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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Weniger Beifall hat sein Roman ?rw"Z6 Otto gefunden, der ohne klaren
Aufbau eine ziemlich verworrene Sammlung von politischen, philosophischen und
dabei oft paradoxen Gedanken enthält, aber bei allen Mängeln doch einen Beweis
von der vielseitigen Bildung und der gründlichen Menschenkenntnis des Ver¬
fassers giebt. Umso mehr Anerkennung ist seiner Novellensammlung Ilu?, Nsrrz'
Uhr s,mal vt'Jor tilllzs ^na taktlos vom englischen Publikum gezollt worden.
Die Novellen behandeln fast sämtlich psychologische Probleme und sind, ab¬
gesehen von der ersten 1'do Norr/ Nein, in der der ausbrechende Wahnsinn
eines Seemanns geschildert wird, den ein begangener Mord quält, in der Form
knapp und durchsichtig gehalten.

Mit seiner Erzählung LtranAö Lass ol Dr. ^sK^II ana Ur. L/6s.
die auch in guter Übersetzung unter dein Titel "Der seltsame Fall" erschienen
ist (Breslau, S. Schottländer, 1889), hat N. L. Stevenson geradezu ein
psychologisch-phantastisches Kunstwerk, g, dir8t-i!alö boolc, geliefert. Er erinnert
in dieser Richtung ganz an E. T. A. Hoffmanns unheimliche Geschichten, die,
auf unmögliche, übernatürliche Voraussetzungen aufgebaut, in die haar¬
sträubendsten Folgen und Verwicklungen auslaufen. Mit großem Geschick und
grauenerregender Natürlichkeit behandelt Stevenson das mystische Problem, die
menschliche Natur in zwei für sich bestehende und unabhängig von einander
handelnde Wesen zu zerlegen. Die Verdoppelung des Bewußtseins ist eine
Erscheinung, die in der Psychvphysik eine große Rolle spielt und deren Mög¬
lichkeit bei gewissen Kranken feststeht. Der französische Philosoph Taine erzählt
z. B. in feinem Buche I/intelligsnos von einem kranken Menschen, der fest
behauptete, er habe erst das Bewußtsein seiner eignen Person verloren und sei
dann zu dein ganz sichern Bewußtsein gekommen, daß er ein andrer sei, als er
selbst. Diese Zweiteilung versucht Stevenson auch auf den moralischen und
Physischen Menschen auszudehnen und führt uns einen Gelehrten vor, dem es
durch besondre Mittel gelungen ist, aus dem durch Erziehung geistig und
ästhetisch hochgebildetem und durch das Gewissen künstlich gehaltenen sittlichen
Menschen den ihm zu Grunde liegenden brutalen Sinnenmenschen herauszu¬
ziehen und bald in dem Bewußtsein dieses nach rohen tierischem Trieben, bald
in dem Bewußtsein jenes nach sittlichen Grundsätzen zu leben und zu handeln.

Doktor Jekyll ist ein angesehener Arzt in London, von bedeutendem Ruf
und ungeheuerm Vermögen. Hochgestellte Männer, unter ihnen besonders der
Advokat Alderson und der Arzt Lanyon, bemühen sich um seine Gunst und
feiern in ihm den großen Gelehrten und den edeln Menschenfreund. Sein
besondrer Vertrauter ist Alderson geworden, in dessen Hände Jekyll sein
Testament niederlegt. Dieses Testament erregt die Verwunderung des Advokaten
im höchsten Grade, denn es wird darin angeordnet, daß Jekylls ganzes Be¬
sitztum seinem Freunde und Wohlthäter, Herrn Edward Hyde, vermacht werden
soll, und daß, falls Jekyll auf unerklärliche Weise verschwinden oder länger


Grenzboten I 1890 24

Weniger Beifall hat sein Roman ?rw«Z6 Otto gefunden, der ohne klaren
Aufbau eine ziemlich verworrene Sammlung von politischen, philosophischen und
dabei oft paradoxen Gedanken enthält, aber bei allen Mängeln doch einen Beweis
von der vielseitigen Bildung und der gründlichen Menschenkenntnis des Ver¬
fassers giebt. Umso mehr Anerkennung ist seiner Novellensammlung Ilu?, Nsrrz'
Uhr s,mal vt'Jor tilllzs ^na taktlos vom englischen Publikum gezollt worden.
Die Novellen behandeln fast sämtlich psychologische Probleme und sind, ab¬
gesehen von der ersten 1'do Norr/ Nein, in der der ausbrechende Wahnsinn
eines Seemanns geschildert wird, den ein begangener Mord quält, in der Form
knapp und durchsichtig gehalten.

