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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

wesentlich zum Lebensglück gehören. Diese Theologen haben einen Gott er¬
sonnen, der grausamerweise seine Geschöpfe mit unwiderstehlichen Trieben und
Begierden ausgerüstet und zugleich ihnen deren Befriedigung bei Strafe der ewigen
Höllenqual verboten haben soll. Bis auf den heutigen Tag noch halten die Theo¬
logen an ihrer verkehrten Ansicht sest, wenn sie diese auch mildern und verschleiern.
Aber jeder Genuß, durch deu weder der Genießende noch ein andrer geschädigt
wird, ist erlaubt, und jeder erlaubte Genuß ist löblich, weil er jene zufriedene
Stimmung fördert, die uns wohlwollend gegen andre macht. Die Theologen
haben noch zu lerne,?, daß unsre Begierden, die so gut zu unserm Wesen ge¬
hören wie unsre Fähigkeiten, befriedigt werden müssen, widrigenfalls der Mensch
teilweise unentwickelt bleibt und ein Krüppel wird. Die einzige Grenze im
Genießen ist, daß wir weder uns selbst noch andre schädigen. Diesseits dieser
Grenze ist alles erlaubt. Mehr noch als erlaubt, es ist notwendig. Wer seine
Natur nicht ganz entfaltet, der mag ein Mönch, er mag ein Heiliger sein, ein
Mensch ist er nicht. Und mehr als je bedürfen wir heute ganzer Menschen.
Kein früheres Zeitalter hat ein solches Stück Arbeit vor sich gehabt wie wir;
und um diese Arbeit zu leisten, brauchen wir gesunde, kräftige Menschen, die
alle Lebensverrichtungen ohne Einschränkung und Behinderung ausüben. Wir
würden der Last unsrer Aufgabe erliegen, wollten wir unsre Lebenskraft und
unsern Lebensmut durch die theologischen Vorstellungen früherer Zeiten nieder¬
drücken, brechen und schwächen lassen."

So ungefähr Buckle. Ich habe frei übersetzt und zusammengezogen. Unser
heutiges Geschlecht wird weniger von theologischen Vorurteilen gelähmt, als
vom Materialismus, der durch Leugnung des Zwecks die Antriebe zur Thätigkeit
raubt, und von jenem Pessimismus, der uns unsre Genüsse als Illusionen
verleidet, uns unsre großen und kleinen Widerwärtigkeiten hypochondrisch zer¬
gliedern lehrt und die unmögliche Zumutung stellt, daß wir Pflichten erfüllen
sollen, um die zukünftige "Erlösung des Unbewußten" anzubahnen. Es ist die
höchste Zeit, daß ein frischer optimistischer Luftzug in diesen faulen Dunstkreis
hineinfahre, sonst erliegen alle passiven Gemüter der Selbstinordmanie, während
die thätigem in ihrer Verbitterung einem Vernichtungskampfe gegen die wirklich
oder scheinbar glücklichen zustreben. Wer weder glücklich ist noch auf Glück
hofft, der ist nicht gut und thut nichts Gutes. Auf eine wichtige Frage bleibt
Buckle die Antwort schuldig, oder vielmehr er wirft sie nicht auf: in welcher
Beziehung der Fortschritt der Zivilisation zum Lebenszwecke des Einzelnen stehe.
Wir merken sie hier einstweilen für spätere Beantwortung vor.




Buckle und Darwin

wesentlich zum Lebensglück gehören. Diese Theologen haben einen Gott er¬
sonnen, der grausamerweise seine Geschöpfe mit unwiderstehlichen Trieben und
Begierden ausgerüstet und zugleich ihnen deren Befriedigung bei Strafe der ewigen
Höllenqual verboten haben soll. Bis auf den heutigen Tag noch halten die Theo¬
logen an ihrer verkehrten Ansicht sest, wenn sie diese auch mildern und verschleiern.
Aber jeder Genuß, durch deu weder der Genießende noch ein andrer geschädigt
wird, ist erlaubt, und jeder erlaubte Genuß ist löblich, weil er jene zufriedene
Stimmung fördert, die uns wohlwollend gegen andre macht. Die Theologen
haben noch zu lerne,?, daß unsre Begierden, die so gut zu unserm Wesen ge¬
hören wie unsre Fähigkeiten, befriedigt werden müssen, widrigenfalls der Mensch
teilweise unentwickelt bleibt und ein Krüppel wird. Die einzige Grenze im
Genießen ist, daß wir weder uns selbst noch andre schädigen. Diesseits dieser
Grenze ist alles erlaubt. Mehr noch als erlaubt, es ist notwendig. Wer seine
Natur nicht ganz entfaltet, der mag ein Mönch, er mag ein Heiliger sein, ein
Mensch ist er nicht. Und mehr als je bedürfen wir heute ganzer Menschen.
Kein früheres Zeitalter hat ein solches Stück Arbeit vor sich gehabt wie wir;
und um diese Arbeit zu leisten, brauchen wir gesunde, kräftige Menschen, die
alle Lebensverrichtungen ohne Einschränkung und Behinderung ausüben. Wir
würden der Last unsrer Aufgabe erliegen, wollten wir unsre Lebenskraft und
unsern Lebensmut durch die theologischen Vorstellungen früherer Zeiten nieder¬
drücken, brechen und schwächen lassen."

