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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

Buckle wirft die Frage nach dem höchsten Daseinszwecke nicht auf, aber
mich allem, was er über Unsterblichkeit, Weltplan und die nähern Zwecke sagt,
setzt er ihn in die Vollendung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar in
der Weise, daß die diesseitige Vollendung den Maßstab für die jenseitige abgiebt.
Er ist Optimist und Endämonist, wie aus folgender Stelle im 19. Kapitel her¬
vorgeht: "Völker wie Individuen können sich nur in dem Maße entwickeln,
als sie nlle Lebensverrichtungen kühn und furchtlos ausüben. Diese Ver¬
richtungen erhöhen teils das geistige, teils das leibliche Wohlbefinden. Ein
ganz vollkommner Mensch würde das höchstmögliche Maß von Befriedigungen
genießen, das mit seinem und der übrigen Menschen beständigen Glück ver¬
träglich ist. Aber da es keine vollkommnen Menschen giebt, so verlieren wir
alle mehr oder weniger das Gleichgewicht nach der einen oder der andern Seite
hin, indem wir entweder dem Leibe oder dem Geiste zu viel einräumen. ^Ein¬
zuräumen geneigt sind, würde ich lieber sagen. Denn neun Zehntel aller
Menschen räumen ihrem Leibe nicht halb so viel ein, als sie ihm einräumen
würden, wenn sie mehr Geld und weniger Polizei hätten; und die meisten
Gymnasiasten würden mit Vergnügen auf einen Teil der Gelehrsamkeit ver¬
zichten, die ihnen in den Kopf gestopft wird.^ Daß die geistigen Genüsse höher
stehen als die leiblichen, bezweifelt niemand; allein auf einen für die geistigen
empfänglichen Menschen kommen hundert, die für die leiblichen empfänglich sind.
!"Mehr," muß man beidemal vor "empfänglich" ergänzen; denn Personen,
die für die eine oder die andre Art ganz unempfänglich wären, giebt es unter
den gesunden überhaupt nicht. Auch die berühmtesten Geistesheroen wissen
einen guten Tropfen und einen guten Braten zu würdigen, und selbst ganz
rohe Menschen empfinden mitunter Wohlgefallen an schönen Gegenständen und
sind den Regungen der Freundschaft, der Eltern- nud Kinderliebe zugänglich,
fühlen sich auch durch vollbrachte Leistungen befriedigt.^ Daher haben die sinn¬
lichen Genüsse einen viel größern Wert, als die Philosophen gewöhnlich zugeben,
die ihrem thörichten Vorurteile gemäß das Mögliche thun, um das Maß der
Glückseligkeit zu vermindern, dessen die Menschheit fähig ist. Diese Philosophen
vergessen, daß wir so gut einen Leib wie eine Seele haben, daß die große
Mehrzahl der Menschen mehr mit dem Körper als mit dem Geiste thätig ist,
und sie begehen den ungeheuerlichen Irrtum, jene Klasse von Verrichtungen
gering zu schätzen, für die neunundneunzig Hundertstel der Menschen am
geeignetsten sind. Die gerechte Strafe für diese Verirrung besteht darin, daß
mit Ausnahme einiger einsamen Bücherwürmer niemand ihre Schriften liest,
niemand sich um ihre Systeme kümmert, und daß sie zum Glück für die Mensch¬
heit von jedem Einfluß aufs wirkliche Leben ausgeschlossen bleiben. Das
Unheil jedoch, das sie anzurichten zu ohnmächtig waren, haben die Theologen
wirklich angerichtet, indem sie ihr Ansehen und ihre Macht dazu mißbrauchtem
Genüsse als unerlaubt zu verbieten, die für die ungeheure Mehrzahl der Menschen


