Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

fallen in einem Lande und einer Zeit, wo die Staatsmänner Skeptiker und die
Theologen Jauscuisten waren!

Diese hier stark abgekürzte Darlegung fordert den Widerspruch in vielen
Punkten heraus, Unter anderm lehrt die Geschichte wie die Erfahrung der Gegen¬
wart, daß der Katholizismus mindestens ebenso oft die Religion der Armen wie
die der Reichen ist. Auch hat Buckle hier und an der früher erwähnten Stelle,
wo er den Protestantismus als höhere Entwicklungsstufe des Christentums dem
Katholizismus entgegensetzt, einen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, der
für die Gestaltung und Wahl der Religion von entscheidender Wichtigkeit ist:
den Unterschied der Volksseeleu, der bewirkt, daß der Katholizismus den Ro¬
manen, der Protestantismus den Germanen innerlich verwandter ist. Aber
kein Denkender wird verkennen, von welcher Wichtigkeit trotzdem die aufgestellten
Gesichtspunkte sind.

Im 15. und 17. Kapitel zeigt er, wie allgemeine Ursachen über jedes
Hindernis triumphiren, das die entgegenwirkenden Bestrebungen einzelner ihnen
in den Weg legen. An der ersten Stelle legt er dar, wie den Spaniern weder
die alten Munizipalfreiheiten ihrer Städte noch die Aufklärungsversnche der
Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts etwas nützen konnten, weil beide keine
Wurzeln im Volke hatten. An der zweiten Stelle zählt er die Mittel ans,
durch die Jnkob I. vou Schottland sich vergebens die monarchische Gewalt zu
befestigen bemühte, und fährt dann fort: "Wie fast alle Staatsmänner, über¬
schätzte er die Wirkungskraft politischer Maßregeln. Obrigkeiten und Gesetzgeber
vermögen die Krankheiten des Volkskörpers eine Zeit lang den Augen zu ver¬
bergen, Heilen können sie sie nicht. Allgemeine Übelstände beruhen auf allge¬
meinen Ursachen, und diese sind der politischen Heilkunst unzugänglich. Nur
die Anzeichen vermag der Arzt zu fassen, die Krankheit selbst spottet seiner
Bemühungen und wird durch die Behandlung gewöhnlich bösartiger." Endlich
möchte ich noch an die vortreffliche Erörterung des Verhältnisses von
Theorie und Praxis im 20. Kapitel erinnern, wo er darthut, daß zwar das
Theoretisiren in der Praxis ebenso gefährlich wie in der Wissenschaft notwendig
ist, daß aber jene praktischen Leute, die jede Theorie verachten und verspotten,
meistens selber uur Sklaven einer einseitigen, blind geglaubten und beharrlich
festgehaltenen Theorie siud.

Die mehrerwähnte Analyse des schottischen Volksgeistes, der die letzten
beiden Kapitel des Werkes gewidmet sind, darf keiner unberücksichtigt lassen,
der auf den Namen eines Historikers Anspruch macht. Dieser Teil ist frei
von jenen Einseitigkeiten, schwach begründeten Verallgemeinerungen und schiefen
Urteilen, die in den übrigen Kapiteln Wohl vorkommen, weil Buckle den Stoff
dafür vollständig beisammen hat, durchdringt und beherrscht. Die hinreißende
Schönheit der Darstellung und die Wärme eines edeln Gemüts, von der sie
durchglüht ist, machen zusammen mit dem gediegnen Inhalt dieses Bruchstück


fallen in einem Lande und einer Zeit, wo die Staatsmänner Skeptiker und die
Theologen Jauscuisten waren!

Diese hier stark abgekürzte Darlegung fordert den Widerspruch in vielen
Punkten heraus, Unter anderm lehrt die Geschichte wie die Erfahrung der Gegen¬
wart, daß der Katholizismus mindestens ebenso oft die Religion der Armen wie
die der Reichen ist. Auch hat Buckle hier und an der früher erwähnten Stelle,
wo er den Protestantismus als höhere Entwicklungsstufe des Christentums dem
Katholizismus entgegensetzt, einen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, der
für die Gestaltung und Wahl der Religion von entscheidender Wichtigkeit ist:
den Unterschied der Volksseeleu, der bewirkt, daß der Katholizismus den Ro¬
manen, der Protestantismus den Germanen innerlich verwandter ist. Aber
kein Denkender wird verkennen, von welcher Wichtigkeit trotzdem die aufgestellten
Gesichtspunkte sind.

