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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte von dem kranken Rönigssohne

die Odyssee und unser Deutscher Meier Helmbrecht. Aber was hier geschieht,
ist uur abgeschmackt und widersinnig. Ein schwarzer Adler kommt plötzlich
in den Saal geflogen, nimmt dem Seleukus die Krone vom Haupte
und verschwindet wieder, ein Vorbote des heranziehenden Unheils. Trotz¬
dem gehen die Orgien des Mahles weiter. Da erscheint ein Herold,
blutrot gekleidet, drei Pfeile und einen Totenschädel in der Hand, und fordert
ohne Gruß mit rauher Stimme den Antiochus als einen des Thrones
unwürdigen zum Kampfe heraus. Dieser nimmt kühn genug die Heraus-
forderung um und fällt in dem ungleichen Streite. Seleukus, ergrimmt über
den Tod seines Sohnes, stürzt einem Rasenden gleich auf deu Sieger, und
beide geben sich gegenseitig den Tod. Nun wird auch Stratonica von der
Strafe des Himmels ereilt. Des erledigten Thrones bemächtigt sich ein Ver¬
wandter des Seleukus, ein Scheusal vou abstoßender Häßlichkeit. Dieser
zwingt die Stratonica zur Ehe, und als sie ihm dann ihre Abneigung nicht
verhehlt, giebt er sie der Roheit seiner Söldner preis.

Den Roman des Assarino hat ein Deutscher in ein Drama umzuwandeln
unternommen: es ist Johann Christian Hallmann, ein Schlesier, der ums Jahr
1640 geboren und 1704 in Breslau gestorben ist/") Unter seinen Dramen
findet sich eins, das den Titel führt: "Die merkwürdige Vaterliebe oder der
vor Liebe sterbende Antiochus und die vom Tode errettende Stratonica,
von Joh. Christian Hallmann erfundenes und in hochdeutscher Poesie gesetztes
Trauer-Freudenspiel." Der hochtrabende Titel sagt dem Kenner genug: Hall-
mann ist ein Anhänger der oben geschilderten Geschmacksrichtung, die in
Deutschland ihren Hauptvertreter in dem Schlesier Daniel Caspar von Lobenstein
gefunden hat und darum auch schlechtweg nach dessen Namen genannt wird.
Auch bei ihm herrscht Überladung und Geziertheit bis zum Übermaß, was
schon von seinen Zeitgenossen bemerkt und getadelt wurde. Sein Stück ist
nach der Sitte der Zeit mit Chören oder Rehen ausgestattet, die meist aus
Verkörperungen abstrakter Begriffe bestehen. Da erscheint z. V. die Liebe, die
Vernunft, das Gewissen, der Gehorsam, die Ehre, die Keuschheit u. s. w., um
ein Wort dreinzureden und nach Art des antiken Chors ein Urteil über das
Geschehene abzugeben. Dazu kommen noch einzelne Ritornelle, d. h. hier
Gesangseinlagen, die von Einzelnen vorgetragen werden, sodaß das Ganze
einen opernhaften Anstrich bekommt. Den ausgedehnten Stoff der Vorlage
Mußte natürlich der dramatische Dichter, der zumal die Einheit der Zeit fest¬
halten wollte, bedeutend zusammenziehen. Das Drama beginnt mit der
Schwermut des Antiochus. Aber der Dichter wäre bei der gänzlich undrama-
^schen Natur seines Vorwurfes schwerlich auf seine fünf Aufzüge gekommen,
wenn ihm nicht die Episode seiner Vorlage, die von der Verschwörung gegen



*) Über sein Leben und seine Dichtungen vgl. Erich Schmidt in der Allgemeinen deutschen
Biographie.
Zur Geschichte von dem kranken Rönigssohne

die Odyssee und unser Deutscher Meier Helmbrecht. Aber was hier geschieht,
ist uur abgeschmackt und widersinnig. Ein schwarzer Adler kommt plötzlich
in den Saal geflogen, nimmt dem Seleukus die Krone vom Haupte
und verschwindet wieder, ein Vorbote des heranziehenden Unheils. Trotz¬
dem gehen die Orgien des Mahles weiter. Da erscheint ein Herold,
blutrot gekleidet, drei Pfeile und einen Totenschädel in der Hand, und fordert
ohne Gruß mit rauher Stimme den Antiochus als einen des Thrones
unwürdigen zum Kampfe heraus. Dieser nimmt kühn genug die Heraus-
forderung um und fällt in dem ungleichen Streite. Seleukus, ergrimmt über
den Tod seines Sohnes, stürzt einem Rasenden gleich auf deu Sieger, und
beide geben sich gegenseitig den Tod. Nun wird auch Stratonica von der
Strafe des Himmels ereilt. Des erledigten Thrones bemächtigt sich ein Ver¬
wandter des Seleukus, ein Scheusal vou abstoßender Häßlichkeit. Dieser
zwingt die Stratonica zur Ehe, und als sie ihm dann ihre Abneigung nicht
verhehlt, giebt er sie der Roheit seiner Söldner preis.

