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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Aus Neuösterreich

der montenegrinisches Gelnet betritt, ist unverletzlich, so lange er nach den
Landesgesetzen lebt.

Ich will die Leser nicht länger mit Beispielen langweilen, ich habe nur
die ausgesucht, durch die sich ein Einblick in den Volkscharakter gewinnen läßt,
nud ich kann versichern, daß der Einfluß dieser Gesetze auf jenes Naturvolk
äußerst günstig war; seit Jahrzehnten hört man nichts von Ehebruch und
Mord, und Diebstahl und Selbstmord gehören zu den größten Seltenheiten.

Montenegro ist ein armes Land, die nackten Felsen und der Mangel an
Erdreich gestatten dein Ackerbau leine Entwicklung. Jahr für Jahr herrscht
Hungersnot, der nur die russischen Geld- und Getreidesendungen abhelfen
können. Durch diese Sendungen werden die Montenegriner freilich nach und
nach zu Söldlinge" Rußlands, für das sie bereitwillig ihr Blut in den Kämpfen
gegen die Türkei und jetzt als politische Freischürler gegen Bulgarien und
Österreich, vergießen. Als gefährliche Gegner einer disziplinirten und an Ge-
birgskrieg gewöhnten Armee kann ich mir die Montenegriner nicht vorstellen;
ihre Hcinptstärke besteht in nächtlichen Überfällen und in Ausnutzung des Ge¬
ländes; da können sie dem arglosem Feinde im Handgemenge höchst verderblich
werden. Noch haben sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt im offnen Felde
einer regelmüßigen Armee die Stirn zu bieten; auch die Nachrichten von ihrer
Treffsicherheit erachte ich für stark übertrieben. Als Nachbar habe ich mit
diesem Völklein bei seinen Nanbausflügeu manchen Strauß zu bestehen ge¬
habt (obwohl diese Scharmützel von Montenegro meist den herzegowinischcn
Überläufern in die Schuhe geschoben wurden). Verderbenbringend waren sie
uns merkwürdigerweise nur auf weite Entfernung, wogegen bei einem wirk¬
lichen Nahkampfe die Gegner aus llukenntnis ihrer eignen Gewehre meist zu
hoch schössen.

Schließlich will ich noch einen Charakterzug der Montenegriner erwähnen:
die Liebe zur Familie und zur Heimat gehört zu den Hauptmerkmalen des
Volkes, namentlich ist es die Liebe zu Eltern nud zu Geschwistern, die ihnen
eigen ist. Den Verstorbenen beklagt nicht die Gattin, sondern Mutter nud
Schwester. Die Schwester schwört bei dem Namen ihres Bruders, der Bruder
ist die Stütze seiner Schwester, sie ist seinem Schutze anvertraut, wehe
dem, der ihre Ehre angreift! Hat die Schwester keine Eltern, so ist ihr der
Bruder Vater und Mutter zugleich, sie würde nichts unternehmen, ohne den
Bruder zu befragen; er wählt ihr einen Mann, überantwortet sie diesem,
und selbst der verheirateten Schwester läßt der Bruder seinen Schutz und
seine Liebe angedeihen. Dieser Charakterzug mag den Grund zu einer Ein¬
richtung gegeben haben, die man anßer in Serbien nirgendswo sonst an¬
trifft und die im freien Montenegro allgemeine Verbreitung hat. Es ist
die sogenannte Wahlverwandtschaft, Wahlbrüderschaft und Wahlschwester¬
schaft. Zwei einander fremde Menschen fassen den Entschluß, sich Bruder


Aus Neuösterreich

der montenegrinisches Gelnet betritt, ist unverletzlich, so lange er nach den
Landesgesetzen lebt.

Ich will die Leser nicht länger mit Beispielen langweilen, ich habe nur
die ausgesucht, durch die sich ein Einblick in den Volkscharakter gewinnen läßt,
nud ich kann versichern, daß der Einfluß dieser Gesetze auf jenes Naturvolk
äußerst günstig war; seit Jahrzehnten hört man nichts von Ehebruch und
Mord, und Diebstahl und Selbstmord gehören zu den größten Seltenheiten.

Montenegro ist ein armes Land, die nackten Felsen und der Mangel an
Erdreich gestatten dein Ackerbau leine Entwicklung. Jahr für Jahr herrscht
Hungersnot, der nur die russischen Geld- und Getreidesendungen abhelfen
können. Durch diese Sendungen werden die Montenegriner freilich nach und
nach zu Söldlinge» Rußlands, für das sie bereitwillig ihr Blut in den Kämpfen
gegen die Türkei und jetzt als politische Freischürler gegen Bulgarien und
Österreich, vergießen. Als gefährliche Gegner einer disziplinirten und an Ge-
birgskrieg gewöhnten Armee kann ich mir die Montenegriner nicht vorstellen;
ihre Hcinptstärke besteht in nächtlichen Überfällen und in Ausnutzung des Ge¬
ländes; da können sie dem arglosem Feinde im Handgemenge höchst verderblich
werden. Noch haben sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt im offnen Felde
einer regelmüßigen Armee die Stirn zu bieten; auch die Nachrichten von ihrer
Treffsicherheit erachte ich für stark übertrieben. Als Nachbar habe ich mit
diesem Völklein bei seinen Nanbausflügeu manchen Strauß zu bestehen ge¬
habt (obwohl diese Scharmützel von Montenegro meist den herzegowinischcn
Überläufern in die Schuhe geschoben wurden). Verderbenbringend waren sie
uns merkwürdigerweise nur auf weite Entfernung, wogegen bei einem wirk¬
lichen Nahkampfe die Gegner aus llukenntnis ihrer eignen Gewehre meist zu
hoch schössen.

