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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Zunge Liebe

Noch eine Weile lag sie still da, dann richtete sie sich langsam empor
und blickte mit großen, entsetzten Augen um sich. So sprachen beide kein
Wort. Als sich aber ihre Augen begegneten, fuhr über beide gleichsam ein
eisiger Hauch. Die Mutter sank schwer auf den Rand des Bettes nieder, und
Marthn verbarg ihr Antlitz in beiden Händen, indem sie sich über ihre Kissen
beugte. Dann erklang ein heiseres, verzweifeltes Jammergeschrei.

Warum hast du niemals Vertrauen zu mir gehabt, Martha! sagte die
Mutter zögernd. Ich habe ja kein Recht, dir Vorwürfe zu machen, denn ich
habe dir ja kein besseres Beispiel gegeben, aber du hättest doch Vertrauen zu
mir haben können, Martha, ich bin ja nun doch einmal deine Mutter.

Weiß es Jesper? klang es unter der Bettdecke hervor.

Ja!

Oh! oh! Es klang fast wie das Weinen eines Kindes, und durch ihren
halbnackten Körper ging ein heftiges Zittern.

Wer hat es ihm gesagt?

Ich erzählte es ihm gestern Abend, als du gegangen warst.

Was sagte er? fragte sie "ach einer Weile.

Ich weiß es nicht!

Oh, oh! Sie bohrte ihren Kopf förmlich in die Kissen. Wo ist er?

Er ist drinnen im Zimmer. Er wartet auf dich. Er will mit dir
reden.

Sind die ander" auch drinnen?

Ja.

Wissen sie es auch?

Ich glaube nicht. Aber du mußt jetzt aufstehen, Martha! Hörst du?

Die Mutter schlug die Decke zurück und half ihr vorsichtig aus dem Bett.
Aber Martha war wie ein hilfloses Kind. Sie zitterte am ganzen Körper,
""d es war ihr unmöglich, i" die Kleider zu kommen. Versuche es doch
"ur, dich el" wenig zusammen zu nehmen, Kind! sagte die Mutter, indem sie
ihr half.

Als sie sie endlich fertig angekleidet hatte, als ihr Haar gekämmt und
ihr Kleid gekröpft war, führte sie sie zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen.

So, nnn besinne dich ein wenig. Wenn du versprichst, daß du dich
bessern willst, so wird es dir Jesper mit Gottes Hilfe für dies eine Mal
wohl vergeben. Bleib jetzt hier, dann will ich ihn rufen. Er will gern hier
drinnen mit dir reden.

Sie blickte sie noch einen Augenblick tief bekümmert an, griff sich dann
mit der Hand nach den Schläfen, als zöge eine Erinnerung an ihrer Seele vor¬
über, und verließ das Zimmer.

Martha blieb wie leblos sitzen, die Hände in den Schoß gelegt, marmor-
l'leich im Gesicht, mit schwarzen, starren Augen. Aber bei dem ersten Geräusch


Grenzboten IV 1889 en
Zunge Liebe

Noch eine Weile lag sie still da, dann richtete sie sich langsam empor
und blickte mit großen, entsetzten Augen um sich. So sprachen beide kein
Wort. Als sich aber ihre Augen begegneten, fuhr über beide gleichsam ein
eisiger Hauch. Die Mutter sank schwer auf den Rand des Bettes nieder, und
Marthn verbarg ihr Antlitz in beiden Händen, indem sie sich über ihre Kissen
beugte. Dann erklang ein heiseres, verzweifeltes Jammergeschrei.

Warum hast du niemals Vertrauen zu mir gehabt, Martha! sagte die
Mutter zögernd. Ich habe ja kein Recht, dir Vorwürfe zu machen, denn ich
habe dir ja kein besseres Beispiel gegeben, aber du hättest doch Vertrauen zu
mir haben können, Martha, ich bin ja nun doch einmal deine Mutter.

Weiß es Jesper? klang es unter der Bettdecke hervor.

Ja!

Oh! oh! Es klang fast wie das Weinen eines Kindes, und durch ihren
halbnackten Körper ging ein heftiges Zittern.

Wer hat es ihm gesagt?

Ich erzählte es ihm gestern Abend, als du gegangen warst.

Was sagte er? fragte sie »ach einer Weile.

Ich weiß es nicht!

Oh, oh! Sie bohrte ihren Kopf förmlich in die Kissen. Wo ist er?

