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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Rede

Sie streckte ihre schönen schlanken Arme über dem Kopfe ans, gleichsam in
siegesstolzer sicherten, daß sie ihn wieder umfangen, ihn wieder ein ihr Herz
drücken, ihn wieder ihr Eigen nennen würde, Sie lachte plötzlich ganz laut
über ihre eigne Furcht, und ein unendlicher Jubel erfüllte ihre Brust. Er
kommt! er kommt! klang es in ihr; und wie von namenlosem Glück überwältigt,
sank sie auf ihr Lager zurück.

Wie hatte sie nur jemals daran zweifeln können? fragte sie sich nach
einer Weile selber, indem sie ihren Blick mit seligem Lächeln durch das Zimmer
gleiten ließ. Wie war sie nur auf solche Gedanken gekommen? Du lieber
Gott! Wenn er heute Morgen auch ein wenig sonderbar gewesen war, so war
das doch zu verzeihen. War sie selber nicht so verwirrt gewesen, daß sie kaum
wußte, was sie that? Und fühlte sie nicht schon jetzt ihr Herz so süß pochen?
Brannte ihr nicht das Blut in den Adern vor lauter Sehnsucht, ihn nur
wiederzusehen?

In demselben Augenblicke hörte sie einen Wagen draußen auf dein Wege
schwer vorüberrasseln. Sie lauschte, und wie ein Pfeil flog ihr ein Gedanke
durch den Kopf. Hier auf diesem We,ge kam ja auch die Schnellpost. Von
diesem Fenster aus oder noch besser hinter einem Vnsch im Walde mußte sie
sehen können, wer in der Post saß. Es war ja schon Heller Tag, da mußte
sie bald vorüberkommen. Wie, wenn sie sich am Wege aufstellte, sodaß sie nicht
gesehen werden konnte, und ruhig wartete, bis der Postwagen vorüberkam?

Unsinn! Was für Thorheiten waren das nur! Warum wollte sie sich
mit so unnötigen Befürchtungen quälen? Ach, und du lieber Gott, wie sah
sie nur aus! Und das ganze Zimmer! War sie denn völlig von Sinnen!
Wenn die Mutter hereingekommen wäre und sie in diesem Zustande gesehen
hätte! Die Giebelthnr war ja nicht einmal wieder verriegelt! Hatte sie denn
ihren Verstand verloren?

Mit atemloser Hast begann sie ringsumher aufzuräumen und jegliche
Spur der nächtlichen Begebenheit zu vertilgen. Darauf kleidete sie sich sorg¬
fältig um, zog ihren täglichen Anzug an, warf ihre beschmutzten Schuhe weit
unter ihr Bett und ordnete ihr Haar. Plötzlich siel ihr ein, daß sie gewiß
am Abend vergessen habe, das Fenster im Gastzimmer, durch das sie mit ihm
gesprochen hatte, zu schließen. Sie beruhigte sich aber damit, daß es der Wind
dann sicher zugeschlagen haben würde, und setzte sich auf einen Stuhl, um zu
überlegen, wie sie sich am besten zu verhalten habe, damit auch in Zukunft
alles herrlich geschehen und nichts ihr Glück stören könne.

Sie überlegte, ob sie ihm nicht auf irgeud eine Weise gleich Nachricht
geben könnte. Ihr Herz sagte ihr freilich, daß er sie am Abend zu derselben
Zeit und an demselben Ort aufsuchen wurde, an dem sie einander gestern ihr
Stelldichein gegeben hatten; aber sie hielt es sür unmöglich, so lange auf ein
Wiedersehen zu warten. Außerdem würden ja alle die Alten heute herkommen,


Grenzbotc" IV 188!) 49
Junge Rede

Sie streckte ihre schönen schlanken Arme über dem Kopfe ans, gleichsam in
siegesstolzer sicherten, daß sie ihn wieder umfangen, ihn wieder ein ihr Herz
drücken, ihn wieder ihr Eigen nennen würde, Sie lachte plötzlich ganz laut
über ihre eigne Furcht, und ein unendlicher Jubel erfüllte ihre Brust. Er
kommt! er kommt! klang es in ihr; und wie von namenlosem Glück überwältigt,
sank sie auf ihr Lager zurück.

Wie hatte sie nur jemals daran zweifeln können? fragte sie sich nach
einer Weile selber, indem sie ihren Blick mit seligem Lächeln durch das Zimmer
gleiten ließ. Wie war sie nur auf solche Gedanken gekommen? Du lieber
Gott! Wenn er heute Morgen auch ein wenig sonderbar gewesen war, so war
das doch zu verzeihen. War sie selber nicht so verwirrt gewesen, daß sie kaum
wußte, was sie that? Und fühlte sie nicht schon jetzt ihr Herz so süß pochen?
Brannte ihr nicht das Blut in den Adern vor lauter Sehnsucht, ihn nur
wiederzusehen?

In demselben Augenblicke hörte sie einen Wagen draußen auf dein Wege
schwer vorüberrasseln. Sie lauschte, und wie ein Pfeil flog ihr ein Gedanke
durch den Kopf. Hier auf diesem We,ge kam ja auch die Schnellpost. Von
diesem Fenster aus oder noch besser hinter einem Vnsch im Walde mußte sie
sehen können, wer in der Post saß. Es war ja schon Heller Tag, da mußte
sie bald vorüberkommen. Wie, wenn sie sich am Wege aufstellte, sodaß sie nicht
gesehen werden konnte, und ruhig wartete, bis der Postwagen vorüberkam?

