Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die französische Emigration und die öffentliche Meinung in Deutschland

träglichsteu sei, sondern ob das allgemeine Völkerrecht den übrigen europäischen
Staaten das Recht zugestehe, der französischen Nation mit Gewalt eine andre,
wenn auch noch so vollkommne Konstitution aufzudrängen, als die sie selbst
wolle, und nur wer die ersten, hier in Betracht kommenden Grundwahrheiten
ableugne, werde diese Frage mit ja beantworten können.

Und die Gegner? Statt sich allzu lauge mit dem undankbaren Geschäft
aufzuhalten, diese ansprechende und blendende Lehre von der Uuantnstbnrkeit
eines Volkswillens im Prinzip zu bekämpfen, warfen hier gern ihren Haupt-
nachdruck darauf, zu bestreiten, daß in dem besondern Falle, um deu sich alles
drehte, ein Volkswille in Wahrheit vorhanden sei. Die französische Konstitution
sei von einer Fnktivu, in einer Versammlung, die sich durch eigne Willkür die
Vollmacht angemaßt habe, im Namen deS Volkes eine neue Verfassung zu
schaffen, dem Volke aufgedrängt worden. Warum aber das Volk sich gegen
den Zwang dieser Faktion nicht erhebe? Weil ihm der Führer fehle! Eben
mit dem Eintritt der Emigranten in Frankreich könne ihm dieser Führer er¬
scheinen. Und diese Emigration überhaupt, sie war von Wert als ein lebendiger
Gegenbeweis gegen den allgemeinen Willen, auf dem die französische Verfassung
beruhen solle. Welche bedeutenden, vornehmen und achtbaren Elemente der
Nation seien hier in entschiedenstem Widerspruch gegen die Konstitution zu er¬
blicken, wahre Patrioten, sest entschlossen, den Staat zu retten oder sich unter
den Trümmern desselben begraben zu lassen. Das Hamburger politische Journal
that sich etwas zu gute auf den Einfall, seine Berichte über die Emigration
unter einer eigens dazu erfundnen Rubrik "Auswärtiges Frankreich" zu bringen;
dieses auswärtige Frankreich werde, dein großen, gesund gebliebenen Teile der
daheimgebliebenen Franzosen die Hand reichend, das inländische zur Ordnung
bringen.

Eilt besondres Wagstllck unternimmt el" Aufsatz in Aloys Hvfmcuins
Wiener Zeitschrift. Ob die Emigranten und ihre Sinnesgenossen wirklich, wie
die Freunde der Revolution unaufhörlich behaupteten, nur eine Million, gegen¬
über vierundzwnnzig Millionen verträten, läßt er beiseite; ihr Recht aber, auch
als Minderheit in Frankreich einzubrechen, sucht er sogar mit Rousseaus
Prinzipien in Einklang zu bringen. Schon war auch vou andern -- einem
Burke, einem Justus Möser -- das Recht, durch bloßen Mehrheitsbeschluß
die alte Verfassung einer Nation mit einer neuen zu vertauschen -- nach der
Sprache der Zeit: deu alte" Gesellschaftsvertrag aufzulösen und einen ganz
neuen zu schließen -- der Einwand erhoben worden, daß ja nur auf Grund
des bisherigen Gesellschaftsvertrages die Nation eine (politische) Nation aus¬
gemacht habe und nach Auflösung desselben, unter der Masse der ver¬
einzelten Individuen, keine bindenden Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden könnten.
So behauptete denn jetzt die Wiener Zeitschrift: Wohl stehe kein rechtliches
Hindernis im Wege, daß der größere Teil einer Nation sich unter einer Kor-


Die französische Emigration und die öffentliche Meinung in Deutschland

träglichsteu sei, sondern ob das allgemeine Völkerrecht den übrigen europäischen
Staaten das Recht zugestehe, der französischen Nation mit Gewalt eine andre,
wenn auch noch so vollkommne Konstitution aufzudrängen, als die sie selbst
wolle, und nur wer die ersten, hier in Betracht kommenden Grundwahrheiten
ableugne, werde diese Frage mit ja beantworten können.

