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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Flugschriften aus Gsterreich

unterzieht er diese neue Richtung selbst einer strengen .Kritik, sie wird seiner
Meinung nach ihr Ziel nicht erreichen und Österreich so wenig Segen bringen,
wie der Versuch, die italienische und deutsche Einheit in ihrer Entwicklung
aufzuhalten. Denn zwischen Rußland und den Balkanstaaten bestehe schon seit
lange eine nationale Wahlverwandtschaft, die Österreich, das sich bei diesen
Volksstämmen niemals irgendwelcher Sympathien erfreute, nicht werde über¬
winden können. Nicht in dem .Kaiser in Wien, sondern in dem Zaren erblickten
die Montenegriner und Serben, die Bulgaren und selbst, die Rumänen ihr
natürliches Oberhaupt. Und so vermag denn der Verfasser auch die Opposition
der Deutschen gegen die Eroberung südslawischer Gebietsteile nicht so hart zu
verurteilen, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt: es war ein taktischer Fehler,
dies giebt er zu, aber er hört darin doch vor allein "einen patriotischen Auf¬
schrei der Besorgnis um die Zukunft des gemeinsamen Baterlandes." Hier¬
gegen ist zu bemerken, daß weder die österreichisch-ungarische Regierung uoch die
Flugschrift "Neue Bahnen" um eine Erwerbung jeuer slawischen Balkanstaaten
denkt. Es handelt sich nur darum, Rußland von ihnen fernzuhalten. Der
Schreiber dieser Zeilen hat vor Jahren in Paris Bulgaren und Rumänen
dieses Thema besprechen hören: "Wir wollen weder russisch noch österreichisch
sein ^ sagte ein Bulgare -- sondern selbständig; können wir dies nicht er-
reichen, dann ist uus allerdings Rußland noch lieber als Österreich, das uns
zu germmiisireu versuchen würde." Eine sehr bezeichnende Äußerung! Soll
nun Österreich-Ungarn ganz und gar als Großmacht abdanken, die Hände in
den Schoß legen und ruhig zusehen, wie unten weit in der Türkei die Völker
auf einander schlagen? Nein, seine Stellung und seine Geschichte legen ihm
Verpflichtungen auf, die es übernehmen muß, wenn auch bedeutende innere
Schwierigkeiten daraus erwachsen.

Sehr unmutig äußert sich der Versasser von "Neuösterreich" über die
Einflüsterungen "auswärtiger Politiker," die Österreich-Ungarn auf die "neuen
Bahnen" drängen. Es ist leicht zu verstehen, welche Politiker er da meint;
gleich darauf drückt er sich aber selber ganz deutlich aus: es sei von Deutsch¬
land unedel und unklug zugleich, wenn es bloß um größerer Sicherheit willen
Millionen von Deutschen dem Slawismns opfere. "Deutschland -- ruft er
aus -- betreibt heute die gleiche Politik wie die Franzosenkönige der Refor-
mationszeit. Diese schickten auch Heere den deutschen Protestanten zu Hilfe
und bereiteten zu Hause den eignen Hugenotten Bartholomäusnächte. Deutsch¬
land macht es heute ähnlich. Im eignen Lande kauft es die Slawen aus,
im Bundesstaat protegirt es die Verschlingung deutscher Stammesgenossen
durch dieselben Slawen."

Wie man sieht, geht der Verfasser bei diesem Vorwurf von der Annahme
aus, das neue System in Österreich bestehe nicht nur in einer Begünstigung
der'Slawen, sondern geradezu in einer Unterdrückung der Deutschen, an Stelle


Flugschriften aus Gsterreich

unterzieht er diese neue Richtung selbst einer strengen .Kritik, sie wird seiner
Meinung nach ihr Ziel nicht erreichen und Österreich so wenig Segen bringen,
wie der Versuch, die italienische und deutsche Einheit in ihrer Entwicklung
aufzuhalten. Denn zwischen Rußland und den Balkanstaaten bestehe schon seit
lange eine nationale Wahlverwandtschaft, die Österreich, das sich bei diesen
Volksstämmen niemals irgendwelcher Sympathien erfreute, nicht werde über¬
winden können. Nicht in dem .Kaiser in Wien, sondern in dem Zaren erblickten
die Montenegriner und Serben, die Bulgaren und selbst, die Rumänen ihr
natürliches Oberhaupt. Und so vermag denn der Verfasser auch die Opposition
der Deutschen gegen die Eroberung südslawischer Gebietsteile nicht so hart zu
verurteilen, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt: es war ein taktischer Fehler,
dies giebt er zu, aber er hört darin doch vor allein „einen patriotischen Auf¬
schrei der Besorgnis um die Zukunft des gemeinsamen Baterlandes." Hier¬
gegen ist zu bemerken, daß weder die österreichisch-ungarische Regierung uoch die
Flugschrift „Neue Bahnen" um eine Erwerbung jeuer slawischen Balkanstaaten
denkt. Es handelt sich nur darum, Rußland von ihnen fernzuhalten. Der
Schreiber dieser Zeilen hat vor Jahren in Paris Bulgaren und Rumänen
dieses Thema besprechen hören: „Wir wollen weder russisch noch österreichisch
sein ^ sagte ein Bulgare -- sondern selbständig; können wir dies nicht er-
reichen, dann ist uus allerdings Rußland noch lieber als Österreich, das uns
zu germmiisireu versuchen würde." Eine sehr bezeichnende Äußerung! Soll
nun Österreich-Ungarn ganz und gar als Großmacht abdanken, die Hände in
den Schoß legen und ruhig zusehen, wie unten weit in der Türkei die Völker
auf einander schlagen? Nein, seine Stellung und seine Geschichte legen ihm
Verpflichtungen auf, die es übernehmen muß, wenn auch bedeutende innere
Schwierigkeiten daraus erwachsen.

Sehr unmutig äußert sich der Versasser von „Neuösterreich" über die
Einflüsterungen „auswärtiger Politiker," die Österreich-Ungarn auf die „neuen
Bahnen" drängen. Es ist leicht zu verstehen, welche Politiker er da meint;
gleich darauf drückt er sich aber selber ganz deutlich aus: es sei von Deutsch¬
land unedel und unklug zugleich, wenn es bloß um größerer Sicherheit willen
Millionen von Deutschen dem Slawismns opfere. „Deutschland — ruft er
aus — betreibt heute die gleiche Politik wie die Franzosenkönige der Refor-
mationszeit. Diese schickten auch Heere den deutschen Protestanten zu Hilfe
und bereiteten zu Hause den eignen Hugenotten Bartholomäusnächte. Deutsch¬
land macht es heute ähnlich. Im eignen Lande kauft es die Slawen aus,
im Bundesstaat protegirt es die Verschlingung deutscher Stammesgenossen
durch dieselben Slawen."

Wie man sieht, geht der Verfasser bei diesem Vorwurf von der Annahme
aus, das neue System in Österreich bestehe nicht nur in einer Begünstigung
der'Slawen, sondern geradezu in einer Unterdrückung der Deutschen, an Stelle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/365>, abgerufen am 02.07.2024.