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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Neueste der Sttafrechlswissenschaft

die endgiltige Bestimmung der Strafdauer anvertrauen. Die Zusammensetzung
dieser Ämter gewahrt thuen die volle Unabhängigkeit des Richters, sichert ihnen
aber zugleich die stete und befruchtende Berührung mit dem Leben des Volkes
überhaupt, der Verbrecherwelt insbesondre."

Wer sind min, wird man staunend fragen, die Männer, die mit solcher
gottbegnadeter Weisheit das eigentliche Schicksal der ihnen vom Richter nur
in Bausch und Bogen zugewiesenen Übelthäter bestimmen sollen? Man höre.
Das Strafvollzngsamt soll bestehen ans dein (fachmännisch gebildeten) Leiter
der Strafanstalt, dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter und zwei von
der Regierung ernannten Vertrauensmännern, bei deren Ernennung besonders
ans die Leiter der Schntzfiirsorgevereine nud die Vertreter der Selbstverwaltungs¬
körper Rücksicht zu nehmen wäre. "Auch die Zuziehung der strafrechtlichen
Theoretiker wäre ins Auge zu fassen; sie würde diesen die äußerst wertvolle
Gelegenheit geben, stets mit dem Leben Fühlung zu behalten, Rechtsprechung
und Strafvollzug kennen zu lernen, die Verbrecher und die Verbrechen zu
studiren."

In dieser Umwandlung der richterlichen Strafzumessung erblickt Lißzt den
"Angelpunkt zu der durchgreifende" Veränderung unsrer Strafrechtspflege."

Nun kann sich freilich Lißzt selber der Frage nicht erwehren: Was soll
denn mit den Menschen gemacht werden, die man bisher wegen bloßer Über¬
tretungen oder geringer Vergehen mit einer kürzern als sechswöchentlichen
Freiheitsstrafe belegte? Sie alle ohne weiteres zu einer Gefängnisstrafe von
sechs Wochen bis zu zwei Jahren verurteilen, geht doch nicht gut an. Also
muß etwas andres geschaffen werden. Um diese Frage zu beantworten, geht
Lißzt die möglichen Ersatzmittel für Freiheitsstrafen im einzelnen durch.

Zunächst soll die Geldstrafe in weiterin Umfange eintreten; bei Vergehen
se'it sie aber in jedem einzelnen Falle nach dein Vermögen des zu strafenden
verschieden bemessen werde". Dem Unvermögenden soll dnrch Gestaltung von
Teilzahlungen, Gewährung von Fristen, Lohnabzügen u. s. w. die allmähliche
Abtragung ermöglicht werden. Sind aber die Geldstrafen durchaus nicht bei¬
zutreiben, so dürfe in keinem Falle Freiheitsstrafe, sondern nur Zwangsarbeit
ohne Einsperrung eintreten. Nur wenn der Verurteilte die Strafarbeit ver¬
weigere, könne Einsperrung an die Stelle gesetzt werden. "Aber wohlgemerkt:
nicht unter sechs Wochen. Denn eine andre Freiheitsstrafe giebt es nicht."

Im übrigen verhält sich Lißzt gegen die meisten der sonst als Ersatz
der Freiheitsstrafe empfohlenen Strafmittel abweisend. Er verwahrt sich über¬
haupt dagegen, daß es sich ihm um eine Milderung unsers Strafsystems oder
um eine Erweiterung des richterlichen Ermessens handle. "Die Strafrahmen
unsrer Gesetzbücher sind wahrlich mehr als weit genug, und die richterliche
Strafzumessung ist die erste große Gruudlüge des herrschenden Systems." Er
erklärt sich also "mit aller Entschiedenheit" gegen die erweiterte Anwendung


Gmizbvten I 1UW ^'
Das Neueste der Sttafrechlswissenschaft

die endgiltige Bestimmung der Strafdauer anvertrauen. Die Zusammensetzung
dieser Ämter gewahrt thuen die volle Unabhängigkeit des Richters, sichert ihnen
aber zugleich die stete und befruchtende Berührung mit dem Leben des Volkes
überhaupt, der Verbrecherwelt insbesondre."

Wer sind min, wird man staunend fragen, die Männer, die mit solcher
gottbegnadeter Weisheit das eigentliche Schicksal der ihnen vom Richter nur
in Bausch und Bogen zugewiesenen Übelthäter bestimmen sollen? Man höre.
Das Strafvollzngsamt soll bestehen ans dein (fachmännisch gebildeten) Leiter
der Strafanstalt, dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter und zwei von
der Regierung ernannten Vertrauensmännern, bei deren Ernennung besonders
ans die Leiter der Schntzfiirsorgevereine nud die Vertreter der Selbstverwaltungs¬
körper Rücksicht zu nehmen wäre. „Auch die Zuziehung der strafrechtlichen
Theoretiker wäre ins Auge zu fassen; sie würde diesen die äußerst wertvolle
Gelegenheit geben, stets mit dem Leben Fühlung zu behalten, Rechtsprechung
und Strafvollzug kennen zu lernen, die Verbrecher und die Verbrechen zu
studiren."

In dieser Umwandlung der richterlichen Strafzumessung erblickt Lißzt den
„Angelpunkt zu der durchgreifende» Veränderung unsrer Strafrechtspflege."

