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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Oerfassungsstreil in j?renßen

Am 9. Juni 1861 erließ die "deutsche Fortschrittspartei in Preußen"
ein Programm, worin sie der Welt anzeigte, daß sie glücklich geboren sei; es
ist jenes Programm, woran die Partei angeblich unverändert und ohne Wanken
festgehalten hat, 1861^1889, achtundzwanzig Jahre laug, und zwar achtund¬
zwanzig Jahre, in denen die ganze übrige Welt unendlich Vieles und unendlich
Großes erfahren und gelernt hat. Der Inhalt dieses Programms darf daher
als bekannt vorausgesetzt werden; er ist übrigens derartig, daß, abgesehen von
wenigen Schlagwörtern, wie "Trennung des Staates von der Kirche," "zwei¬
jährige Dienstzeit" u. s, w., mich jeder Patriot dieses Schriftstück ohne viele
Bedenken hätte unterschreiben können. , Das ist aber erfahrungsmäßig bei den
meisten Parteiprogrammen der Fall; trenn man nur ihren Wortlaut betrachtet,
so können meist die Anhänger der verschiedensten Parteien sich darauf einige".
Aber es kommt darauf an, wie ein Programm ausgelegt, und besonders wie
es ausgeführt wird. (Jo-ze, 1" ton "im Me I" musicius, sagen die Franzosen.
Gewissermaßen eine Ergänzung zu jeuer ersten Veröffentlichung bildete der
Aufruf des Zentralwahlkvmitees der Fortschrittspartei, der am 29. September
desselben Jahres erschien. In diesem wird zwar eutschiedner gegen die
"absolutistisch-aristokratische Partei, die sich die konservative nennt" Stellung
genommen, gegen die "die große liberale Mehrheit des Landes einig zusammen¬
stehen" werde. Die Bezeichnung "Fortschritt" mied man damals in Wahl¬
aufrufen möglichst, ebenso wie heutzutage die Erben dieser Partei in solchen
Schriftstücken den Nnsdrnck "Freisinn" nur höchst ungern anwenden. -Aus
der Haltung des Schriftstückes konnte man jedoch sonst keinerlei Schluß ziehen
auf die Haltung, die die neue Partei einnehmen, auf die politische Thätigkeit,
die sie entfalten würde, eine Thätigkeit, die achtnndzwnnzig Jahre lang zur
Genüge und unwiderleglich für jeden, der fehen kaun und Null, gezeigt
hat, daß die Partei hervorgegangen ist ans "dem Geiste, der stets verneint."
Sonst freilich hat sie damals von dem Mephistopheles, den uns Goethe vor¬
führt, durchaus nichts an sich gehabt; namentlich bildete sie niemals


Einen Teil der Kraft,
Die stets das Böse will, und stets das Gute schasst.

Daß sie Böses gewollt hätten, wenigstens mit Bewußtsein, wolle" wir
den einseitigen, verrannteil Doktrinären, für die nur ihre Theorien, nicht aber
die großen Lehren der Geschichte vorhanden waren, und denen daher jegliches
richtige Urteil über weltbewegende Fragen völlig abging, alles hier nicht nach¬
sagen'. Daß die Partei aber jemals etwas Gutes für Preuße" oder für
Deutschland geschafft" habe, das werde" selbst ihre eifrigsten Allhänger nicht
behaupten wollen; nach ihrer Meinung hat das freilich nnr die gegenüber¬
stehende feindliche Macht, die "Reaktion", verhindert. spottweise hat man
Wohl gesagt, der einzige wirkliche Nutzen, den der "Fortschritt" seinem Vater-


Der Oerfassungsstreil in j?renßen

Am 9. Juni 1861 erließ die „deutsche Fortschrittspartei in Preußen"
ein Programm, worin sie der Welt anzeigte, daß sie glücklich geboren sei; es
ist jenes Programm, woran die Partei angeblich unverändert und ohne Wanken
festgehalten hat, 1861^1889, achtundzwanzig Jahre laug, und zwar achtund¬
zwanzig Jahre, in denen die ganze übrige Welt unendlich Vieles und unendlich
Großes erfahren und gelernt hat. Der Inhalt dieses Programms darf daher
als bekannt vorausgesetzt werden; er ist übrigens derartig, daß, abgesehen von
wenigen Schlagwörtern, wie „Trennung des Staates von der Kirche," „zwei¬
jährige Dienstzeit" u. s, w., mich jeder Patriot dieses Schriftstück ohne viele
Bedenken hätte unterschreiben können. , Das ist aber erfahrungsmäßig bei den
meisten Parteiprogrammen der Fall; trenn man nur ihren Wortlaut betrachtet,
so können meist die Anhänger der verschiedensten Parteien sich darauf einige».
Aber es kommt darauf an, wie ein Programm ausgelegt, und besonders wie
es ausgeführt wird. (Jo-ze, 1» ton «im Me I» musicius, sagen die Franzosen.
Gewissermaßen eine Ergänzung zu jeuer ersten Veröffentlichung bildete der
Aufruf des Zentralwahlkvmitees der Fortschrittspartei, der am 29. September
desselben Jahres erschien. In diesem wird zwar eutschiedner gegen die
„absolutistisch-aristokratische Partei, die sich die konservative nennt" Stellung
genommen, gegen die „die große liberale Mehrheit des Landes einig zusammen¬
stehen" werde. Die Bezeichnung „Fortschritt" mied man damals in Wahl¬
aufrufen möglichst, ebenso wie heutzutage die Erben dieser Partei in solchen
Schriftstücken den Nnsdrnck „Freisinn" nur höchst ungern anwenden. -Aus
der Haltung des Schriftstückes konnte man jedoch sonst keinerlei Schluß ziehen
auf die Haltung, die die neue Partei einnehmen, auf die politische Thätigkeit,
die sie entfalten würde, eine Thätigkeit, die achtnndzwnnzig Jahre lang zur
Genüge und unwiderleglich für jeden, der fehen kaun und Null, gezeigt
hat, daß die Partei hervorgegangen ist ans „dem Geiste, der stets verneint."
Sonst freilich hat sie damals von dem Mephistopheles, den uns Goethe vor¬
führt, durchaus nichts an sich gehabt; namentlich bildete sie niemals


