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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Sternenhimmel. Oft gewahrte es ihr auch eine eigenartige Befriedigung, sich
mit der feinste" Sonde ihrer Gedanken in ihre eigne Herkunft zu vertiefen;
mit unwiderstehlicher Macht trieb es sie, den geheimnisvollen Schleier zu
lüften, der über ihrem Ursprünge lag. Aber wenn sie nur an ihre Mutter
dachte, an die schlaffen Züge und die erstorbenen Augen, schauderte sie entsetzt
zusammen. Es war ihr, als könne sie ihr trostloses Schicksal, ihr hoffnungs¬
loses Urteil in diesem Blicke lesen, der in seiner stummen Starrheit erzählte,
daß es für das Glück nur einen Preis giebt: das Leben.

In dem Winter, wo Martha ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte, ver¬
sank sie in tiefe Melancholie. Ihre alten, treuen Freunde, die sie schon lauge
mit bedenklichem Kopfschütteln beobachtet und sich vergebens nach dem Grunde
ihres veränderten Wesens gefragt hatten, wurde" schließlich von wirklicher
Angst erfaßt. Sie war vielleicht jetzt mehr denn je ihr gemeinsamer Aug¬
apfel, ihre einzige Freude und Hoffnung. Sie steckten ihre alten Köpfe zu¬
sammen, um ausfindig zu machen, was in aller Welt ihr kleines Herz be-
drücken könnte.

Aber Lars Einauge, der pfiffiger war als die andern, und Wohl
bewandert in den Zufällen des Lebeus, hatte mit seinem einen Auge mehr
gesehen, als die andern mit all ihren Angen, und eines Tages im Vorfrüh¬
ling, als in Wald und Feld alles um die Wette jauchzte und jubelte, glaubte
er, daß die passende Gelegenheit gekommen sei, ein ernstes Wort mit ihr
zu reden.

Es war eines Nachmittags zur Dämmerstunde, sie saß draußen vor der
offenen Thür auf den Fliesen und merkte es nicht, daß er über den Kies
dahergeschritten kam. Sie saß bleich zwischen hellgrünen Blättern und
den blauen Anemonen und erhob die Augen uicht von dem Saum des kleinen,
grünen Rockes, der in ihrem Schoß ruhte. Erst als Lars sie fast berührte,
blickte sie auf. Sie reichte ihm freundlich die Hand und versuchte mit ihrem
alten, freundlichen Lächeln zu lachen, aber es gelang ihr nicht. Und als er
ihr in die Augen blicken wollte, wandte sie sich ab, denn sie hatte geweint.

Er schüttelte traurig seine grauen Locken, schaute sie mit seinem zusammen¬
gekniffenen Ange an und setzte sich dann still neben sie auf die Treppenstufen.
Lcmgscun und sinnend stopfte er seine kurze Pfeife. Aber selbst als sie schon
brannte, saß er noch lange da und sah hinüber zu den großen, weißlichroteu
Wolke", die ihre schweren Massen über den fernen Waldessaum wälzten.

Seufzend dachte er zurück an die Zeiten, wo sie ihm noch wie ein junges
Zicklein entgegengespruugen war, sobald sie seinen humpelndem Schritt über der
Brücke vernahm; wie sie dan" gefällig seine Krücke ergriffen und in die Ecke
gestellt, sich auf seiue Kniee gesetzt und den Schweiß von seiner alten, gefurchten
Stirn getrocknet hatte. Er erinnerte sich der vielen fröhlichen Stunden, die
sie vertraulich mit einander verschwatzt hatten, ihres schelmischen Lächelns,


Sternenhimmel. Oft gewahrte es ihr auch eine eigenartige Befriedigung, sich
mit der feinste» Sonde ihrer Gedanken in ihre eigne Herkunft zu vertiefen;
mit unwiderstehlicher Macht trieb es sie, den geheimnisvollen Schleier zu
lüften, der über ihrem Ursprünge lag. Aber wenn sie nur an ihre Mutter
dachte, an die schlaffen Züge und die erstorbenen Augen, schauderte sie entsetzt
zusammen. Es war ihr, als könne sie ihr trostloses Schicksal, ihr hoffnungs¬
loses Urteil in diesem Blicke lesen, der in seiner stummen Starrheit erzählte,
daß es für das Glück nur einen Preis giebt: das Leben.

In dem Winter, wo Martha ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte, ver¬
sank sie in tiefe Melancholie. Ihre alten, treuen Freunde, die sie schon lauge
mit bedenklichem Kopfschütteln beobachtet und sich vergebens nach dem Grunde
ihres veränderten Wesens gefragt hatten, wurde» schließlich von wirklicher
Angst erfaßt. Sie war vielleicht jetzt mehr denn je ihr gemeinsamer Aug¬
apfel, ihre einzige Freude und Hoffnung. Sie steckten ihre alten Köpfe zu¬
sammen, um ausfindig zu machen, was in aller Welt ihr kleines Herz be-
drücken könnte.

Aber Lars Einauge, der pfiffiger war als die andern, und Wohl
bewandert in den Zufällen des Lebeus, hatte mit seinem einen Auge mehr
gesehen, als die andern mit all ihren Angen, und eines Tages im Vorfrüh¬
ling, als in Wald und Feld alles um die Wette jauchzte und jubelte, glaubte
er, daß die passende Gelegenheit gekommen sei, ein ernstes Wort mit ihr
zu reden.