Nun kann sich freilich Lißzt selber der Frage nicht erwehren: Was soll
denn mit den Menschen gemacht werden, die man bisher wegen bloßer Über¬
tretungen oder geringer Vergehen mit einer kürzern als sechswöchentlichen
Freiheitsstrafe belegte? Sie alle ohne weiteres zu einer Gefängnisstrafe von
sechs Wochen bis zu zwei Jahren verurteilen, geht doch nicht gut an. Also
muß etwas andres geschaffen werden. Um diese Frage zu beantworten, geht
Lißzt die möglichen Ersatzmittel für Freiheitsstrafen im einzelnen durch.

Zunächst soll die Geldstrafe in weiterin Umfange eintreten; bei Vergehen
se'it sie aber in jedem einzelnen Falle nach dein Vermögen des zu strafenden
verschieden bemessen werde». Dem Unvermögenden soll dnrch Gestaltung von
Teilzahlungen, Gewährung von Fristen, Lohnabzügen u. s. w. die allmähliche
Abtragung ermöglicht werden. Sind aber die Geldstrafen durchaus nicht bei¬
zutreiben, so dürfe in keinem Falle Freiheitsstrafe, sondern nur Zwangsarbeit
ohne Einsperrung eintreten. Nur wenn der Verurteilte die Strafarbeit ver¬
weigere, könne Einsperrung an die Stelle gesetzt werden. „Aber wohlgemerkt:
nicht unter sechs Wochen. Denn eine andre Freiheitsstrafe giebt es nicht."

Im übrigen verhält sich Lißzt gegen die meisten der sonst als Ersatz
der Freiheitsstrafe empfohlenen Strafmittel abweisend. Er verwahrt sich über¬
haupt dagegen, daß es sich ihm um eine Milderung unsers Strafsystems oder
um eine Erweiterung des richterlichen Ermessens handle. „Die Strafrahmen
unsrer Gesetzbücher sind wahrlich mehr als weit genug, und die richterliche
Strafzumessung ist die erste große Gruudlüge des herrschenden Systems." Er
erklärt sich also „mit aller Entschiedenheit" gegen die erweiterte Anwendung


Gmizbvten I 1UW ^'
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[0169] Das Neueste der Sttafrechlswissenschaft die endgiltige Bestimmung der Strafdauer anvertrauen. Die Zusammensetzung dieser Ämter gewahrt thuen die volle Unabhängigkeit des Richters, sichert ihnen aber zugleich die stete und befruchtende Berührung mit dem Leben des Volkes überhaupt, der Verbrecherwelt insbesondre." Wer sind min, wird man staunend fragen, die Männer, die mit solcher gottbegnadeter Weisheit das eigentliche Schicksal der ihnen vom Richter nur in Bausch und Bogen zugewiesenen Übelthäter bestimmen sollen? Man höre. Das Strafvollzngsamt soll bestehen ans dein (fachmännisch gebildeten) Leiter der Strafanstalt, dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter und zwei von der Regierung ernannten Vertrauensmännern, bei deren Ernennung besonders ans die Leiter der Schntzfiirsorgevereine nud die Vertreter der Selbstverwaltungs¬ körper Rücksicht zu nehmen wäre. „Auch die Zuziehung der strafrechtlichen Theoretiker wäre ins Auge zu fassen; sie würde diesen die äußerst wertvolle Gelegenheit geben, stets mit dem Leben Fühlung zu behalten, Rechtsprechung und Strafvollzug kennen zu lernen, die Verbrecher und die Verbrechen zu studiren." In dieser Umwandlung der richterlichen Strafzumessung erblickt Lißzt den „Angelpunkt zu der durchgreifende» Veränderung unsrer Strafrechtspflege." Nun kann sich freilich Lißzt selber der Frage nicht erwehren: Was soll denn mit den Menschen gemacht werden, die man bisher wegen bloßer Über¬ tretungen oder geringer Vergehen mit einer kürzern als sechswöchentlichen Freiheitsstrafe belegte? Sie alle ohne weiteres zu einer Gefängnisstrafe von sechs Wochen bis zu zwei Jahren verurteilen, geht doch nicht gut an. Also muß etwas andres geschaffen werden. Um diese Frage zu beantworten, geht Lißzt die möglichen Ersatzmittel für Freiheitsstrafen im einzelnen durch. Zunächst soll die Geldstrafe in weiterin Umfange eintreten; bei Vergehen se'it sie aber in jedem einzelnen Falle nach dein Vermögen des zu strafenden verschieden bemessen werde». Dem Unvermögenden soll dnrch Gestaltung von Teilzahlungen, Gewährung von Fristen, Lohnabzügen u. s. w. die allmähliche Abtragung ermöglicht werden. Sind aber die Geldstrafen durchaus nicht bei¬ zutreiben, so dürfe in keinem Falle Freiheitsstrafe, sondern nur Zwangsarbeit ohne Einsperrung eintreten. Nur wenn der Verurteilte die Strafarbeit ver¬ weigere, könne Einsperrung an die Stelle gesetzt werden. „Aber wohlgemerkt: nicht unter sechs Wochen. Denn eine andre Freiheitsstrafe giebt es nicht." Im übrigen verhält sich Lißzt gegen die meisten der sonst als Ersatz der Freiheitsstrafe empfohlenen Strafmittel abweisend. Er verwahrt sich über¬ haupt dagegen, daß es sich ihm um eine Milderung unsers Strafsystems oder um eine Erweiterung des richterlichen Ermessens handle. „Die Strafrahmen unsrer Gesetzbücher sind wahrlich mehr als weit genug, und die richterliche Strafzumessung ist die erste große Gruudlüge des herrschenden Systems." Er erklärt sich also „mit aller Entschiedenheit" gegen die erweiterte Anwendung Gmizbvten I 1UW ^'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/169>, abgerufen am 26.06.2024.