Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Buckle und Dcirwiu

denen der Industrie so verhalte. Bei Buckle finden sich keine Schlagwörter
von solcher Verständlichkeit und Tragweite; und was sich etwa dazu eignete,
wie der Gedanke von der Schädlichkeit aller Regierungen, würde doch auch
schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes etwaigen Aposteln gewisse Verlegen¬
heiten bereitet haben. Die Darwinianer hingegen befinden sich in der glück¬
lichen Lage, die Auffassung aller menschlichen Verhältnisse in durchgreifender
Weise beeinflussen zu können, ohne diese Verhältnisse auch uur mit einem Worte
zu nennen.

Namentlich darum fühlten sich alle philosophischen Köpfe lebhaft ange¬
zogen, weil der Begriff der Entwicklung, der seit Hegel als mystisch verschleierte
Idee die Gemüter bewegt hatte, nun Plötzlich die Klarheit einer geometrischen
Figur zu gewinnen und das Geheimnis der Welt zu enthüllen schien. Wenn
es bei der Entstehung der Weltkörper und ihrer lebendigen Bewohner nicht
anders zugegangen ist wie bei der Entwicklung des Hühnchens im El, die wir
in der Brutmaschine mit unseru Augen verfolgen können, dann ist ja das große
Rätsel gelöst und alles, was wunderbar erschien, natürlich erklärt! Den Ein¬
Wurf, daß ebeu diese Verwandlung des Eies in ein Hühnchen das Wunder der
Wunder sei, und daß wir durch die Zurückführung der Weltwerdung auf diesen
zwar vor unsern Augen sich vollziehenden, aber darum nicht minder unbegreif¬
lichen Vorgang dem Geheimnis des Lebens keinen Schritt näher rücken, diesen
EinWurf ließ mau nicht gelten, seitdem Häckel die "Perigenesis der Plastidule"
erfunden und in einem schonen Bilde: rote Kugeln mit schwarzen Flecken ver¬
anschaulicht hatte. Die Plastidule, so lehrt Häckel, diese Moleküle der orga¬
nischen Körper, sind mit "unbewußten Gedächtnis" begabt. Dieses unbewußte
Gedächtnis befähigt das Tvchterplaftidul, die charakteristische Molekularbewegung
des Mutterplastiduls fortzusetzen, während sie zugleich durch äußere Einflüsse
einigermaßen verändert wird. So geht jene Vererbung und Anpassung, deren
Endergebnis uns in den großen Gestatte" der Tiere und Pflanzen sichtbar
wird, in der unsichtbaren Welt der Moleküle vor sich. Daß etwas dergleichen
vorgehen müsse, hatte man allerdings von den Zeiten der alten Alpinisten her
schon immer geahnt, nud Leibniz sprach deu Lehrsatz aus, daß alle Veränderungen
der Welt sich im unendlich Kleinen vollziehen. Aber jetzt erst wurde es klar,
wie es dabei eigentlich zugeht.

Nun gab es freilich Leute, die sich unter einem unbewußten Gedächtnis
schlechterdings nichts zu denken vermochte", denen es unbegreiflich schien, wie
ein Atomhüufchen plötzlich Gedächtnis bekommen soll, wenn es ein Plastidul
bildet, während es ohne Gedächtnis bleibt, so lange es sich in einer unorga¬
nischen Verbindung befindet; und sie meinten, an Stelle des einen allumfassenden
Wunders: der Existenz Gottes seien hier ebenso viele Villionen Wunder ge¬
treten, als Atomhäufchen mit unbewußten Gedächtnis und der Kraft, ihres¬
gleichen zu zeugen, in der Welt entstehen. Allein diese Leute wurden als


Buckle und Dcirwiu

denen der Industrie so verhalte. Bei Buckle finden sich keine Schlagwörter
von solcher Verständlichkeit und Tragweite; und was sich etwa dazu eignete,
wie der Gedanke von der Schädlichkeit aller Regierungen, würde doch auch
schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes etwaigen Aposteln gewisse Verlegen¬
heiten bereitet haben. Die Darwinianer hingegen befinden sich in der glück¬
lichen Lage, die Auffassung aller menschlichen Verhältnisse in durchgreifender
Weise beeinflussen zu können, ohne diese Verhältnisse auch uur mit einem Worte
zu nennen.

