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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Sirafrechtswisscnschaft

des richterlichen Verweises, sei es mit oder ohne "Friedensbürgschaft." Noch
größere Bedenken hat er gegen die Verwendung des Hansarrestes. "Er ent¬
spricht nicht dem unerläßlichen Ernste der Rechtsordnung und ist ungeeignet,
der Zunahme der Roheitsverbrechen zu steiler"." Auch andre persönliche Be¬
schränkungen (Wirtshausverbot, Ortsverbot, Beschränkungen ans den Wohnort)
seien nicht anwendbar. Ein sehr guter Ersatz für Freiheitsstrafe sei Strafarbeit
ohne Einsperrung. Diese müsse man aber für die Falle vorbehalten, wo eine
Geldstrafe nicht beizutreiben sei.

Dagegen sei das rechte Mittel, um die kurzen Freiheitsstrafen überflüssig
zu mache", gefunden in der "bedingten Verurteilung." "Der Angeklagte wird
verurteilt. Wird das Urteil vollstreckt, so hat er mindestens sechs Wochen
zu verbüßen. Aber die Vollstreckung kann ausgesetzt werden, wenn es sich
um einen Angeklagten handelt, welcher zum erstenmale eine Verurteilung
zur Freiheitsstrafe erleidet. Der Richter sagt ihn:: Noch einmal geben Nur
dein Schicksal in deine Hand. Wenn du innerhalb bestimmter Frist nicht abermals
eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Handlung begehst, bleibt die Strafe dir er¬
lassen. Im andern Falle wird sie ohne weitere Rücksicht vollstreckt." Die
Einführung dieser bedingten Verurteilung sei die erste kriminalpvlitische Frage
der nächstell Zukunft. Mit ihr sei das Problem einer geeigneten Behandlung
der Gelegenheitsverbrecher gelöst.

Lißzt giebt dann anch einen von ihm abgefaßten Gesetzentwurf für diese
Neuerung. Bei jeder Verurteilung zu Gefängnis (also bis zu zwei Jahren)
kann das Gericht, wenn der Angeklagte noch keine Freiheitsstrafe verbüßt hat,
anordnen, daß die Vollstreckung der Strafe einstweilen auszusetzen sei. Das
Gericht kann in diesem Falle auch dein Angeklagten eine "Friedensbürgschaft,"
d. h. eine Geldkaution in beliebiger Größe, auferlegen. Wird der Verurteilte
innerhalb von drei Jahren zu einer neuen Freiheitsstrafe verurteilt, so wird
neben dieser die früher erkannte unverkürzt vollstreckt, und die Friedensbürg¬
schaft ist verfallen. Im gegenteiligen Falle gilt nach drei Jahren die erste
Verurteilung als nicht erfolgt, und die Friedensbürgschaft wird zurückgegeben.

Das ist im wesentlichen das Strafshstem, das Professor von Lißzt der
Welt empfiehlt mit der Anpreisung, daß sich daran eine neue Ära der Straf-
justiz knüpfen werde.

Die Methode, die Lißzt bei seinen Erörterungen einschlägt, ist überall
dieselbe. Er geht von einem an sich richtigen Umstände aus, bauscht diesen
ins Ungeheuerliche auf und zieht daraus die wunderbarste" Trugschlüsse.

Um die menschliche Gesellschaft vor Übelthaten zu schützen, ist die Be¬
strafung der Übelthäter eine Notwendigkeit. Das natürliche Gerechtigkeits¬
gefühl verlangt, daß die Strafe nach der Schwere der That bemessen werde.
Um hierbei einen festern Anhalt zu haben, hat man die Übelthaten unter die
Begriffe bestimmter Verbreche" oder Vergehe" gebracht. Wir ilttterscheide"


Das Neueste der Sirafrechtswisscnschaft

des richterlichen Verweises, sei es mit oder ohne „Friedensbürgschaft." Noch
größere Bedenken hat er gegen die Verwendung des Hansarrestes. „Er ent¬
spricht nicht dem unerläßlichen Ernste der Rechtsordnung und ist ungeeignet,
der Zunahme der Roheitsverbrechen zu steiler»." Auch andre persönliche Be¬
schränkungen (Wirtshausverbot, Ortsverbot, Beschränkungen ans den Wohnort)
seien nicht anwendbar. Ein sehr guter Ersatz für Freiheitsstrafe sei Strafarbeit
ohne Einsperrung. Diese müsse man aber für die Falle vorbehalten, wo eine
Geldstrafe nicht beizutreiben sei.

Dagegen sei das rechte Mittel, um die kurzen Freiheitsstrafen überflüssig
zu mache», gefunden in der „bedingten Verurteilung." „Der Angeklagte wird
verurteilt. Wird das Urteil vollstreckt, so hat er mindestens sechs Wochen
zu verbüßen. Aber die Vollstreckung kann ausgesetzt werden, wenn es sich
um einen Angeklagten handelt, welcher zum erstenmale eine Verurteilung
zur Freiheitsstrafe erleidet. Der Richter sagt ihn:: Noch einmal geben Nur
dein Schicksal in deine Hand. Wenn du innerhalb bestimmter Frist nicht abermals
eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Handlung begehst, bleibt die Strafe dir er¬
lassen. Im andern Falle wird sie ohne weitere Rücksicht vollstreckt." Die
Einführung dieser bedingten Verurteilung sei die erste kriminalpvlitische Frage
der nächstell Zukunft. Mit ihr sei das Problem einer geeigneten Behandlung
der Gelegenheitsverbrecher gelöst.

