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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Junge Liebe

Es war Helles Johanniswetter, und die Sonne stand schon hoch am
Himmel; ihre breiten Strahlen tanzten über den Fußboden, und Martha zog
sich, um nicht gesehen zu werden, jedesmal zurück, wenn sie Schritte oder
Wagengerassel auf der Brücke vernahm.

Aber sie wurde oft gestört, denn an diesem Tage wurde großer Jahrmarkt
in dem Thal zwischen den Hügeln hinter dem Walde abgehalten, und ein
Wagen unes dem andern mit geputzten Leuten ans allen Dörfern des ganzen
Küstenstriches rollte vorüber. Wenn der Wind herüberstand, vernahm man
auch hin und wieder einzelne Klänge von Musik.

In dem Nebenzimmer, zu dem die Thür nnr angelehnt stand, kramte die
Mutter umher. Mit dieser ging offenbar etwas ganz Ungewöhnliches vor.
Fortwährend ließ sich ein wirres Lärmen und Rasseln vernehmen. Bald ließ
sie eine Schere, bald eine ganze Schublade zu Boden fallen, und ihr halb¬
lautes Selbstgespräch wurde jeden Augenblick durch ein angestrengtes Stöhnen
und Pusten unterbrochen, als wäre sie im Begriff, in ihrem eignen Fett zu ersticken.

Nach vielen sorgfältigen Erwägungen hatte nämlich der Kind beschlossen,
wo möglich noch auf seine alten Tage aus dem Jahrmarkt Kapital zu schlagen.
Eigentlich war es der alte Violinspieler Franz, der mit seiner jahrelangen Er¬
fahrung sie mit der Aussicht auf einen glänzenden Verdienst dazu bewogen
hatte. Nachdem sie aber die Sache einen ganzen Monat lang Abend für Abend
genau und nach alleil Seiten hin erwogen hatten, waren sie endlich zu dem
Entschluß gekommen, ihr Glück zu versuchen, und hatten die Rollen folgender¬
maßen unter sich verteilt. Die des Violinspielers war von vornherein gegeben.
Lars Einange und Anders Kaagmand dagegen sollten gemeinsam eine Damen-
schankel übernehmen, Zacharias und Martin ein kleines Bierzelt, während dem
schwermütigen Steinhauer Sören, auf dessen Verstand man sich nicht ganz ver¬
lassen konnte, eine Kiste mit Zigarren zum Verkauf überlassen wurde. Ellen
hatte man mit großer Mühe überredet, einen Verkauf von Kaneelstangen und
Weizenbrod einzurichten, und jetzt war sie schon seit drei Stunden damit be¬
schäftigt, die letzte Hand an ihre Vorbereitungen zu legen.

Endlich trat sie aus dem Zimmer. Sie war sehr geputzt. Ein alter
viel zu kleiner Hut mit dunkelroten Wollblumen und lavendelblnuem Band saß
schief auf dem graumelirten Haar; einen dünnen, geblümten Schawl hatte sie
mit der verkehrten Seite nach außen umgebunden. Eine große Stahlucidel war
unter dem Kinn eingeklemmt, und die unförmlichen Füße waren in Hellgrane
Zeugstiefel geschnürt.

Auf der Schwelle blieb sie eine Weile stehen und sah mit leerem, ver¬
zagten Blick um sich. Als sie jedoch Martha gewahrte, trat sie, indem
sie sich mit der Hand auf das Fensterbrett stützte, einen Schritt ins Zimmer
und betrachtete sie aufmerksam. Es war, als arbeitete sich in diesem kranken
Hirn langsam ein Gedanke durch, während sie die Tochter so dastehe"


Junge Liebe

Es war Helles Johanniswetter, und die Sonne stand schon hoch am
Himmel; ihre breiten Strahlen tanzten über den Fußboden, und Martha zog
sich, um nicht gesehen zu werden, jedesmal zurück, wenn sie Schritte oder
Wagengerassel auf der Brücke vernahm.

Aber sie wurde oft gestört, denn an diesem Tage wurde großer Jahrmarkt
in dem Thal zwischen den Hügeln hinter dem Walde abgehalten, und ein
Wagen unes dem andern mit geputzten Leuten ans allen Dörfern des ganzen
Küstenstriches rollte vorüber. Wenn der Wind herüberstand, vernahm man
auch hin und wieder einzelne Klänge von Musik.

In dem Nebenzimmer, zu dem die Thür nnr angelehnt stand, kramte die
Mutter umher. Mit dieser ging offenbar etwas ganz Ungewöhnliches vor.
Fortwährend ließ sich ein wirres Lärmen und Rasseln vernehmen. Bald ließ
sie eine Schere, bald eine ganze Schublade zu Boden fallen, und ihr halb¬
lautes Selbstgespräch wurde jeden Augenblick durch ein angestrengtes Stöhnen
und Pusten unterbrochen, als wäre sie im Begriff, in ihrem eignen Fett zu ersticken.