Namentlich darum fühlten sich alle philosophischen Köpfe lebhaft ange¬
zogen, weil der Begriff der Entwicklung, der seit Hegel als mystisch verschleierte
Idee die Gemüter bewegt hatte, nun Plötzlich die Klarheit einer geometrischen
Figur zu gewinnen und das Geheimnis der Welt zu enthüllen schien. Wenn
es bei der Entstehung der Weltkörper und ihrer lebendigen Bewohner nicht
anders zugegangen ist wie bei der Entwicklung des Hühnchens im El, die wir
in der Brutmaschine mit unseru Augen verfolgen können, dann ist ja das große
Rätsel gelöst und alles, was wunderbar erschien, natürlich erklärt! Den Ein¬
Wurf, daß ebeu diese Verwandlung des Eies in ein Hühnchen das Wunder der
Wunder sei, und daß wir durch die Zurückführung der Weltwerdung auf diesen
zwar vor unsern Augen sich vollziehenden, aber darum nicht minder unbegreif¬
lichen Vorgang dem Geheimnis des Lebens keinen Schritt näher rücken, diesen
EinWurf ließ mau nicht gelten, seitdem Häckel die „Perigenesis der Plastidule"
erfunden und in einem schonen Bilde: rote Kugeln mit schwarzen Flecken ver¬
anschaulicht hatte. Die Plastidule, so lehrt Häckel, diese Moleküle der orga¬
nischen Körper, sind mit „unbewußten Gedächtnis" begabt. Dieses unbewußte
Gedächtnis befähigt das Tvchterplaftidul, die charakteristische Molekularbewegung
des Mutterplastiduls fortzusetzen, während sie zugleich durch äußere Einflüsse
einigermaßen verändert wird. So geht jene Vererbung und Anpassung, deren
Endergebnis uns in den großen Gestatte» der Tiere und Pflanzen sichtbar
wird, in der unsichtbaren Welt der Moleküle vor sich. Daß etwas dergleichen
vorgehen müsse, hatte man allerdings von den Zeiten der alten Alpinisten her
schon immer geahnt, nud Leibniz sprach deu Lehrsatz aus, daß alle Veränderungen
der Welt sich im unendlich Kleinen vollziehen. Aber jetzt erst wurde es klar,
wie es dabei eigentlich zugeht.