Im 15. und 17. Kapitel zeigt er, wie allgemeine Ursachen über jedes
Hindernis triumphiren, das die entgegenwirkenden Bestrebungen einzelner ihnen
in den Weg legen. An der ersten Stelle legt er dar, wie den Spaniern weder
die alten Munizipalfreiheiten ihrer Städte noch die Aufklärungsversnche der
Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts etwas nützen konnten, weil beide keine
Wurzeln im Volke hatten. An der zweiten Stelle zählt er die Mittel ans,
durch die Jnkob I. vou Schottland sich vergebens die monarchische Gewalt zu
befestigen bemühte, und fährt dann fort: „Wie fast alle Staatsmänner, über¬
schätzte er die Wirkungskraft politischer Maßregeln. Obrigkeiten und Gesetzgeber
vermögen die Krankheiten des Volkskörpers eine Zeit lang den Augen zu ver¬
bergen, Heilen können sie sie nicht. Allgemeine Übelstände beruhen auf allge¬
meinen Ursachen, und diese sind der politischen Heilkunst unzugänglich. Nur
die Anzeichen vermag der Arzt zu fassen, die Krankheit selbst spottet seiner
Bemühungen und wird durch die Behandlung gewöhnlich bösartiger." Endlich
möchte ich noch an die vortreffliche Erörterung des Verhältnisses von
Theorie und Praxis im 20. Kapitel erinnern, wo er darthut, daß zwar das
Theoretisiren in der Praxis ebenso gefährlich wie in der Wissenschaft notwendig
ist, daß aber jene praktischen Leute, die jede Theorie verachten und verspotten,
meistens selber uur Sklaven einer einseitigen, blind geglaubten und beharrlich
festgehaltenen Theorie siud.

Die mehrerwähnte Analyse des schottischen Volksgeistes, der die letzten
beiden Kapitel des Werkes gewidmet sind, darf keiner unberücksichtigt lassen,
der auf den Namen eines Historikers Anspruch macht. Dieser Teil ist frei
von jenen Einseitigkeiten, schwach begründeten Verallgemeinerungen und schiefen
Urteilen, die in den übrigen Kapiteln Wohl vorkommen, weil Buckle den Stoff
dafür vollständig beisammen hat, durchdringt und beherrscht. Die hinreißende
Schönheit der Darstellung und die Wärme eines edeln Gemüts, von der sie
durchglüht ist, machen zusammen mit dem gediegnen Inhalt dieses Bruchstück