Unsinn! Was für Thorheiten waren das nur! Warum wollte sie sich
mit so unnötigen Befürchtungen quälen? Ach, und du lieber Gott, wie sah
sie nur aus! Und das ganze Zimmer! War sie denn völlig von Sinnen!
Wenn die Mutter hereingekommen wäre und sie in diesem Zustande gesehen
hätte! Die Giebelthnr war ja nicht einmal wieder verriegelt! Hatte sie denn
ihren Verstand verloren?

Mit atemloser Hast begann sie ringsumher aufzuräumen und jegliche
Spur der nächtlichen Begebenheit zu vertilgen. Darauf kleidete sie sich sorg¬
fältig um, zog ihren täglichen Anzug an, warf ihre beschmutzten Schuhe weit
unter ihr Bett und ordnete ihr Haar. Plötzlich siel ihr ein, daß sie gewiß
am Abend vergessen habe, das Fenster im Gastzimmer, durch das sie mit ihm
gesprochen hatte, zu schließen. Sie beruhigte sich aber damit, daß es der Wind
dann sicher zugeschlagen haben würde, und setzte sich auf einen Stuhl, um zu
überlegen, wie sie sich am besten zu verhalten habe, damit auch in Zukunft
alles herrlich geschehen und nichts ihr Glück stören könne.

Sie überlegte, ob sie ihm nicht auf irgeud eine Weise gleich Nachricht
geben könnte. Ihr Herz sagte ihr freilich, daß er sie am Abend zu derselben
Zeit und an demselben Ort aufsuchen wurde, an dem sie einander gestern ihr
Stelldichein gegeben hatten; aber sie hielt es sür unmöglich, so lange auf ein
Wiedersehen zu warten. Außerdem würden ja alle die Alten heute herkommen,


Grenzbotc» IV 188!) 49
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[0393] Junge Rede Sie streckte ihre schönen schlanken Arme über dem Kopfe ans, gleichsam in siegesstolzer sicherten, daß sie ihn wieder umfangen, ihn wieder ein ihr Herz drücken, ihn wieder ihr Eigen nennen würde, Sie lachte plötzlich ganz laut über ihre eigne Furcht, und ein unendlicher Jubel erfüllte ihre Brust. Er kommt! er kommt! klang es in ihr; und wie von namenlosem Glück überwältigt, sank sie auf ihr Lager zurück. Wie hatte sie nur jemals daran zweifeln können? fragte sie sich nach einer Weile selber, indem sie ihren Blick mit seligem Lächeln durch das Zimmer gleiten ließ. Wie war sie nur auf solche Gedanken gekommen? Du lieber Gott! Wenn er heute Morgen auch ein wenig sonderbar gewesen war, so war das doch zu verzeihen. War sie selber nicht so verwirrt gewesen, daß sie kaum wußte, was sie that? Und fühlte sie nicht schon jetzt ihr Herz so süß pochen? Brannte ihr nicht das Blut in den Adern vor lauter Sehnsucht, ihn nur wiederzusehen? In demselben Augenblicke hörte sie einen Wagen draußen auf dein Wege schwer vorüberrasseln. Sie lauschte, und wie ein Pfeil flog ihr ein Gedanke durch den Kopf. Hier auf diesem We,ge kam ja auch die Schnellpost. Von diesem Fenster aus oder noch besser hinter einem Vnsch im Walde mußte sie sehen können, wer in der Post saß. Es war ja schon Heller Tag, da mußte sie bald vorüberkommen. Wie, wenn sie sich am Wege aufstellte, sodaß sie nicht gesehen werden konnte, und ruhig wartete, bis der Postwagen vorüberkam? Unsinn! Was für Thorheiten waren das nur! Warum wollte sie sich mit so unnötigen Befürchtungen quälen? Ach, und du lieber Gott, wie sah sie nur aus! Und das ganze Zimmer! War sie denn völlig von Sinnen! Wenn die Mutter hereingekommen wäre und sie in diesem Zustande gesehen hätte! Die Giebelthnr war ja nicht einmal wieder verriegelt! Hatte sie denn ihren Verstand verloren? Mit atemloser Hast begann sie ringsumher aufzuräumen und jegliche Spur der nächtlichen Begebenheit zu vertilgen. Darauf kleidete sie sich sorg¬ fältig um, zog ihren täglichen Anzug an, warf ihre beschmutzten Schuhe weit unter ihr Bett und ordnete ihr Haar. Plötzlich siel ihr ein, daß sie gewiß am Abend vergessen habe, das Fenster im Gastzimmer, durch das sie mit ihm gesprochen hatte, zu schließen. Sie beruhigte sich aber damit, daß es der Wind dann sicher zugeschlagen haben würde, und setzte sich auf einen Stuhl, um zu überlegen, wie sie sich am besten zu verhalten habe, damit auch in Zukunft alles herrlich geschehen und nichts ihr Glück stören könne. Sie überlegte, ob sie ihm nicht auf irgeud eine Weise gleich Nachricht geben könnte. Ihr Herz sagte ihr freilich, daß er sie am Abend zu derselben Zeit und an demselben Ort aufsuchen wurde, an dem sie einander gestern ihr Stelldichein gegeben hatten; aber sie hielt es sür unmöglich, so lange auf ein Wiedersehen zu warten. Außerdem würden ja alle die Alten heute herkommen, Grenzbotc» IV 188!) 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/393>, abgerufen am 28.06.2024.