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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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?An Aüslnldung für das Lehramt an den höhern Schulen

pädagogischen Praxis aber dein Gymnasium zuweist, der Herbeiführung einer
einheitlich geschlossenen Persönlichkeit weit mehr Hindernisse in den Weg ge¬
legt werden als da, wo Theorie und Praxis, von einheitlichem Geiste erfüllt,
immer aufs engste zusammengehen. Ist es z. B. bei der ersten Einrichtung nicht
denkbar, daß der junge Manu auf der Universität Ethik bei einem Utilitarier,
Psychologie bei einem Vertreter der physiologischen Richtung, Pädagogik bei
einem Anhänger Schleiermachers hört, um, dann, ins Gymnasialseminar ein¬
tretend, einem Anhänger des Lotzischen Systems überantwortet zu werden?
Nur wer einem charakterlosen Eklektizismus huldigt, kann solche Zustände für
gesund und wünschenswert erachten. Wir meinen, daß für die charaktervolle
Ausbildung junger Männer die Trennung der theoretischen Grundlegung von
der praktischen Ausbildung schwere Gefahren in sich berge, Gefahren, welche
im Universitätsseminar weit eher vermieden werden können.

Ein weiterer Vorzug dürfte dann auch darin bestehen, daß sich in ihnen
Theologen, Alt- und Neuphilologen, Mathematiker und Naturwissenschafter
zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Dies übt deu wohlthätigste" Einfluß
aus, iusoferu hierdurch gegen die mit den Fachstudien leicht sich einstellende
Einseitigkeit ein wirksames Gegengewicht geschaffen wird. Die jungen
Leute werden veranlaßt, wie Lessing sagt, "ans einer Scienz in die andre
hinüberzusehen," das Bildungsproblem aus dem Ganzen aufzufassen, das
einzelne Fach in seiner Stellung im Gesamtplan begreifen zu lernen. Das
pädagogische Universitätsseminar ist also vielseitiger und kaun nicht bloß den
Gymnasiallehrern, sondern auch den Lehrern andrer höheren Schulen, den
künftigen Semiuardirektoreu und Schulinspektoreu, die geeignete Vorbildung
gewähren.

Noch manches könnte zu Gunsten der Universitätsseminare hervorgehoben
werdeu. Doch glauben wir in dem Vorstehenden hinreichend dargethan zu
haben, daß mit der Einrichtung der Gymnasialseminare, wie sie in der Denk¬
schrift auseinander gesetzt ist, die pädagogischen Univcrsitätsinstititte nicht nur
nicht überflüssig, sondern im Gegenteil erst recht geboten erscheine,,. So freudig
wir den Schritt begrüßen, den der preußische Unterrichtsminister in Sachen der
Lehrerbildung vorwärts thut, so würden wir es doch bedauern, wenn damit
nicht zugleich der Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik an deu Universitäten
ernste Aufmerksamkeit geschenkt würde. Soll in den Gymnasialseminareu frisches
Leben und wissenschaftliches Streben herrschen, so muß die Nähranelle für sie
an deu Universitäten nicht verstopft, sondern erst recht geöffnet werden. Nur
unter dieser Bedingung werden die Gymuasialseminnre wirklichen Segen stiften
und dem Ansturm gegen die Gymnasien einen kräftige,, Damm entgegen¬
stellen können.




?An Aüslnldung für das Lehramt an den höhern Schulen

pädagogischen Praxis aber dein Gymnasium zuweist, der Herbeiführung einer
einheitlich geschlossenen Persönlichkeit weit mehr Hindernisse in den Weg ge¬
legt werden als da, wo Theorie und Praxis, von einheitlichem Geiste erfüllt,
immer aufs engste zusammengehen. Ist es z. B. bei der ersten Einrichtung nicht
denkbar, daß der junge Manu auf der Universität Ethik bei einem Utilitarier,
Psychologie bei einem Vertreter der physiologischen Richtung, Pädagogik bei
einem Anhänger Schleiermachers hört, um, dann, ins Gymnasialseminar ein¬
tretend, einem Anhänger des Lotzischen Systems überantwortet zu werden?
Nur wer einem charakterlosen Eklektizismus huldigt, kann solche Zustände für
gesund und wünschenswert erachten. Wir meinen, daß für die charaktervolle
Ausbildung junger Männer die Trennung der theoretischen Grundlegung von
der praktischen Ausbildung schwere Gefahren in sich berge, Gefahren, welche
im Universitätsseminar weit eher vermieden werden können.

Ein weiterer Vorzug dürfte dann auch darin bestehen, daß sich in ihnen
Theologen, Alt- und Neuphilologen, Mathematiker und Naturwissenschafter
zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Dies übt deu wohlthätigste« Einfluß
aus, iusoferu hierdurch gegen die mit den Fachstudien leicht sich einstellende
Einseitigkeit ein wirksames Gegengewicht geschaffen wird. Die jungen
Leute werden veranlaßt, wie Lessing sagt, „ans einer Scienz in die andre
hinüberzusehen," das Bildungsproblem aus dem Ganzen aufzufassen, das
einzelne Fach in seiner Stellung im Gesamtplan begreifen zu lernen. Das
pädagogische Universitätsseminar ist also vielseitiger und kaun nicht bloß den
Gymnasiallehrern, sondern auch den Lehrern andrer höheren Schulen, den
künftigen Semiuardirektoreu und Schulinspektoreu, die geeignete Vorbildung
gewähren.

Noch manches könnte zu Gunsten der Universitätsseminare hervorgehoben
werdeu. Doch glauben wir in dem Vorstehenden hinreichend dargethan zu
haben, daß mit der Einrichtung der Gymnasialseminare, wie sie in der Denk¬
schrift auseinander gesetzt ist, die pädagogischen Univcrsitätsinstititte nicht nur
nicht überflüssig, sondern im Gegenteil erst recht geboten erscheine,,. So freudig
wir den Schritt begrüßen, den der preußische Unterrichtsminister in Sachen der
Lehrerbildung vorwärts thut, so würden wir es doch bedauern, wenn damit
nicht zugleich der Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik an deu Universitäten
ernste Aufmerksamkeit geschenkt würde. Soll in den Gymnasialseminareu frisches
Leben und wissenschaftliches Streben herrschen, so muß die Nähranelle für sie
an deu Universitäten nicht verstopft, sondern erst recht geöffnet werden. Nur
unter dieser Bedingung werden die Gymuasialseminnre wirklichen Segen stiften
und dem Ansturm gegen die Gymnasien einen kräftige,, Damm entgegen¬
stellen können.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/374>, abgerufen am 23.07.2024.