Buckle und Darwin

Buckle wirft die Frage nach dem höchsten Daseinszwecke nicht auf, aber
mich allem, was er über Unsterblichkeit, Weltplan und die nähern Zwecke sagt,
setzt er ihn in die Vollendung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar in
der Weise, daß die diesseitige Vollendung den Maßstab für die jenseitige abgiebt.
Er ist Optimist und Endämonist, wie aus folgender Stelle im 19. Kapitel her¬
vorgeht: „Völker wie Individuen können sich nur in dem Maße entwickeln,
als sie nlle Lebensverrichtungen kühn und furchtlos ausüben. Diese Ver¬
richtungen erhöhen teils das geistige, teils das leibliche Wohlbefinden. Ein
ganz vollkommner Mensch würde das höchstmögliche Maß von Befriedigungen
genießen, das mit seinem und der übrigen Menschen beständigen Glück ver¬
träglich ist. Aber da es keine vollkommnen Menschen giebt, so verlieren wir
alle mehr oder weniger das Gleichgewicht nach der einen oder der andern Seite
hin, indem wir entweder dem Leibe oder dem Geiste zu viel einräumen. ^Ein¬
zuräumen geneigt sind, würde ich lieber sagen. Denn neun Zehntel aller
Menschen räumen ihrem Leibe nicht halb so viel ein, als sie ihm einräumen
würden, wenn sie mehr Geld und weniger Polizei hätten; und die meisten
Gymnasiasten würden mit Vergnügen auf einen Teil der Gelehrsamkeit ver¬
zichten, die ihnen in den Kopf gestopft wird.^ Daß die geistigen Genüsse höher
stehen als die leiblichen, bezweifelt niemand; allein auf einen für die geistigen
empfänglichen Menschen kommen hundert, die für die leiblichen empfänglich sind.
!»Mehr,« muß man beidemal vor »empfänglich« ergänzen; denn Personen,
die für die eine oder die andre Art ganz unempfänglich wären, giebt es unter
den gesunden überhaupt nicht. Auch die berühmtesten Geistesheroen wissen
einen guten Tropfen und einen guten Braten zu würdigen, und selbst ganz
rohe Menschen empfinden mitunter Wohlgefallen an schönen Gegenständen und
sind den Regungen der Freundschaft, der Eltern- nud Kinderliebe zugänglich,
fühlen sich auch durch vollbrachte Leistungen befriedigt.^ Daher haben die sinn¬
lichen Genüsse einen viel größern Wert, als die Philosophen gewöhnlich zugeben,
die ihrem thörichten Vorurteile gemäß das Mögliche thun, um das Maß der
Glückseligkeit zu vermindern, dessen die Menschheit fähig ist. Diese Philosophen
vergessen, daß wir so gut einen Leib wie eine Seele haben, daß die große
Mehrzahl der Menschen mehr mit dem Körper als mit dem Geiste thätig ist,
und sie begehen den ungeheuerlichen Irrtum, jene Klasse von Verrichtungen
gering zu schätzen, für die neunundneunzig Hundertstel der Menschen am
geeignetsten sind. Die gerechte Strafe für diese Verirrung besteht darin, daß
mit Ausnahme einiger einsamen Bücherwürmer niemand ihre Schriften liest,
niemand sich um ihre Systeme kümmert, und daß sie zum Glück für die Mensch¬
heit von jedem Einfluß aufs wirkliche Leben ausgeschlossen bleiben. Das
Unheil jedoch, das sie anzurichten zu ohnmächtig waren, haben die Theologen
wirklich angerichtet, indem sie ihr Ansehen und ihre Macht dazu mißbrauchtem
Genüsse als unerlaubt zu verbieten, die für die ungeheure Mehrzahl der Menschen


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[0611] Buckle und Darwin Buckle wirft die Frage nach dem höchsten Daseinszwecke nicht auf, aber mich allem, was er über Unsterblichkeit, Weltplan und die nähern Zwecke sagt, setzt er ihn in die Vollendung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar in der Weise, daß die diesseitige Vollendung den Maßstab für die jenseitige abgiebt. Er ist Optimist und Endämonist, wie aus folgender Stelle im 19. Kapitel her¬ vorgeht: „Völker wie Individuen können sich nur in dem Maße entwickeln, als sie nlle Lebensverrichtungen kühn und furchtlos ausüben. Diese Ver¬ richtungen erhöhen teils das geistige, teils das leibliche Wohlbefinden. Ein ganz vollkommner Mensch würde das höchstmögliche Maß von Befriedigungen genießen, das mit seinem und der übrigen Menschen beständigen Glück ver¬ träglich ist. Aber da es keine vollkommnen Menschen giebt, so verlieren wir alle mehr oder weniger das Gleichgewicht nach der einen oder der andern Seite hin, indem wir entweder dem Leibe oder dem Geiste zu viel einräumen. ^Ein¬ zuräumen geneigt sind, würde ich lieber sagen. Denn neun Zehntel aller Menschen räumen ihrem Leibe nicht halb so viel ein, als sie ihm einräumen würden, wenn sie mehr Geld und weniger Polizei hätten; und die meisten Gymnasiasten würden mit Vergnügen auf einen Teil der Gelehrsamkeit ver¬ zichten, die ihnen in den Kopf gestopft wird.^ Daß die geistigen Genüsse höher stehen als die leiblichen, bezweifelt niemand; allein auf einen für die geistigen empfänglichen Menschen kommen hundert, die für die leiblichen empfänglich sind. !»Mehr,« muß man beidemal vor »empfänglich« ergänzen; denn Personen, die für die eine oder die andre Art ganz unempfänglich wären, giebt es unter den gesunden überhaupt nicht. Auch die berühmtesten Geistesheroen wissen einen guten Tropfen und einen guten Braten zu würdigen, und selbst ganz rohe Menschen empfinden mitunter Wohlgefallen an schönen Gegenständen und sind den Regungen der Freundschaft, der Eltern- nud Kinderliebe zugänglich, fühlen sich auch durch vollbrachte Leistungen befriedigt.^ Daher haben die sinn¬ lichen Genüsse einen viel größern Wert, als die Philosophen gewöhnlich zugeben, die ihrem thörichten Vorurteile gemäß das Mögliche thun, um das Maß der Glückseligkeit zu vermindern, dessen die Menschheit fähig ist. Diese Philosophen vergessen, daß wir so gut einen Leib wie eine Seele haben, daß die große Mehrzahl der Menschen mehr mit dem Körper als mit dem Geiste thätig ist, und sie begehen den ungeheuerlichen Irrtum, jene Klasse von Verrichtungen gering zu schätzen, für die neunundneunzig Hundertstel der Menschen am geeignetsten sind. Die gerechte Strafe für diese Verirrung besteht darin, daß mit Ausnahme einiger einsamen Bücherwürmer niemand ihre Schriften liest, niemand sich um ihre Systeme kümmert, und daß sie zum Glück für die Mensch¬ heit von jedem Einfluß aufs wirkliche Leben ausgeschlossen bleiben. Das Unheil jedoch, das sie anzurichten zu ohnmächtig waren, haben die Theologen wirklich angerichtet, indem sie ihr Ansehen und ihre Macht dazu mißbrauchtem Genüsse als unerlaubt zu verbieten, die für die ungeheure Mehrzahl der Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/611>, abgerufen am 30.06.2024.