Lißzt giebt dann anch einen von ihm abgefaßten Gesetzentwurf für diese
Neuerung. Bei jeder Verurteilung zu Gefängnis (also bis zu zwei Jahren)
kann das Gericht, wenn der Angeklagte noch keine Freiheitsstrafe verbüßt hat,
anordnen, daß die Vollstreckung der Strafe einstweilen auszusetzen sei. Das
Gericht kann in diesem Falle auch dein Angeklagten eine „Friedensbürgschaft,"
d. h. eine Geldkaution in beliebiger Größe, auferlegen. Wird der Verurteilte
innerhalb von drei Jahren zu einer neuen Freiheitsstrafe verurteilt, so wird
neben dieser die früher erkannte unverkürzt vollstreckt, und die Friedensbürg¬
schaft ist verfallen. Im gegenteiligen Falle gilt nach drei Jahren die erste
Verurteilung als nicht erfolgt, und die Friedensbürgschaft wird zurückgegeben.

Das ist im wesentlichen das Strafshstem, das Professor von Lißzt der
Welt empfiehlt mit der Anpreisung, daß sich daran eine neue Ära der Straf-
justiz knüpfen werde.

Die Methode, die Lißzt bei seinen Erörterungen einschlägt, ist überall
dieselbe. Er geht von einem an sich richtigen Umstände aus, bauscht diesen
ins Ungeheuerliche auf und zieht daraus die wunderbarste« Trugschlüsse.

Um die menschliche Gesellschaft vor Übelthaten zu schützen, ist die Be¬
strafung der Übelthäter eine Notwendigkeit. Das natürliche Gerechtigkeits¬
gefühl verlangt, daß die Strafe nach der Schwere der That bemessen werde.
Um hierbei einen festern Anhalt zu haben, hat man die Übelthaten unter die
Begriffe bestimmter Verbreche» oder Vergehe» gebracht. Wir ilttterscheide»


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[0170] Das Neueste der Sirafrechtswisscnschaft des richterlichen Verweises, sei es mit oder ohne „Friedensbürgschaft." Noch größere Bedenken hat er gegen die Verwendung des Hansarrestes. „Er ent¬ spricht nicht dem unerläßlichen Ernste der Rechtsordnung und ist ungeeignet, der Zunahme der Roheitsverbrechen zu steiler»." Auch andre persönliche Be¬ schränkungen (Wirtshausverbot, Ortsverbot, Beschränkungen ans den Wohnort) seien nicht anwendbar. Ein sehr guter Ersatz für Freiheitsstrafe sei Strafarbeit ohne Einsperrung. Diese müsse man aber für die Falle vorbehalten, wo eine Geldstrafe nicht beizutreiben sei. Dagegen sei das rechte Mittel, um die kurzen Freiheitsstrafen überflüssig zu mache», gefunden in der „bedingten Verurteilung." „Der Angeklagte wird verurteilt. Wird das Urteil vollstreckt, so hat er mindestens sechs Wochen zu verbüßen. Aber die Vollstreckung kann ausgesetzt werden, wenn es sich um einen Angeklagten handelt, welcher zum erstenmale eine Verurteilung zur Freiheitsstrafe erleidet. Der Richter sagt ihn:: Noch einmal geben Nur dein Schicksal in deine Hand. Wenn du innerhalb bestimmter Frist nicht abermals eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Handlung begehst, bleibt die Strafe dir er¬ lassen. Im andern Falle wird sie ohne weitere Rücksicht vollstreckt." Die Einführung dieser bedingten Verurteilung sei die erste kriminalpvlitische Frage der nächstell Zukunft. Mit ihr sei das Problem einer geeigneten Behandlung der Gelegenheitsverbrecher gelöst. Lißzt giebt dann anch einen von ihm abgefaßten Gesetzentwurf für diese Neuerung. Bei jeder Verurteilung zu Gefängnis (also bis zu zwei Jahren) kann das Gericht, wenn der Angeklagte noch keine Freiheitsstrafe verbüßt hat, anordnen, daß die Vollstreckung der Strafe einstweilen auszusetzen sei. Das Gericht kann in diesem Falle auch dein Angeklagten eine „Friedensbürgschaft," d. h. eine Geldkaution in beliebiger Größe, auferlegen. Wird der Verurteilte innerhalb von drei Jahren zu einer neuen Freiheitsstrafe verurteilt, so wird neben dieser die früher erkannte unverkürzt vollstreckt, und die Friedensbürg¬ schaft ist verfallen. Im gegenteiligen Falle gilt nach drei Jahren die erste Verurteilung als nicht erfolgt, und die Friedensbürgschaft wird zurückgegeben. Das ist im wesentlichen das Strafshstem, das Professor von Lißzt der Welt empfiehlt mit der Anpreisung, daß sich daran eine neue Ära der Straf- justiz knüpfen werde. Die Methode, die Lißzt bei seinen Erörterungen einschlägt, ist überall dieselbe. Er geht von einem an sich richtigen Umstände aus, bauscht diesen ins Ungeheuerliche auf und zieht daraus die wunderbarste« Trugschlüsse. Um die menschliche Gesellschaft vor Übelthaten zu schützen, ist die Be¬ strafung der Übelthäter eine Notwendigkeit. Das natürliche Gerechtigkeits¬ gefühl verlangt, daß die Strafe nach der Schwere der That bemessen werde. Um hierbei einen festern Anhalt zu haben, hat man die Übelthaten unter die Begriffe bestimmter Verbreche» oder Vergehe» gebracht. Wir ilttterscheide»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/170>, abgerufen am 28.09.2024.