Nach vielen sorgfältigen Erwägungen hatte nämlich der Kind beschlossen,
wo möglich noch auf seine alten Tage aus dem Jahrmarkt Kapital zu schlagen.
Eigentlich war es der alte Violinspieler Franz, der mit seiner jahrelangen Er¬
fahrung sie mit der Aussicht auf einen glänzenden Verdienst dazu bewogen
hatte. Nachdem sie aber die Sache einen ganzen Monat lang Abend für Abend
genau und nach alleil Seiten hin erwogen hatten, waren sie endlich zu dem
Entschluß gekommen, ihr Glück zu versuchen, und hatten die Rollen folgender¬
maßen unter sich verteilt. Die des Violinspielers war von vornherein gegeben.
Lars Einange und Anders Kaagmand dagegen sollten gemeinsam eine Damen-
schankel übernehmen, Zacharias und Martin ein kleines Bierzelt, während dem
schwermütigen Steinhauer Sören, auf dessen Verstand man sich nicht ganz ver¬
lassen konnte, eine Kiste mit Zigarren zum Verkauf überlassen wurde. Ellen
hatte man mit großer Mühe überredet, einen Verkauf von Kaneelstangen und
Weizenbrod einzurichten, und jetzt war sie schon seit drei Stunden damit be¬
schäftigt, die letzte Hand an ihre Vorbereitungen zu legen.

Endlich trat sie aus dem Zimmer. Sie war sehr geputzt. Ein alter
viel zu kleiner Hut mit dunkelroten Wollblumen und lavendelblnuem Band saß
schief auf dem graumelirten Haar; einen dünnen, geblümten Schawl hatte sie
mit der verkehrten Seite nach außen umgebunden. Eine große Stahlucidel war
unter dem Kinn eingeklemmt, und die unförmlichen Füße waren in Hellgrane
Zeugstiefel geschnürt.

Auf der Schwelle blieb sie eine Weile stehen und sah mit leerem, ver¬
zagten Blick um sich. Als sie jedoch Martha gewahrte, trat sie, indem
sie sich mit der Hand auf das Fensterbrett stützte, einen Schritt ins Zimmer
und betrachtete sie aufmerksam. Es war, als arbeitete sich in diesem kranken
Hirn langsam ein Gedanke durch, während sie die Tochter so dastehe»


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[0298] Junge Liebe Es war Helles Johanniswetter, und die Sonne stand schon hoch am Himmel; ihre breiten Strahlen tanzten über den Fußboden, und Martha zog sich, um nicht gesehen zu werden, jedesmal zurück, wenn sie Schritte oder Wagengerassel auf der Brücke vernahm. Aber sie wurde oft gestört, denn an diesem Tage wurde großer Jahrmarkt in dem Thal zwischen den Hügeln hinter dem Walde abgehalten, und ein Wagen unes dem andern mit geputzten Leuten ans allen Dörfern des ganzen Küstenstriches rollte vorüber. Wenn der Wind herüberstand, vernahm man auch hin und wieder einzelne Klänge von Musik. In dem Nebenzimmer, zu dem die Thür nnr angelehnt stand, kramte die Mutter umher. Mit dieser ging offenbar etwas ganz Ungewöhnliches vor. Fortwährend ließ sich ein wirres Lärmen und Rasseln vernehmen. Bald ließ sie eine Schere, bald eine ganze Schublade zu Boden fallen, und ihr halb¬ lautes Selbstgespräch wurde jeden Augenblick durch ein angestrengtes Stöhnen und Pusten unterbrochen, als wäre sie im Begriff, in ihrem eignen Fett zu ersticken. Nach vielen sorgfältigen Erwägungen hatte nämlich der Kind beschlossen, wo möglich noch auf seine alten Tage aus dem Jahrmarkt Kapital zu schlagen. Eigentlich war es der alte Violinspieler Franz, der mit seiner jahrelangen Er¬ fahrung sie mit der Aussicht auf einen glänzenden Verdienst dazu bewogen hatte. Nachdem sie aber die Sache einen ganzen Monat lang Abend für Abend genau und nach alleil Seiten hin erwogen hatten, waren sie endlich zu dem Entschluß gekommen, ihr Glück zu versuchen, und hatten die Rollen folgender¬ maßen unter sich verteilt. Die des Violinspielers war von vornherein gegeben. Lars Einange und Anders Kaagmand dagegen sollten gemeinsam eine Damen- schankel übernehmen, Zacharias und Martin ein kleines Bierzelt, während dem schwermütigen Steinhauer Sören, auf dessen Verstand man sich nicht ganz ver¬ lassen konnte, eine Kiste mit Zigarren zum Verkauf überlassen wurde. Ellen hatte man mit großer Mühe überredet, einen Verkauf von Kaneelstangen und Weizenbrod einzurichten, und jetzt war sie schon seit drei Stunden damit be¬ schäftigt, die letzte Hand an ihre Vorbereitungen zu legen. Endlich trat sie aus dem Zimmer. Sie war sehr geputzt. Ein alter viel zu kleiner Hut mit dunkelroten Wollblumen und lavendelblnuem Band saß schief auf dem graumelirten Haar; einen dünnen, geblümten Schawl hatte sie mit der verkehrten Seite nach außen umgebunden. Eine große Stahlucidel war unter dem Kinn eingeklemmt, und die unförmlichen Füße waren in Hellgrane Zeugstiefel geschnürt. Auf der Schwelle blieb sie eine Weile stehen und sah mit leerem, ver¬ zagten Blick um sich. Als sie jedoch Martha gewahrte, trat sie, indem sie sich mit der Hand auf das Fensterbrett stützte, einen Schritt ins Zimmer und betrachtete sie aufmerksam. Es war, als arbeitete sich in diesem kranken Hirn langsam ein Gedanke durch, während sie die Tochter so dastehe»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/298>, abgerufen am 28.06.2024.