Schließlich will ich noch einen Charakterzug der Montenegriner erwähnen:
die Liebe zur Familie und zur Heimat gehört zu den Hauptmerkmalen des
Volkes, namentlich ist es die Liebe zu Eltern nud zu Geschwistern, die ihnen
eigen ist. Den Verstorbenen beklagt nicht die Gattin, sondern Mutter nud
Schwester. Die Schwester schwört bei dem Namen ihres Bruders, der Bruder
ist die Stütze seiner Schwester, sie ist seinem Schutze anvertraut, wehe
dem, der ihre Ehre angreift! Hat die Schwester keine Eltern, so ist ihr der
Bruder Vater und Mutter zugleich, sie würde nichts unternehmen, ohne den
Bruder zu befragen; er wählt ihr einen Mann, überantwortet sie diesem,
und selbst der verheirateten Schwester läßt der Bruder seinen Schutz und
seine Liebe angedeihen. Dieser Charakterzug mag den Grund zu einer Ein¬
richtung gegeben haben, die man anßer in Serbien nirgendswo sonst an¬
trifft und die im freien Montenegro allgemeine Verbreitung hat. Es ist
die sogenannte Wahlverwandtschaft, Wahlbrüderschaft und Wahlschwester¬
schaft. Zwei einander fremde Menschen fassen den Entschluß, sich Bruder


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[0584] Aus Neuösterreich der montenegrinisches Gelnet betritt, ist unverletzlich, so lange er nach den Landesgesetzen lebt. Ich will die Leser nicht länger mit Beispielen langweilen, ich habe nur die ausgesucht, durch die sich ein Einblick in den Volkscharakter gewinnen läßt, nud ich kann versichern, daß der Einfluß dieser Gesetze auf jenes Naturvolk äußerst günstig war; seit Jahrzehnten hört man nichts von Ehebruch und Mord, und Diebstahl und Selbstmord gehören zu den größten Seltenheiten. Montenegro ist ein armes Land, die nackten Felsen und der Mangel an Erdreich gestatten dein Ackerbau leine Entwicklung. Jahr für Jahr herrscht Hungersnot, der nur die russischen Geld- und Getreidesendungen abhelfen können. Durch diese Sendungen werden die Montenegriner freilich nach und nach zu Söldlinge» Rußlands, für das sie bereitwillig ihr Blut in den Kämpfen gegen die Türkei und jetzt als politische Freischürler gegen Bulgarien und Österreich, vergießen. Als gefährliche Gegner einer disziplinirten und an Ge- birgskrieg gewöhnten Armee kann ich mir die Montenegriner nicht vorstellen; ihre Hcinptstärke besteht in nächtlichen Überfällen und in Ausnutzung des Ge¬ ländes; da können sie dem arglosem Feinde im Handgemenge höchst verderblich werden. Noch haben sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt im offnen Felde einer regelmüßigen Armee die Stirn zu bieten; auch die Nachrichten von ihrer Treffsicherheit erachte ich für stark übertrieben. Als Nachbar habe ich mit diesem Völklein bei seinen Nanbausflügeu manchen Strauß zu bestehen ge¬ habt (obwohl diese Scharmützel von Montenegro meist den herzegowinischcn Überläufern in die Schuhe geschoben wurden). Verderbenbringend waren sie uns merkwürdigerweise nur auf weite Entfernung, wogegen bei einem wirk¬ lichen Nahkampfe die Gegner aus llukenntnis ihrer eignen Gewehre meist zu hoch schössen. Schließlich will ich noch einen Charakterzug der Montenegriner erwähnen: die Liebe zur Familie und zur Heimat gehört zu den Hauptmerkmalen des Volkes, namentlich ist es die Liebe zu Eltern nud zu Geschwistern, die ihnen eigen ist. Den Verstorbenen beklagt nicht die Gattin, sondern Mutter nud Schwester. Die Schwester schwört bei dem Namen ihres Bruders, der Bruder ist die Stütze seiner Schwester, sie ist seinem Schutze anvertraut, wehe dem, der ihre Ehre angreift! Hat die Schwester keine Eltern, so ist ihr der Bruder Vater und Mutter zugleich, sie würde nichts unternehmen, ohne den Bruder zu befragen; er wählt ihr einen Mann, überantwortet sie diesem, und selbst der verheirateten Schwester läßt der Bruder seinen Schutz und seine Liebe angedeihen. Dieser Charakterzug mag den Grund zu einer Ein¬ richtung gegeben haben, die man anßer in Serbien nirgendswo sonst an¬ trifft und die im freien Montenegro allgemeine Verbreitung hat. Es ist die sogenannte Wahlverwandtschaft, Wahlbrüderschaft und Wahlschwester¬ schaft. Zwei einander fremde Menschen fassen den Entschluß, sich Bruder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/584>, abgerufen am 02.07.2024.