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0608" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206607"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2003" prev="#ID_2002"> fallen in einem Lande und einer Zeit, wo die Staatsmänner Skeptiker und die<lb/>
Theologen Jauscuisten waren!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2004"> Diese hier stark abgekürzte Darlegung fordert den Widerspruch in vielen<lb/>
Punkten heraus, Unter anderm lehrt die Geschichte wie die Erfahrung der Gegen¬<lb/>
wart, daß der Katholizismus mindestens ebenso oft die Religion der Armen wie<lb/>
die der Reichen ist. Auch hat Buckle hier und an der früher erwähnten Stelle,<lb/>
wo er den Protestantismus als höhere Entwicklungsstufe des Christentums dem<lb/>
Katholizismus entgegensetzt, einen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, der<lb/>
für die Gestaltung und Wahl der Religion von entscheidender Wichtigkeit ist:<lb/>
den Unterschied der Volksseeleu, der bewirkt, daß der Katholizismus den Ro¬<lb/>
manen, der Protestantismus den Germanen innerlich verwandter ist. Aber<lb/>
kein Denkender wird verkennen, von welcher Wichtigkeit trotzdem die aufgestellten<lb/>
Gesichtspunkte sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2005"> Im 15. und 17. Kapitel zeigt er, wie allgemeine Ursachen über jedes<lb/>
Hindernis triumphiren, das die entgegenwirkenden Bestrebungen einzelner ihnen<lb/>
in den Weg legen. An der ersten Stelle legt er dar, wie den Spaniern weder<lb/>
die alten Munizipalfreiheiten ihrer Städte noch die Aufklärungsversnche der<lb/>
Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts etwas nützen konnten, weil beide keine<lb/>
Wurzeln im Volke hatten. An der zweiten Stelle zählt er die Mittel ans,<lb/>
durch die Jnkob I. vou Schottland sich vergebens die monarchische Gewalt zu<lb/>
befestigen bemühte, und fährt dann fort: &#x201E;Wie fast alle Staatsmänner, über¬<lb/>
schätzte er die Wirkungskraft politischer Maßregeln. Obrigkeiten und Gesetzgeber<lb/>
vermögen die Krankheiten des Volkskörpers eine Zeit lang den Augen zu ver¬<lb/>
bergen, Heilen können sie sie nicht. Allgemeine Übelstände beruhen auf allge¬<lb/>
meinen Ursachen, und diese sind der politischen Heilkunst unzugänglich. Nur<lb/>
die Anzeichen vermag der Arzt zu fassen, die Krankheit selbst spottet seiner<lb/>
Bemühungen und wird durch die Behandlung gewöhnlich bösartiger." Endlich<lb/>
möchte ich noch an die vortreffliche Erörterung des Verhältnisses von<lb/>
Theorie und Praxis im 20. Kapitel erinnern, wo er darthut, daß zwar das<lb/>
Theoretisiren in der Praxis ebenso gefährlich wie in der Wissenschaft notwendig<lb/>
ist, daß aber jene praktischen Leute, die jede Theorie verachten und verspotten,<lb/>
meistens selber uur Sklaven einer einseitigen, blind geglaubten und beharrlich<lb/>
festgehaltenen Theorie siud.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2006" next="#ID_2007"> Die mehrerwähnte Analyse des schottischen Volksgeistes, der die letzten<lb/>
beiden Kapitel des Werkes gewidmet sind, darf keiner unberücksichtigt lassen,<lb/>
der auf den Namen eines Historikers Anspruch macht. Dieser Teil ist frei<lb/>
von jenen Einseitigkeiten, schwach begründeten Verallgemeinerungen und schiefen<lb/>
Urteilen, die in den übrigen Kapiteln Wohl vorkommen, weil Buckle den Stoff<lb/>
dafür vollständig beisammen hat, durchdringt und beherrscht. Die hinreißende<lb/>
Schönheit der Darstellung und die Wärme eines edeln Gemüts, von der sie<lb/>
durchglüht ist, machen zusammen mit dem gediegnen Inhalt dieses Bruchstück</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0608] fallen in einem Lande und einer Zeit, wo die Staatsmänner Skeptiker und die Theologen Jauscuisten waren! Diese hier stark abgekürzte Darlegung fordert den Widerspruch in vielen Punkten heraus, Unter anderm lehrt die Geschichte wie die Erfahrung der Gegen¬ wart, daß der Katholizismus mindestens ebenso oft die Religion der Armen wie die der Reichen ist. Auch hat Buckle hier und an der früher erwähnten Stelle, wo er den Protestantismus als höhere Entwicklungsstufe des Christentums dem Katholizismus entgegensetzt, einen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, der für die Gestaltung und Wahl der Religion von entscheidender Wichtigkeit ist: den Unterschied der Volksseeleu, der bewirkt, daß der Katholizismus den Ro¬ manen, der Protestantismus den Germanen innerlich verwandter ist. Aber kein Denkender wird verkennen, von welcher Wichtigkeit trotzdem die aufgestellten Gesichtspunkte sind. Im 15. und 17. Kapitel zeigt er, wie allgemeine Ursachen über jedes Hindernis triumphiren, das die entgegenwirkenden Bestrebungen einzelner ihnen in den Weg legen. An der ersten Stelle legt er dar, wie den Spaniern weder die alten Munizipalfreiheiten ihrer Städte noch die Aufklärungsversnche der Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts etwas nützen konnten, weil beide keine Wurzeln im Volke hatten. An der zweiten Stelle zählt er die Mittel ans, durch die Jnkob I. vou Schottland sich vergebens die monarchische Gewalt zu befestigen bemühte, und fährt dann fort: „Wie fast alle Staatsmänner, über¬ schätzte er die Wirkungskraft politischer Maßregeln. Obrigkeiten und Gesetzgeber vermögen die Krankheiten des Volkskörpers eine Zeit lang den Augen zu ver¬ bergen, Heilen können sie sie nicht. Allgemeine Übelstände beruhen auf allge¬ meinen Ursachen, und diese sind der politischen Heilkunst unzugänglich. Nur die Anzeichen vermag der Arzt zu fassen, die Krankheit selbst spottet seiner Bemühungen und wird durch die Behandlung gewöhnlich bösartiger." Endlich möchte ich noch an die vortreffliche Erörterung des Verhältnisses von Theorie und Praxis im 20. Kapitel erinnern, wo er darthut, daß zwar das Theoretisiren in der Praxis ebenso gefährlich wie in der Wissenschaft notwendig ist, daß aber jene praktischen Leute, die jede Theorie verachten und verspotten, meistens selber uur Sklaven einer einseitigen, blind geglaubten und beharrlich festgehaltenen Theorie siud. Die mehrerwähnte Analyse des schottischen Volksgeistes, der die letzten beiden Kapitel des Werkes gewidmet sind, darf keiner unberücksichtigt lassen, der auf den Namen eines Historikers Anspruch macht. Dieser Teil ist frei von jenen Einseitigkeiten, schwach begründeten Verallgemeinerungen und schiefen Urteilen, die in den übrigen Kapiteln Wohl vorkommen, weil Buckle den Stoff dafür vollständig beisammen hat, durchdringt und beherrscht. Die hinreißende Schönheit der Darstellung und die Wärme eines edeln Gemüts, von der sie durchglüht ist, machen zusammen mit dem gediegnen Inhalt dieses Bruchstück

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/608
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/608>, abgerufen am 30.06.2024.