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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Bedenken über die Sprachverbessernng

der Einführung in die Litteratur nicht gar viel zu thun übrig. Wird aber
in 24 Stunden schlecht gesprochen und geschrieben, so würden selbst L deutsche
Stunden das angerichtete Unheil kaum wieder gut machen. Das allerschlimmste
aber ist, daß in stark besetzten Klassen überhaupt kein Sprechunterricht, sondern
nur Schweigunterricht erteilt wird. Sprechen und Schreiben kann, wie jede
andre Kunst, nur durch Übung erlernt werden. So wenig einer schwimmen
lernen kann, ohne zu schwimmen, turnen lernen, ohne zu turnen, Klavierspielen
lernen, ohne Klavier zu spielen, so wenig kann einer reden lernen, ohne deu
Mund aufzuthun. Bis zum sechsten Jahre schwatzen gesunde Kinder, wenn
mans ihnen nicht bei Strafe verbietet, in einem fort und dabei gar nicht
schlecht. Dann gehen sie in die Schule, und da wird ihnen ein Schloß vor
den Mund gehängt; für jedes Wörtlein, das sie ohne Erlaubnis sprechen,
setzts eine Rüge oder gar Schläge. Sie dürfen nur sprechen, wenn sie "dran¬
kommen," und wie selten kommt so ein armes Plappermäulchen dran unter
achtzig Kameraden! Mitleidige Lehrer lassen oft im Chöre sprechen, was den
Kindern zugleich den Vorteil verschafft, einmal aufstehen und ein Paar Knie¬
beugen und Armbewegungen machen zu dürfen. Nach der Schule denn find
häusliche Arbeiten anzufertigen, was wieder ein paar Schweigstunden bedeutet.
In den höhern Schulen ist die Sache noch schlimmer, weil da die häuslichen
Arbeiten mehr Zeit in Anspruch nehmen. Mancher Junge hat uun das Pech,
daß er Tage lang nicht "drankommt"; ja mir ist ein Fall bekannt, wo ein
Schiller -- er war kein schlechter oder liederlicher Mensch -- sich durch irgend
etwas die Ungnade der Herren Lehrer zugezogen hatte und sechs geschlagene
Wochen in keinem Fache "drankam"! Das ist ja, sofern man es nicht als
Zuchthausstrafe nach pennsylvanischen System auffaßt, eine vortreffliche An¬
leitung zur Selbstbeherrschung und eine Askese ersten Ranges -- tägliche
Geißelung wäre im Vergleich damit ein Vergnügen --, aber wie soll einer
dabei sprechen lernen? Nach einigen Jahren dieser prächtigen Übung ist aus
dein ehemaligen Plappermäulchen ein Kerl geworden, der wie Dantes Virgil
"vom langen Schweigen heiser scheint"; und dann schlagen die Herren Lehrer
die Hände überm Kopf zusammen, weil die Schüler so unbeholfen im Ausdruck
find! Mit dein Schreiben steht es nicht ganz so schlimm, aber doch ähnlich.
Vorzugsweise aus dem Grunde werden weit weniger Aufsätze geschrieben, als
geschrieben werden sollten, weil kein Lehrer gern neben andern Heften wöchent¬
lich vierzig bis sechzig Aufsätze durchsieht, was man ihm wohl auch nicht ver¬
argen kann, und weil die Zeit fehlt, mit jedem Schüler die Fehler zu be¬
sprechen. Die von den Grenzboten empfohlene Beseitigung des lateinischen
Aufsatzes würde wenigstens den Oberklassen nach dieser Richtung hin einige
Hilfe bringen.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn unsre Schulen so eingerichtet werden
könnten, daß die Unterrichtsstunden mehr Rede- als Schweigstunden wären.