Den Roman des Assarino hat ein Deutscher in ein Drama umzuwandeln
unternommen: es ist Johann Christian Hallmann, ein Schlesier, der ums Jahr
1640 geboren und 1704 in Breslau gestorben ist/") Unter seinen Dramen
findet sich eins, das den Titel führt: „Die merkwürdige Vaterliebe oder der
vor Liebe sterbende Antiochus und die vom Tode errettende Stratonica,
von Joh. Christian Hallmann erfundenes und in hochdeutscher Poesie gesetztes
Trauer-Freudenspiel." Der hochtrabende Titel sagt dem Kenner genug: Hall-
mann ist ein Anhänger der oben geschilderten Geschmacksrichtung, die in
Deutschland ihren Hauptvertreter in dem Schlesier Daniel Caspar von Lobenstein
gefunden hat und darum auch schlechtweg nach dessen Namen genannt wird.
Auch bei ihm herrscht Überladung und Geziertheit bis zum Übermaß, was
schon von seinen Zeitgenossen bemerkt und getadelt wurde. Sein Stück ist
nach der Sitte der Zeit mit Chören oder Rehen ausgestattet, die meist aus
Verkörperungen abstrakter Begriffe bestehen. Da erscheint z. V. die Liebe, die
Vernunft, das Gewissen, der Gehorsam, die Ehre, die Keuschheit u. s. w., um
ein Wort dreinzureden und nach Art des antiken Chors ein Urteil über das
Geschehene abzugeben. Dazu kommen noch einzelne Ritornelle, d. h. hier
Gesangseinlagen, die von Einzelnen vorgetragen werden, sodaß das Ganze
einen opernhaften Anstrich bekommt. Den ausgedehnten Stoff der Vorlage
Mußte natürlich der dramatische Dichter, der zumal die Einheit der Zeit fest¬
halten wollte, bedeutend zusammenziehen. Das Drama beginnt mit der
Schwermut des Antiochus. Aber der Dichter wäre bei der gänzlich undrama-
^schen Natur seines Vorwurfes schwerlich auf seine fünf Aufzüge gekommen,
wenn ihm nicht die Episode seiner Vorlage, die von der Verschwörung gegen



*) Über sein Leben und seine Dichtungen vgl. Erich Schmidt in der Allgemeinen deutschen
Biographie.
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[0243] Zur Geschichte von dem kranken Rönigssohne die Odyssee und unser Deutscher Meier Helmbrecht. Aber was hier geschieht, ist uur abgeschmackt und widersinnig. Ein schwarzer Adler kommt plötzlich in den Saal geflogen, nimmt dem Seleukus die Krone vom Haupte und verschwindet wieder, ein Vorbote des heranziehenden Unheils. Trotz¬ dem gehen die Orgien des Mahles weiter. Da erscheint ein Herold, blutrot gekleidet, drei Pfeile und einen Totenschädel in der Hand, und fordert ohne Gruß mit rauher Stimme den Antiochus als einen des Thrones unwürdigen zum Kampfe heraus. Dieser nimmt kühn genug die Heraus- forderung um und fällt in dem ungleichen Streite. Seleukus, ergrimmt über den Tod seines Sohnes, stürzt einem Rasenden gleich auf deu Sieger, und beide geben sich gegenseitig den Tod. Nun wird auch Stratonica von der Strafe des Himmels ereilt. Des erledigten Thrones bemächtigt sich ein Ver¬ wandter des Seleukus, ein Scheusal vou abstoßender Häßlichkeit. Dieser zwingt die Stratonica zur Ehe, und als sie ihm dann ihre Abneigung nicht verhehlt, giebt er sie der Roheit seiner Söldner preis. Den Roman des Assarino hat ein Deutscher in ein Drama umzuwandeln unternommen: es ist Johann Christian Hallmann, ein Schlesier, der ums Jahr 1640 geboren und 1704 in Breslau gestorben ist/") Unter seinen Dramen findet sich eins, das den Titel führt: „Die merkwürdige Vaterliebe oder der vor Liebe sterbende Antiochus und die vom Tode errettende Stratonica, von Joh. Christian Hallmann erfundenes und in hochdeutscher Poesie gesetztes Trauer-Freudenspiel." Der hochtrabende Titel sagt dem Kenner genug: Hall- mann ist ein Anhänger der oben geschilderten Geschmacksrichtung, die in Deutschland ihren Hauptvertreter in dem Schlesier Daniel Caspar von Lobenstein gefunden hat und darum auch schlechtweg nach dessen Namen genannt wird. Auch bei ihm herrscht Überladung und Geziertheit bis zum Übermaß, was schon von seinen Zeitgenossen bemerkt und getadelt wurde. Sein Stück ist nach der Sitte der Zeit mit Chören oder Rehen ausgestattet, die meist aus Verkörperungen abstrakter Begriffe bestehen. Da erscheint z. V. die Liebe, die Vernunft, das Gewissen, der Gehorsam, die Ehre, die Keuschheit u. s. w., um ein Wort dreinzureden und nach Art des antiken Chors ein Urteil über das Geschehene abzugeben. Dazu kommen noch einzelne Ritornelle, d. h. hier Gesangseinlagen, die von Einzelnen vorgetragen werden, sodaß das Ganze einen opernhaften Anstrich bekommt. Den ausgedehnten Stoff der Vorlage Mußte natürlich der dramatische Dichter, der zumal die Einheit der Zeit fest¬ halten wollte, bedeutend zusammenziehen. Das Drama beginnt mit der Schwermut des Antiochus. Aber der Dichter wäre bei der gänzlich undrama- ^schen Natur seines Vorwurfes schwerlich auf seine fünf Aufzüge gekommen, wenn ihm nicht die Episode seiner Vorlage, die von der Verschwörung gegen *) Über sein Leben und seine Dichtungen vgl. Erich Schmidt in der Allgemeinen deutschen Biographie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/243>, abgerufen am 23.07.2024.