Es war eines Nachmittags zur Dämmerstunde, sie saß draußen vor der
offenen Thür auf den Fliesen und merkte es nicht, daß er über den Kies
dahergeschritten kam. Sie saß bleich zwischen hellgrünen Blättern und
den blauen Anemonen und erhob die Augen uicht von dem Saum des kleinen,
grünen Rockes, der in ihrem Schoß ruhte. Erst als Lars sie fast berührte,
blickte sie auf. Sie reichte ihm freundlich die Hand und versuchte mit ihrem
alten, freundlichen Lächeln zu lachen, aber es gelang ihr nicht. Und als er
ihr in die Augen blicken wollte, wandte sie sich ab, denn sie hatte geweint.

Er schüttelte traurig seine grauen Locken, schaute sie mit seinem zusammen¬
gekniffenen Ange an und setzte sich dann still neben sie auf die Treppenstufen.
Lcmgscun und sinnend stopfte er seine kurze Pfeife. Aber selbst als sie schon
brannte, saß er noch lange da und sah hinüber zu den großen, weißlichroteu
Wolke», die ihre schweren Massen über den fernen Waldessaum wälzten.

Seufzend dachte er zurück an die Zeiten, wo sie ihm noch wie ein junges
Zicklein entgegengespruugen war, sobald sie seinen humpelndem Schritt über der
Brücke vernahm; wie sie dan» gefällig seine Krücke ergriffen und in die Ecke
gestellt, sich auf seiue Kniee gesetzt und den Schweiß von seiner alten, gefurchten
Stirn getrocknet hatte. Er erinnerte sich der vielen fröhlichen Stunden, die
sie vertraulich mit einander verschwatzt hatten, ihres schelmischen Lächelns,


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[0248] Sternenhimmel. Oft gewahrte es ihr auch eine eigenartige Befriedigung, sich mit der feinste» Sonde ihrer Gedanken in ihre eigne Herkunft zu vertiefen; mit unwiderstehlicher Macht trieb es sie, den geheimnisvollen Schleier zu lüften, der über ihrem Ursprünge lag. Aber wenn sie nur an ihre Mutter dachte, an die schlaffen Züge und die erstorbenen Augen, schauderte sie entsetzt zusammen. Es war ihr, als könne sie ihr trostloses Schicksal, ihr hoffnungs¬ loses Urteil in diesem Blicke lesen, der in seiner stummen Starrheit erzählte, daß es für das Glück nur einen Preis giebt: das Leben. In dem Winter, wo Martha ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte, ver¬ sank sie in tiefe Melancholie. Ihre alten, treuen Freunde, die sie schon lauge mit bedenklichem Kopfschütteln beobachtet und sich vergebens nach dem Grunde ihres veränderten Wesens gefragt hatten, wurde» schließlich von wirklicher Angst erfaßt. Sie war vielleicht jetzt mehr denn je ihr gemeinsamer Aug¬ apfel, ihre einzige Freude und Hoffnung. Sie steckten ihre alten Köpfe zu¬ sammen, um ausfindig zu machen, was in aller Welt ihr kleines Herz be- drücken könnte. Aber Lars Einauge, der pfiffiger war als die andern, und Wohl bewandert in den Zufällen des Lebeus, hatte mit seinem einen Auge mehr gesehen, als die andern mit all ihren Angen, und eines Tages im Vorfrüh¬ ling, als in Wald und Feld alles um die Wette jauchzte und jubelte, glaubte er, daß die passende Gelegenheit gekommen sei, ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Es war eines Nachmittags zur Dämmerstunde, sie saß draußen vor der offenen Thür auf den Fliesen und merkte es nicht, daß er über den Kies dahergeschritten kam. Sie saß bleich zwischen hellgrünen Blättern und den blauen Anemonen und erhob die Augen uicht von dem Saum des kleinen, grünen Rockes, der in ihrem Schoß ruhte. Erst als Lars sie fast berührte, blickte sie auf. Sie reichte ihm freundlich die Hand und versuchte mit ihrem alten, freundlichen Lächeln zu lachen, aber es gelang ihr nicht. Und als er ihr in die Augen blicken wollte, wandte sie sich ab, denn sie hatte geweint. Er schüttelte traurig seine grauen Locken, schaute sie mit seinem zusammen¬ gekniffenen Ange an und setzte sich dann still neben sie auf die Treppenstufen. Lcmgscun und sinnend stopfte er seine kurze Pfeife. Aber selbst als sie schon brannte, saß er noch lange da und sah hinüber zu den großen, weißlichroteu Wolke», die ihre schweren Massen über den fernen Waldessaum wälzten. Seufzend dachte er zurück an die Zeiten, wo sie ihm noch wie ein junges Zicklein entgegengespruugen war, sobald sie seinen humpelndem Schritt über der Brücke vernahm; wie sie dan» gefällig seine Krücke ergriffen und in die Ecke gestellt, sich auf seiue Kniee gesetzt und den Schweiß von seiner alten, gefurchten Stirn getrocknet hatte. Er erinnerte sich der vielen fröhlichen Stunden, die sie vertraulich mit einander verschwatzt hatten, ihres schelmischen Lächelns,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/248>, abgerufen am 30.06.2024.