So ungefähr Buckle. Ich habe frei übersetzt und zusammengezogen. Unser
heutiges Geschlecht wird weniger von theologischen Vorurteilen gelähmt, als
vom Materialismus, der durch Leugnung des Zwecks die Antriebe zur Thätigkeit
raubt, und von jenem Pessimismus, der uns unsre Genüsse als Illusionen
verleidet, uns unsre großen und kleinen Widerwärtigkeiten hypochondrisch zer¬
gliedern lehrt und die unmögliche Zumutung stellt, daß wir Pflichten erfüllen
sollen, um die zukünftige „Erlösung des Unbewußten" anzubahnen. Es ist die
höchste Zeit, daß ein frischer optimistischer Luftzug in diesen faulen Dunstkreis
hineinfahre, sonst erliegen alle passiven Gemüter der Selbstinordmanie, während
die thätigem in ihrer Verbitterung einem Vernichtungskampfe gegen die wirklich
oder scheinbar glücklichen zustreben. Wer weder glücklich ist noch auf Glück
hofft, der ist nicht gut und thut nichts Gutes. Auf eine wichtige Frage bleibt
Buckle die Antwort schuldig, oder vielmehr er wirft sie nicht auf: in welcher
Beziehung der Fortschritt der Zivilisation zum Lebenszwecke des Einzelnen stehe.
Wir merken sie hier einstweilen für spätere Beantwortung vor.




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[0612] Buckle und Darwin wesentlich zum Lebensglück gehören. Diese Theologen haben einen Gott er¬ sonnen, der grausamerweise seine Geschöpfe mit unwiderstehlichen Trieben und Begierden ausgerüstet und zugleich ihnen deren Befriedigung bei Strafe der ewigen Höllenqual verboten haben soll. Bis auf den heutigen Tag noch halten die Theo¬ logen an ihrer verkehrten Ansicht sest, wenn sie diese auch mildern und verschleiern. Aber jeder Genuß, durch deu weder der Genießende noch ein andrer geschädigt wird, ist erlaubt, und jeder erlaubte Genuß ist löblich, weil er jene zufriedene Stimmung fördert, die uns wohlwollend gegen andre macht. Die Theologen haben noch zu lerne,?, daß unsre Begierden, die so gut zu unserm Wesen ge¬ hören wie unsre Fähigkeiten, befriedigt werden müssen, widrigenfalls der Mensch teilweise unentwickelt bleibt und ein Krüppel wird. Die einzige Grenze im Genießen ist, daß wir weder uns selbst noch andre schädigen. Diesseits dieser Grenze ist alles erlaubt. Mehr noch als erlaubt, es ist notwendig. Wer seine Natur nicht ganz entfaltet, der mag ein Mönch, er mag ein Heiliger sein, ein Mensch ist er nicht. Und mehr als je bedürfen wir heute ganzer Menschen. Kein früheres Zeitalter hat ein solches Stück Arbeit vor sich gehabt wie wir; und um diese Arbeit zu leisten, brauchen wir gesunde, kräftige Menschen, die alle Lebensverrichtungen ohne Einschränkung und Behinderung ausüben. Wir würden der Last unsrer Aufgabe erliegen, wollten wir unsre Lebenskraft und unsern Lebensmut durch die theologischen Vorstellungen früherer Zeiten nieder¬ drücken, brechen und schwächen lassen." So ungefähr Buckle. Ich habe frei übersetzt und zusammengezogen. Unser heutiges Geschlecht wird weniger von theologischen Vorurteilen gelähmt, als vom Materialismus, der durch Leugnung des Zwecks die Antriebe zur Thätigkeit raubt, und von jenem Pessimismus, der uns unsre Genüsse als Illusionen verleidet, uns unsre großen und kleinen Widerwärtigkeiten hypochondrisch zer¬ gliedern lehrt und die unmögliche Zumutung stellt, daß wir Pflichten erfüllen sollen, um die zukünftige „Erlösung des Unbewußten" anzubahnen. Es ist die höchste Zeit, daß ein frischer optimistischer Luftzug in diesen faulen Dunstkreis hineinfahre, sonst erliegen alle passiven Gemüter der Selbstinordmanie, während die thätigem in ihrer Verbitterung einem Vernichtungskampfe gegen die wirklich oder scheinbar glücklichen zustreben. Wer weder glücklich ist noch auf Glück hofft, der ist nicht gut und thut nichts Gutes. Auf eine wichtige Frage bleibt Buckle die Antwort schuldig, oder vielmehr er wirft sie nicht auf: in welcher Beziehung der Fortschritt der Zivilisation zum Lebenszwecke des Einzelnen stehe. Wir merken sie hier einstweilen für spätere Beantwortung vor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/612>, abgerufen am 30.06.2024.