets für das sogenannte „freie Spiel der Kräfte" und gegen alles staatliche Eingreifen in die Arbeiterverhältnisse gewesen. Dann, als der Bundesrat es ablehnte, das vom Reichstag angenommene Arbeiter¬ schutzgesetz zu bestätige,,, weil es ihm gegen die Lebensbedingungen der heimischen Industrie zu streiten schien, trat der Freisinn für deu Arbeiterschutz ein und blieb so lange dafür, bis das arbeiterfreundliche Programm in der Thronrede beim Neichstagsschluß abgegeben wurde. Der Kaiser hatte in der Thronrede gesagt: „Es ist mein dringender Wunsch und meine Hoffnung, daß es dem folgenden Reichstage gelingen möge, im Verein mit den verbündeten Regie¬ rungen für die auf diesem Felde (auf dem der Verbesserung der Lebenslage der arbeitenden Klassen) notwendigen Verbesserungen wirksam gesetzliche Formen zu schaffen. Ich betrachte es als meine ernste und erhabene Aufgabe, auf die Erfüllung dieser Hoffnung hinzuwirken." Der Freisinn sagte sich, daß diese kaiserlichen Worte wahrscheinlich die Grundlage sür das Programm der Kartell- Parteien abgeben würden, und sofort gab der deutschfreisinnige Papst das Stichwort vom „patriarchalischen Imperialismus" aus. Auf einmal war aller Arbeiterschutz eine „ungehörige Einmischung des Staates in die Gütererzeugung." Das ist deutschfreisinnige Überzeuguugstreue. Nun erschienen am 4. Februar die beiden kaiserlichen Erlasse. Gegen diese sich wenden, hieß, wie die Dinge lagen, die Partei ruiniren. Darum galt es, Kapital daraus zu schlagen. Auf der ganzen freisinnigen Linie von Richter bis zu Hänel wurde das Stichwort ausgegeben, in den Erlassen die eigne, stets befolgte deutschfreisinuige Politik zu sehen und sich als die treuesten Genossen der kaiserlichen Politik auf sozialem Gebiete hinzustellen. Man sah bereits Bismarck halb auf die Seite geschoben. Schon daß die Herren in den Erlassen eine Niederlage Bismarcks sahen und sie sofort zur Wühlerei gegen den Kanzler mit seinen „harten, dauernden" Grundsätzen verwerteten, läßt sehr an der Ehrlichkeit ihrer Stellungnahme zweifeln. Mit dieser freisinnigen Schwenkung bei den Wahlen etwa zu rechnen und die Freisinnigen den staatserhaltenden Parteien zuweisen, dazu liegt für letztere bis jetzt durchaus kein Grund vor. Nach allen Regeln der bisherigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/388>, abgerufen am 23.07.2024.