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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Endlich, eines Abends, als sie lange so bei einander gesessen hatten, und
das Licht fast herabgebrannt war, nahm er, wie in Gedanken, ihre Hand und
fing an, mit ihren Fingern zu spielen. Sie blickte ein wenig verwundert zu
ihm hinab, legte jedoch kein weiteres Gewicht darauf, sondern lächelte sogar
leise, als er nach einer Weile ihre Hand sinken ließ und sie verlegen, wie um
Verzeihung bittend, ansah. Gleich darauf aber war es ihr, als rückte er ihr
heimlich näher, und als er endlich seinen Arm um ihren Leib schlang und sie
dabei mit einem seltsamen, zitternden Lächeln ansah, da flog eine flüchtige Röte
über ihre Wangen. Sie hätte vor Angst schreien können.

Sie hatte Kräfte wie ein Mann und hätte ihn wie einen Handschuh von
sich schleudern können. Aber was war es, das sich in diesem Augenblick wie
lähmend auf sie legte und sie zwang, sich diesem häßlichen, kleinen Menschen
wie ein willenloses Ding hinzugeben? Jedesmal, wenn sie später in
ihren vielen schlaflosen Nächten und trüben Tagen an diese Stunde zurückdachte,
faßte sie es weniger und weniger. Es war, als hätte sie unter einem Zauber-
bann gelegen. Von dem Augenblick an, wo sie sich von seinein Arme zu ihm
hingezogen fühlte, hatte sie alle Besinnung verlöre". Vou dem, was dann
folgte, wußte sie nichts, gar nichts, so plötzlich und unerwartet war es über
sie gekommen.

Merkwürdigerweise sollte dies Jakobs letzter Besuch im Baldervder Fähr¬
kruge sein. Schon im Spätherbst drang das Gerücht her, daß man ihn in
einem Moor auf Fünen gefunden habe, ausgeplündert mit zerspaltenem Schädel.
Ein Hopfenhändler, der ihn genau gekannt haben wollte und, wie er behauptete,
der Beerdigung beigewohnt hatte, überbrachte die Nachricht. So konnte denn
kein Zweifel an der Richtigkeit der Sache sein. Aber die allgemeine Auf¬
merksamkeit nahm schnell eine andre Richtung, denn an demselben Tage war
Ellen plötzlich spurlos verschwunden.

Sie war zuletzt auf ihrem gewöhnlichen Platz in einer Ecke des Gast¬
zimmers gesehen worden. Bei der Erzählung des Hvpfeuhändlers hatte sie
sich leichenblaß vou ihrem Stuhl erhoben und war, seitdem nicht zu finden
gewesen. Man sandte Boten nach Osten und Westen, man verteilte sich im
Walde und rief. Als die Dämmerung hereinbrach, liefen Scharen mit Laternen
und Stangen um den See herum, aber alles vergebens. Erst spät in der
Nacht fand mau sie auf einem abgeschlossenen Bodenraum, wo sie einem kleinen
wachsgelben Dinge mit rotem Haar und schwarzen Augen daS Leben gegeben
hatte, einem Wesen, dessen Dnsein sie acht Monate hindurch ängstlich vor ihrer
Umgebung verheimlicht hatte. Der alte Vater, der Einzige vielleicht, der Unrat
gemerkt hatte, kam gerade rechtzeitig genug, um dem Kinde bei dem Eintritt
ins Leben seinen Fluch zu schenken.

Das war eine ungewöhnliche Überraschung! Mau kauu wohl behaupten,
daß seit vielen Jahren kein "Fall" dort in der Gegend so viel Aufsehen erregt


Endlich, eines Abends, als sie lange so bei einander gesessen hatten, und
das Licht fast herabgebrannt war, nahm er, wie in Gedanken, ihre Hand und
fing an, mit ihren Fingern zu spielen. Sie blickte ein wenig verwundert zu
ihm hinab, legte jedoch kein weiteres Gewicht darauf, sondern lächelte sogar
leise, als er nach einer Weile ihre Hand sinken ließ und sie verlegen, wie um
Verzeihung bittend, ansah. Gleich darauf aber war es ihr, als rückte er ihr
heimlich näher, und als er endlich seinen Arm um ihren Leib schlang und sie
dabei mit einem seltsamen, zitternden Lächeln ansah, da flog eine flüchtige Röte
über ihre Wangen. Sie hätte vor Angst schreien können.

Sie hatte Kräfte wie ein Mann und hätte ihn wie einen Handschuh von
sich schleudern können. Aber was war es, das sich in diesem Augenblick wie
lähmend auf sie legte und sie zwang, sich diesem häßlichen, kleinen Menschen
wie ein willenloses Ding hinzugeben? Jedesmal, wenn sie später in
ihren vielen schlaflosen Nächten und trüben Tagen an diese Stunde zurückdachte,
faßte sie es weniger und weniger. Es war, als hätte sie unter einem Zauber-
bann gelegen. Von dem Augenblick an, wo sie sich von seinein Arme zu ihm
hingezogen fühlte, hatte sie alle Besinnung verlöre». Vou dem, was dann
folgte, wußte sie nichts, gar nichts, so plötzlich und unerwartet war es über
sie gekommen.

Merkwürdigerweise sollte dies Jakobs letzter Besuch im Baldervder Fähr¬
kruge sein. Schon im Spätherbst drang das Gerücht her, daß man ihn in
einem Moor auf Fünen gefunden habe, ausgeplündert mit zerspaltenem Schädel.
Ein Hopfenhändler, der ihn genau gekannt haben wollte und, wie er behauptete,
der Beerdigung beigewohnt hatte, überbrachte die Nachricht. So konnte denn
kein Zweifel an der Richtigkeit der Sache sein. Aber die allgemeine Auf¬
merksamkeit nahm schnell eine andre Richtung, denn an demselben Tage war
Ellen plötzlich spurlos verschwunden.

Sie war zuletzt auf ihrem gewöhnlichen Platz in einer Ecke des Gast¬
zimmers gesehen worden. Bei der Erzählung des Hvpfeuhändlers hatte sie
sich leichenblaß vou ihrem Stuhl erhoben und war, seitdem nicht zu finden
gewesen. Man sandte Boten nach Osten und Westen, man verteilte sich im
Walde und rief. Als die Dämmerung hereinbrach, liefen Scharen mit Laternen
und Stangen um den See herum, aber alles vergebens. Erst spät in der
Nacht fand mau sie auf einem abgeschlossenen Bodenraum, wo sie einem kleinen
wachsgelben Dinge mit rotem Haar und schwarzen Augen daS Leben gegeben
hatte, einem Wesen, dessen Dnsein sie acht Monate hindurch ängstlich vor ihrer
Umgebung verheimlicht hatte. Der alte Vater, der Einzige vielleicht, der Unrat
gemerkt hatte, kam gerade rechtzeitig genug, um dem Kinde bei dem Eintritt
ins Leben seinen Fluch zu schenken.

Das war eine ungewöhnliche Überraschung! Mau kauu wohl behaupten,
daß seit vielen Jahren kein „Fall" dort in der Gegend so viel Aufsehen erregt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/60>, abgerufen am 22.12.2024.