Nun gab es freilich Leute, die sich unter einem unbewußten Gedächtnis
schlechterdings nichts zu denken vermochte», denen es unbegreiflich schien, wie
ein Atomhüufchen plötzlich Gedächtnis bekommen soll, wenn es ein Plastidul
bildet, während es ohne Gedächtnis bleibt, so lange es sich in einer unorga¬
nischen Verbindung befindet; und sie meinten, an Stelle des einen allumfassenden
Wunders: der Existenz Gottes seien hier ebenso viele Villionen Wunder ge¬
treten, als Atomhäufchen mit unbewußten Gedächtnis und der Kraft, ihres¬
gleichen zu zeugen, in der Welt entstehen. Allein diese Leute wurden als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206469"/>
          <fw type="header" place="top"> Buckle und Dcirwiu</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1609" prev="#ID_1608"> denen der Industrie so verhalte. Bei Buckle finden sich keine Schlagwörter<lb/>
von solcher Verständlichkeit und Tragweite; und was sich etwa dazu eignete,<lb/>
wie der Gedanke von der Schädlichkeit aller Regierungen, würde doch auch<lb/>
schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes etwaigen Aposteln gewisse Verlegen¬<lb/>
heiten bereitet haben. Die Darwinianer hingegen befinden sich in der glück¬<lb/>
lichen Lage, die Auffassung aller menschlichen Verhältnisse in durchgreifender<lb/>
Weise beeinflussen zu können, ohne diese Verhältnisse auch uur mit einem Worte<lb/>
zu nennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1610"> Namentlich darum fühlten sich alle philosophischen Köpfe lebhaft ange¬<lb/>
zogen, weil der Begriff der Entwicklung, der seit Hegel als mystisch verschleierte<lb/>
Idee die Gemüter bewegt hatte, nun Plötzlich die Klarheit einer geometrischen<lb/>
Figur zu gewinnen und das Geheimnis der Welt zu enthüllen schien. Wenn<lb/>
es bei der Entstehung der Weltkörper und ihrer lebendigen Bewohner nicht<lb/>
anders zugegangen ist wie bei der Entwicklung des Hühnchens im El, die wir<lb/>
in der Brutmaschine mit unseru Augen verfolgen können, dann ist ja das große<lb/>
Rätsel gelöst und alles, was wunderbar erschien, natürlich erklärt! Den Ein¬<lb/>
Wurf, daß ebeu diese Verwandlung des Eies in ein Hühnchen das Wunder der<lb/>
Wunder sei, und daß wir durch die Zurückführung der Weltwerdung auf diesen<lb/>
zwar vor unsern Augen sich vollziehenden, aber darum nicht minder unbegreif¬<lb/>
lichen Vorgang dem Geheimnis des Lebens keinen Schritt näher rücken, diesen<lb/>
EinWurf ließ mau nicht gelten, seitdem Häckel die &#x201E;Perigenesis der Plastidule"<lb/>
erfunden und in einem schonen Bilde: rote Kugeln mit schwarzen Flecken ver¬<lb/>
anschaulicht hatte. Die Plastidule, so lehrt Häckel, diese Moleküle der orga¬<lb/>
nischen Körper, sind mit &#x201E;unbewußten Gedächtnis" begabt. Dieses unbewußte<lb/>
Gedächtnis befähigt das Tvchterplaftidul, die charakteristische Molekularbewegung<lb/>
des Mutterplastiduls fortzusetzen, während sie zugleich durch äußere Einflüsse<lb/>
einigermaßen verändert wird. So geht jene Vererbung und Anpassung, deren<lb/>
Endergebnis uns in den großen Gestatte» der Tiere und Pflanzen sichtbar<lb/>
wird, in der unsichtbaren Welt der Moleküle vor sich. Daß etwas dergleichen<lb/>
vorgehen müsse, hatte man allerdings von den Zeiten der alten Alpinisten her<lb/>
schon immer geahnt, nud Leibniz sprach deu Lehrsatz aus, daß alle Veränderungen<lb/>
der Welt sich im unendlich Kleinen vollziehen. Aber jetzt erst wurde es klar,<lb/>
wie es dabei eigentlich zugeht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1611" next="#ID_1612"> Nun gab es freilich Leute, die sich unter einem unbewußten Gedächtnis<lb/>
schlechterdings nichts zu denken vermochte», denen es unbegreiflich schien, wie<lb/>
ein Atomhüufchen plötzlich Gedächtnis bekommen soll, wenn es ein Plastidul<lb/>
bildet, während es ohne Gedächtnis bleibt, so lange es sich in einer unorga¬<lb/>
nischen Verbindung befindet; und sie meinten, an Stelle des einen allumfassenden<lb/>
Wunders: der Existenz Gottes seien hier ebenso viele Villionen Wunder ge¬<lb/>
treten, als Atomhäufchen mit unbewußten Gedächtnis und der Kraft, ihres¬<lb/>
gleichen zu zeugen, in der Welt entstehen.  Allein diese Leute wurden als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Buckle und Dcirwiu denen der Industrie so verhalte. Bei Buckle finden sich keine Schlagwörter von solcher Verständlichkeit und Tragweite; und was sich etwa dazu eignete, wie der Gedanke von der Schädlichkeit aller Regierungen, würde doch auch schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes etwaigen Aposteln gewisse Verlegen¬ heiten bereitet haben. Die Darwinianer hingegen befinden sich in der glück¬ lichen Lage, die Auffassung aller menschlichen Verhältnisse in durchgreifender Weise beeinflussen zu können, ohne diese Verhältnisse auch uur mit einem Worte zu nennen. Namentlich darum fühlten sich alle philosophischen Köpfe lebhaft ange¬ zogen, weil der Begriff der Entwicklung, der seit Hegel als mystisch verschleierte Idee die Gemüter bewegt hatte, nun Plötzlich die Klarheit einer geometrischen Figur zu gewinnen und das Geheimnis der Welt zu enthüllen schien. Wenn es bei der Entstehung der Weltkörper und ihrer lebendigen Bewohner nicht anders zugegangen ist wie bei der Entwicklung des Hühnchens im El, die wir in der Brutmaschine mit unseru Augen verfolgen können, dann ist ja das große Rätsel gelöst und alles, was wunderbar erschien, natürlich erklärt! Den Ein¬ Wurf, daß ebeu diese Verwandlung des Eies in ein Hühnchen das Wunder der Wunder sei, und daß wir durch die Zurückführung der Weltwerdung auf diesen zwar vor unsern Augen sich vollziehenden, aber darum nicht minder unbegreif¬ lichen Vorgang dem Geheimnis des Lebens keinen Schritt näher rücken, diesen EinWurf ließ mau nicht gelten, seitdem Häckel die „Perigenesis der Plastidule" erfunden und in einem schonen Bilde: rote Kugeln mit schwarzen Flecken ver¬ anschaulicht hatte. Die Plastidule, so lehrt Häckel, diese Moleküle der orga¬ nischen Körper, sind mit „unbewußten Gedächtnis" begabt. Dieses unbewußte Gedächtnis befähigt das Tvchterplaftidul, die charakteristische Molekularbewegung des Mutterplastiduls fortzusetzen, während sie zugleich durch äußere Einflüsse einigermaßen verändert wird. So geht jene Vererbung und Anpassung, deren Endergebnis uns in den großen Gestatte» der Tiere und Pflanzen sichtbar wird, in der unsichtbaren Welt der Moleküle vor sich. Daß etwas dergleichen vorgehen müsse, hatte man allerdings von den Zeiten der alten Alpinisten her schon immer geahnt, nud Leibniz sprach deu Lehrsatz aus, daß alle Veränderungen der Welt sich im unendlich Kleinen vollziehen. Aber jetzt erst wurde es klar, wie es dabei eigentlich zugeht. Nun gab es freilich Leute, die sich unter einem unbewußten Gedächtnis schlechterdings nichts zu denken vermochte», denen es unbegreiflich schien, wie ein Atomhüufchen plötzlich Gedächtnis bekommen soll, wenn es ein Plastidul bildet, während es ohne Gedächtnis bleibt, so lange es sich in einer unorga¬ nischen Verbindung befindet; und sie meinten, an Stelle des einen allumfassenden Wunders: der Existenz Gottes seien hier ebenso viele Villionen Wunder ge¬ treten, als Atomhäufchen mit unbewußten Gedächtnis und der Kraft, ihres¬ gleichen zu zeugen, in der Welt entstehen. Allein diese Leute wurden als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/470>, abgerufen am 22.12.2024.