Mit seiner Erzählung LtranAö Lass ol Dr. ^sK^II ana Ur. L/6s.
die auch in guter Übersetzung unter dein Titel „Der seltsame Fall" erschienen
ist (Breslau, S. Schottländer, 1889), hat N. L. Stevenson geradezu ein
psychologisch-phantastisches Kunstwerk, g, dir8t-i!alö boolc, geliefert. Er erinnert
in dieser Richtung ganz an E. T. A. Hoffmanns unheimliche Geschichten, die,
auf unmögliche, übernatürliche Voraussetzungen aufgebaut, in die haar¬
sträubendsten Folgen und Verwicklungen auslaufen. Mit großem Geschick und
grauenerregender Natürlichkeit behandelt Stevenson das mystische Problem, die
menschliche Natur in zwei für sich bestehende und unabhängig von einander
handelnde Wesen zu zerlegen. Die Verdoppelung des Bewußtseins ist eine
Erscheinung, die in der Psychvphysik eine große Rolle spielt und deren Mög¬
lichkeit bei gewissen Kranken feststeht. Der französische Philosoph Taine erzählt
z. B. in feinem Buche I/intelligsnos von einem kranken Menschen, der fest
behauptete, er habe erst das Bewußtsein seiner eignen Person verloren und sei
dann zu dein ganz sichern Bewußtsein gekommen, daß er ein andrer sei, als er
selbst. Diese Zweiteilung versucht Stevenson auch auf den moralischen und
Physischen Menschen auszudehnen und führt uns einen Gelehrten vor, dem es
durch besondre Mittel gelungen ist, aus dem durch Erziehung geistig und
ästhetisch hochgebildetem und durch das Gewissen künstlich gehaltenen sittlichen
Menschen den ihm zu Grunde liegenden brutalen Sinnenmenschen herauszu¬
ziehen und bald in dem Bewußtsein dieses nach rohen tierischem Trieben, bald
in dem Bewußtsein jenes nach sittlichen Grundsätzen zu leben und zu handeln.

Doktor Jekyll ist ein angesehener Arzt in London, von bedeutendem Ruf
und ungeheuerm Vermögen. Hochgestellte Männer, unter ihnen besonders der
Advokat Alderson und der Arzt Lanyon, bemühen sich um seine Gunst und
feiern in ihm den großen Gelehrten und den edeln Menschenfreund. Sein
besondrer Vertrauter ist Alderson geworden, in dessen Hände Jekyll sein
Testament niederlegt. Dieses Testament erregt die Verwunderung des Advokaten
im höchsten Grade, denn es wird darin angeordnet, daß Jekylls ganzes Be¬
sitztum seinem Freunde und Wohlthäter, Herrn Edward Hyde, vermacht werden
soll, und daß, falls Jekyll auf unerklärliche Weise verschwinden oder länger


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[0193] Weniger Beifall hat sein Roman ?rw«Z6 Otto gefunden, der ohne klaren Aufbau eine ziemlich verworrene Sammlung von politischen, philosophischen und dabei oft paradoxen Gedanken enthält, aber bei allen Mängeln doch einen Beweis von der vielseitigen Bildung und der gründlichen Menschenkenntnis des Ver¬ fassers giebt. Umso mehr Anerkennung ist seiner Novellensammlung Ilu?, Nsrrz' Uhr s,mal vt'Jor tilllzs ^na taktlos vom englischen Publikum gezollt worden. Die Novellen behandeln fast sämtlich psychologische Probleme und sind, ab¬ gesehen von der ersten 1'do Norr/ Nein, in der der ausbrechende Wahnsinn eines Seemanns geschildert wird, den ein begangener Mord quält, in der Form knapp und durchsichtig gehalten. Mit seiner Erzählung LtranAö Lass ol Dr. ^sK^II ana Ur. L/6s. die auch in guter Übersetzung unter dein Titel „Der seltsame Fall" erschienen ist (Breslau, S. Schottländer, 1889), hat N. L. Stevenson geradezu ein psychologisch-phantastisches Kunstwerk, g, dir8t-i!alö boolc, geliefert. Er erinnert in dieser Richtung ganz an E. T. A. Hoffmanns unheimliche Geschichten, die, auf unmögliche, übernatürliche Voraussetzungen aufgebaut, in die haar¬ sträubendsten Folgen und Verwicklungen auslaufen. Mit großem Geschick und grauenerregender Natürlichkeit behandelt Stevenson das mystische Problem, die menschliche Natur in zwei für sich bestehende und unabhängig von einander handelnde Wesen zu zerlegen. Die Verdoppelung des Bewußtseins ist eine Erscheinung, die in der Psychvphysik eine große Rolle spielt und deren Mög¬ lichkeit bei gewissen Kranken feststeht. Der französische Philosoph Taine erzählt z. B. in feinem Buche I/intelligsnos von einem kranken Menschen, der fest behauptete, er habe erst das Bewußtsein seiner eignen Person verloren und sei dann zu dein ganz sichern Bewußtsein gekommen, daß er ein andrer sei, als er selbst. Diese Zweiteilung versucht Stevenson auch auf den moralischen und Physischen Menschen auszudehnen und führt uns einen Gelehrten vor, dem es durch besondre Mittel gelungen ist, aus dem durch Erziehung geistig und ästhetisch hochgebildetem und durch das Gewissen künstlich gehaltenen sittlichen Menschen den ihm zu Grunde liegenden brutalen Sinnenmenschen herauszu¬ ziehen und bald in dem Bewußtsein dieses nach rohen tierischem Trieben, bald in dem Bewußtsein jenes nach sittlichen Grundsätzen zu leben und zu handeln. Doktor Jekyll ist ein angesehener Arzt in London, von bedeutendem Ruf und ungeheuerm Vermögen. Hochgestellte Männer, unter ihnen besonders der Advokat Alderson und der Arzt Lanyon, bemühen sich um seine Gunst und feiern in ihm den großen Gelehrten und den edeln Menschenfreund. Sein besondrer Vertrauter ist Alderson geworden, in dessen Hände Jekyll sein Testament niederlegt. Dieses Testament erregt die Verwunderung des Advokaten im höchsten Grade, denn es wird darin angeordnet, daß Jekylls ganzes Be¬ sitztum seinem Freunde und Wohlthäter, Herrn Edward Hyde, vermacht werden soll, und daß, falls Jekyll auf unerklärliche Weise verschwinden oder länger Grenzboten I 1890 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/193>, abgerufen am 23.07.2024.