Einen Teil der Kraft,
Die stets das Böse will, und stets das Gute schasst.

Daß sie Böses gewollt hätten, wenigstens mit Bewußtsein, wolle» wir
den einseitigen, verrannteil Doktrinären, für die nur ihre Theorien, nicht aber
die großen Lehren der Geschichte vorhanden waren, und denen daher jegliches
richtige Urteil über weltbewegende Fragen völlig abging, alles hier nicht nach¬
sagen'. Daß die Partei aber jemals etwas Gutes für Preuße» oder für
Deutschland geschafft» habe, das werde» selbst ihre eifrigsten Allhänger nicht
behaupten wollen; nach ihrer Meinung hat das freilich nnr die gegenüber¬
stehende feindliche Macht, die „Reaktion", verhindert. spottweise hat man
Wohl gesagt, der einzige wirkliche Nutzen, den der „Fortschritt" seinem Vater-


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[0423] Der Oerfassungsstreil in j?renßen Am 9. Juni 1861 erließ die „deutsche Fortschrittspartei in Preußen" ein Programm, worin sie der Welt anzeigte, daß sie glücklich geboren sei; es ist jenes Programm, woran die Partei angeblich unverändert und ohne Wanken festgehalten hat, 1861^1889, achtundzwanzig Jahre laug, und zwar achtund¬ zwanzig Jahre, in denen die ganze übrige Welt unendlich Vieles und unendlich Großes erfahren und gelernt hat. Der Inhalt dieses Programms darf daher als bekannt vorausgesetzt werden; er ist übrigens derartig, daß, abgesehen von wenigen Schlagwörtern, wie „Trennung des Staates von der Kirche," „zwei¬ jährige Dienstzeit" u. s, w., mich jeder Patriot dieses Schriftstück ohne viele Bedenken hätte unterschreiben können. , Das ist aber erfahrungsmäßig bei den meisten Parteiprogrammen der Fall; trenn man nur ihren Wortlaut betrachtet, so können meist die Anhänger der verschiedensten Parteien sich darauf einige». Aber es kommt darauf an, wie ein Programm ausgelegt, und besonders wie es ausgeführt wird. (Jo-ze, 1» ton «im Me I» musicius, sagen die Franzosen. Gewissermaßen eine Ergänzung zu jeuer ersten Veröffentlichung bildete der Aufruf des Zentralwahlkvmitees der Fortschrittspartei, der am 29. September desselben Jahres erschien. In diesem wird zwar eutschiedner gegen die „absolutistisch-aristokratische Partei, die sich die konservative nennt" Stellung genommen, gegen die „die große liberale Mehrheit des Landes einig zusammen¬ stehen" werde. Die Bezeichnung „Fortschritt" mied man damals in Wahl¬ aufrufen möglichst, ebenso wie heutzutage die Erben dieser Partei in solchen Schriftstücken den Nnsdrnck „Freisinn" nur höchst ungern anwenden. -Aus der Haltung des Schriftstückes konnte man jedoch sonst keinerlei Schluß ziehen auf die Haltung, die die neue Partei einnehmen, auf die politische Thätigkeit, die sie entfalten würde, eine Thätigkeit, die achtnndzwnnzig Jahre lang zur Genüge und unwiderleglich für jeden, der fehen kaun und Null, gezeigt hat, daß die Partei hervorgegangen ist ans „dem Geiste, der stets verneint." Sonst freilich hat sie damals von dem Mephistopheles, den uns Goethe vor¬ führt, durchaus nichts an sich gehabt; namentlich bildete sie niemals Einen Teil der Kraft, Die stets das Böse will, und stets das Gute schasst. Daß sie Böses gewollt hätten, wenigstens mit Bewußtsein, wolle» wir den einseitigen, verrannteil Doktrinären, für die nur ihre Theorien, nicht aber die großen Lehren der Geschichte vorhanden waren, und denen daher jegliches richtige Urteil über weltbewegende Fragen völlig abging, alles hier nicht nach¬ sagen'. Daß die Partei aber jemals etwas Gutes für Preuße» oder für Deutschland geschafft» habe, das werde» selbst ihre eifrigsten Allhänger nicht behaupten wollen; nach ihrer Meinung hat das freilich nnr die gegenüber¬ stehende feindliche Macht, die „Reaktion", verhindert. spottweise hat man Wohl gesagt, der einzige wirkliche Nutzen, den der „Fortschritt" seinem Vater-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/423>, abgerufen am 28.06.2024.