Er ist drinnen im Zimmer. Er wartet auf dich. Er will mit dir
reden.

Sind die ander» auch drinnen?

Ja.

Wissen sie es auch?

Ich glaube nicht. Aber du mußt jetzt aufstehen, Martha! Hörst du?

Die Mutter schlug die Decke zurück und half ihr vorsichtig aus dem Bett.
Aber Martha war wie ein hilfloses Kind. Sie zitterte am ganzen Körper,
""d es war ihr unmöglich, i» die Kleider zu kommen. Versuche es doch
"ur, dich el» wenig zusammen zu nehmen, Kind! sagte die Mutter, indem sie
ihr half.

Als sie sie endlich fertig angekleidet hatte, als ihr Haar gekämmt und
ihr Kleid gekröpft war, führte sie sie zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen.

So, nnn besinne dich ein wenig. Wenn du versprichst, daß du dich
bessern willst, so wird es dir Jesper mit Gottes Hilfe für dies eine Mal
wohl vergeben. Bleib jetzt hier, dann will ich ihn rufen. Er will gern hier
drinnen mit dir reden.

Sie blickte sie noch einen Augenblick tief bekümmert an, griff sich dann
mit der Hand nach den Schläfen, als zöge eine Erinnerung an ihrer Seele vor¬
über, und verließ das Zimmer.

Martha blieb wie leblos sitzen, die Hände in den Schoß gelegt, marmor-
l'leich im Gesicht, mit schwarzen, starren Augen. Aber bei dem ersten Geräusch


Grenzboten IV 1889 en
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[0489] Zunge Liebe Noch eine Weile lag sie still da, dann richtete sie sich langsam empor und blickte mit großen, entsetzten Augen um sich. So sprachen beide kein Wort. Als sich aber ihre Augen begegneten, fuhr über beide gleichsam ein eisiger Hauch. Die Mutter sank schwer auf den Rand des Bettes nieder, und Marthn verbarg ihr Antlitz in beiden Händen, indem sie sich über ihre Kissen beugte. Dann erklang ein heiseres, verzweifeltes Jammergeschrei. Warum hast du niemals Vertrauen zu mir gehabt, Martha! sagte die Mutter zögernd. Ich habe ja kein Recht, dir Vorwürfe zu machen, denn ich habe dir ja kein besseres Beispiel gegeben, aber du hättest doch Vertrauen zu mir haben können, Martha, ich bin ja nun doch einmal deine Mutter. Weiß es Jesper? klang es unter der Bettdecke hervor. Ja! Oh! oh! Es klang fast wie das Weinen eines Kindes, und durch ihren halbnackten Körper ging ein heftiges Zittern. Wer hat es ihm gesagt? Ich erzählte es ihm gestern Abend, als du gegangen warst. Was sagte er? fragte sie »ach einer Weile. Ich weiß es nicht! Oh, oh! Sie bohrte ihren Kopf förmlich in die Kissen. Wo ist er? Er ist drinnen im Zimmer. Er wartet auf dich. Er will mit dir reden. Sind die ander» auch drinnen? Ja. Wissen sie es auch? Ich glaube nicht. Aber du mußt jetzt aufstehen, Martha! Hörst du? Die Mutter schlug die Decke zurück und half ihr vorsichtig aus dem Bett. Aber Martha war wie ein hilfloses Kind. Sie zitterte am ganzen Körper, ""d es war ihr unmöglich, i» die Kleider zu kommen. Versuche es doch "ur, dich el» wenig zusammen zu nehmen, Kind! sagte die Mutter, indem sie ihr half. Als sie sie endlich fertig angekleidet hatte, als ihr Haar gekämmt und ihr Kleid gekröpft war, führte sie sie zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen. So, nnn besinne dich ein wenig. Wenn du versprichst, daß du dich bessern willst, so wird es dir Jesper mit Gottes Hilfe für dies eine Mal wohl vergeben. Bleib jetzt hier, dann will ich ihn rufen. Er will gern hier drinnen mit dir reden. Sie blickte sie noch einen Augenblick tief bekümmert an, griff sich dann mit der Hand nach den Schläfen, als zöge eine Erinnerung an ihrer Seele vor¬ über, und verließ das Zimmer. Martha blieb wie leblos sitzen, die Hände in den Schoß gelegt, marmor- l'leich im Gesicht, mit schwarzen, starren Augen. Aber bei dem ersten Geräusch Grenzboten IV 1889 en

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/489>, abgerufen am 28.06.2024.