Bedenken über die Sprachverbessernng

der Einführung in die Litteratur nicht gar viel zu thun übrig. Wird aber
in 24 Stunden schlecht gesprochen und geschrieben, so würden selbst L deutsche
Stunden das angerichtete Unheil kaum wieder gut machen. Das allerschlimmste
aber ist, daß in stark besetzten Klassen überhaupt kein Sprechunterricht, sondern
nur Schweigunterricht erteilt wird. Sprechen und Schreiben kann, wie jede
andre Kunst, nur durch Übung erlernt werden. So wenig einer schwimmen
lernen kann, ohne zu schwimmen, turnen lernen, ohne zu turnen, Klavierspielen
lernen, ohne Klavier zu spielen, so wenig kann einer reden lernen, ohne deu
Mund aufzuthun. Bis zum sechsten Jahre schwatzen gesunde Kinder, wenn
mans ihnen nicht bei Strafe verbietet, in einem fort und dabei gar nicht
schlecht. Dann gehen sie in die Schule, und da wird ihnen ein Schloß vor
den Mund gehängt; für jedes Wörtlein, das sie ohne Erlaubnis sprechen,
setzts eine Rüge oder gar Schläge. Sie dürfen nur sprechen, wenn sie „dran¬
kommen," und wie selten kommt so ein armes Plappermäulchen dran unter
achtzig Kameraden! Mitleidige Lehrer lassen oft im Chöre sprechen, was den
Kindern zugleich den Vorteil verschafft, einmal aufstehen und ein Paar Knie¬
beugen und Armbewegungen machen zu dürfen. Nach der Schule denn find
häusliche Arbeiten anzufertigen, was wieder ein paar Schweigstunden bedeutet.
In den höhern Schulen ist die Sache noch schlimmer, weil da die häuslichen
Arbeiten mehr Zeit in Anspruch nehmen. Mancher Junge hat uun das Pech,
daß er Tage lang nicht „drankommt"; ja mir ist ein Fall bekannt, wo ein
Schiller — er war kein schlechter oder liederlicher Mensch — sich durch irgend
etwas die Ungnade der Herren Lehrer zugezogen hatte und sechs geschlagene
Wochen in keinem Fache „drankam"! Das ist ja, sofern man es nicht als
Zuchthausstrafe nach pennsylvanischen System auffaßt, eine vortreffliche An¬
leitung zur Selbstbeherrschung und eine Askese ersten Ranges — tägliche
Geißelung wäre im Vergleich damit ein Vergnügen —, aber wie soll einer
dabei sprechen lernen? Nach einigen Jahren dieser prächtigen Übung ist aus
dein ehemaligen Plappermäulchen ein Kerl geworden, der wie Dantes Virgil
„vom langen Schweigen heiser scheint"; und dann schlagen die Herren Lehrer
die Hände überm Kopf zusammen, weil die Schüler so unbeholfen im Ausdruck
find! Mit dein Schreiben steht es nicht ganz so schlimm, aber doch ähnlich.
Vorzugsweise aus dem Grunde werden weit weniger Aufsätze geschrieben, als
geschrieben werden sollten, weil kein Lehrer gern neben andern Heften wöchent¬
lich vierzig bis sechzig Aufsätze durchsieht, was man ihm wohl auch nicht ver¬
argen kann, und weil die Zeit fehlt, mit jedem Schüler die Fehler zu be¬
sprechen. Die von den Grenzboten empfohlene Beseitigung des lateinischen
Aufsatzes würde wenigstens den Oberklassen nach dieser Richtung hin einige
Hilfe bringen.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn unsre Schulen so eingerichtet werden
könnten, daß die Unterrichtsstunden mehr Rede- als Schweigstunden wären.


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[0290] Bedenken über die Sprachverbessernng der Einführung in die Litteratur nicht gar viel zu thun übrig. Wird aber in 24 Stunden schlecht gesprochen und geschrieben, so würden selbst L deutsche Stunden das angerichtete Unheil kaum wieder gut machen. Das allerschlimmste aber ist, daß in stark besetzten Klassen überhaupt kein Sprechunterricht, sondern nur Schweigunterricht erteilt wird. Sprechen und Schreiben kann, wie jede andre Kunst, nur durch Übung erlernt werden. So wenig einer schwimmen lernen kann, ohne zu schwimmen, turnen lernen, ohne zu turnen, Klavierspielen lernen, ohne Klavier zu spielen, so wenig kann einer reden lernen, ohne deu Mund aufzuthun. Bis zum sechsten Jahre schwatzen gesunde Kinder, wenn mans ihnen nicht bei Strafe verbietet, in einem fort und dabei gar nicht schlecht. Dann gehen sie in die Schule, und da wird ihnen ein Schloß vor den Mund gehängt; für jedes Wörtlein, das sie ohne Erlaubnis sprechen, setzts eine Rüge oder gar Schläge. Sie dürfen nur sprechen, wenn sie „dran¬ kommen," und wie selten kommt so ein armes Plappermäulchen dran unter achtzig Kameraden! Mitleidige Lehrer lassen oft im Chöre sprechen, was den Kindern zugleich den Vorteil verschafft, einmal aufstehen und ein Paar Knie¬ beugen und Armbewegungen machen zu dürfen. Nach der Schule denn find häusliche Arbeiten anzufertigen, was wieder ein paar Schweigstunden bedeutet. In den höhern Schulen ist die Sache noch schlimmer, weil da die häuslichen Arbeiten mehr Zeit in Anspruch nehmen. Mancher Junge hat uun das Pech, daß er Tage lang nicht „drankommt"; ja mir ist ein Fall bekannt, wo ein Schiller — er war kein schlechter oder liederlicher Mensch — sich durch irgend etwas die Ungnade der Herren Lehrer zugezogen hatte und sechs geschlagene Wochen in keinem Fache „drankam"! Das ist ja, sofern man es nicht als Zuchthausstrafe nach pennsylvanischen System auffaßt, eine vortreffliche An¬ leitung zur Selbstbeherrschung und eine Askese ersten Ranges — tägliche Geißelung wäre im Vergleich damit ein Vergnügen —, aber wie soll einer dabei sprechen lernen? Nach einigen Jahren dieser prächtigen Übung ist aus dein ehemaligen Plappermäulchen ein Kerl geworden, der wie Dantes Virgil „vom langen Schweigen heiser scheint"; und dann schlagen die Herren Lehrer die Hände überm Kopf zusammen, weil die Schüler so unbeholfen im Ausdruck find! Mit dein Schreiben steht es nicht ganz so schlimm, aber doch ähnlich. Vorzugsweise aus dem Grunde werden weit weniger Aufsätze geschrieben, als geschrieben werden sollten, weil kein Lehrer gern neben andern Heften wöchent¬ lich vierzig bis sechzig Aufsätze durchsieht, was man ihm wohl auch nicht ver¬ argen kann, und weil die Zeit fehlt, mit jedem Schüler die Fehler zu be¬ sprechen. Die von den Grenzboten empfohlene Beseitigung des lateinischen Aufsatzes würde wenigstens den Oberklassen nach dieser Richtung hin einige Hilfe bringen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn unsre Schulen so eingerichtet werden könnten, daß die Unterrichtsstunden mehr Rede- als Schweigstunden wären.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/290>, abgerufen am 29.06.2024.