Und die Gegner? Statt sich allzu lauge mit dem undankbaren Geschäft
aufzuhalten, diese ansprechende und blendende Lehre von der Uuantnstbnrkeit
eines Volkswillens im Prinzip zu bekämpfen, warfen hier gern ihren Haupt-
nachdruck darauf, zu bestreiten, daß in dem besondern Falle, um deu sich alles
drehte, ein Volkswille in Wahrheit vorhanden sei. Die französische Konstitution
sei von einer Fnktivu, in einer Versammlung, die sich durch eigne Willkür die
Vollmacht angemaßt habe, im Namen deS Volkes eine neue Verfassung zu
schaffen, dem Volke aufgedrängt worden. Warum aber das Volk sich gegen
den Zwang dieser Faktion nicht erhebe? Weil ihm der Führer fehle! Eben
mit dem Eintritt der Emigranten in Frankreich könne ihm dieser Führer er¬
scheinen. Und diese Emigration überhaupt, sie war von Wert als ein lebendiger
Gegenbeweis gegen den allgemeinen Willen, auf dem die französische Verfassung
beruhen solle. Welche bedeutenden, vornehmen und achtbaren Elemente der
Nation seien hier in entschiedenstem Widerspruch gegen die Konstitution zu er¬
blicken, wahre Patrioten, sest entschlossen, den Staat zu retten oder sich unter
den Trümmern desselben begraben zu lassen. Das Hamburger politische Journal
that sich etwas zu gute auf den Einfall, seine Berichte über die Emigration
unter einer eigens dazu erfundnen Rubrik „Auswärtiges Frankreich" zu bringen;
dieses auswärtige Frankreich werde, dein großen, gesund gebliebenen Teile der
daheimgebliebenen Franzosen die Hand reichend, das inländische zur Ordnung
bringen.

Eilt besondres Wagstllck unternimmt el» Aufsatz in Aloys Hvfmcuins
Wiener Zeitschrift. Ob die Emigranten und ihre Sinnesgenossen wirklich, wie
die Freunde der Revolution unaufhörlich behaupteten, nur eine Million, gegen¬
über vierundzwnnzig Millionen verträten, läßt er beiseite; ihr Recht aber, auch
als Minderheit in Frankreich einzubrechen, sucht er sogar mit Rousseaus
Prinzipien in Einklang zu bringen. Schon war auch vou andern — einem
Burke, einem Justus Möser — das Recht, durch bloßen Mehrheitsbeschluß
die alte Verfassung einer Nation mit einer neuen zu vertauschen — nach der
Sprache der Zeit: deu alte» Gesellschaftsvertrag aufzulösen und einen ganz
neuen zu schließen — der Einwand erhoben worden, daß ja nur auf Grund
des bisherigen Gesellschaftsvertrages die Nation eine (politische) Nation aus¬
gemacht habe und nach Auflösung desselben, unter der Masse der ver¬
einzelten Individuen, keine bindenden Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden könnten.
So behauptete denn jetzt die Wiener Zeitschrift: Wohl stehe kein rechtliches
Hindernis im Wege, daß der größere Teil einer Nation sich unter einer Kor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206179"/>
          <fw type="header" place="top"> Die französische Emigration und die öffentliche Meinung in Deutschland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_649" prev="#ID_648"> träglichsteu sei, sondern ob das allgemeine Völkerrecht den übrigen europäischen<lb/>
Staaten das Recht zugestehe, der französischen Nation mit Gewalt eine andre,<lb/>
wenn auch noch so vollkommne Konstitution aufzudrängen, als die sie selbst<lb/>
wolle, und nur wer die ersten, hier in Betracht kommenden Grundwahrheiten<lb/>
ableugne, werde diese Frage mit ja beantworten können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_650"> Und die Gegner? Statt sich allzu lauge mit dem undankbaren Geschäft<lb/>
aufzuhalten, diese ansprechende und blendende Lehre von der Uuantnstbnrkeit<lb/>
eines Volkswillens im Prinzip zu bekämpfen, warfen hier gern ihren Haupt-<lb/>
nachdruck darauf, zu bestreiten, daß in dem besondern Falle, um deu sich alles<lb/>
drehte, ein Volkswille in Wahrheit vorhanden sei. Die französische Konstitution<lb/>
sei von einer Fnktivu, in einer Versammlung, die sich durch eigne Willkür die<lb/>
Vollmacht angemaßt habe, im Namen deS Volkes eine neue Verfassung zu<lb/>
schaffen, dem Volke aufgedrängt worden. Warum aber das Volk sich gegen<lb/>
den Zwang dieser Faktion nicht erhebe? Weil ihm der Führer fehle! Eben<lb/>
mit dem Eintritt der Emigranten in Frankreich könne ihm dieser Führer er¬<lb/>
scheinen. Und diese Emigration überhaupt, sie war von Wert als ein lebendiger<lb/>
Gegenbeweis gegen den allgemeinen Willen, auf dem die französische Verfassung<lb/>
beruhen solle. Welche bedeutenden, vornehmen und achtbaren Elemente der<lb/>
Nation seien hier in entschiedenstem Widerspruch gegen die Konstitution zu er¬<lb/>
blicken, wahre Patrioten, sest entschlossen, den Staat zu retten oder sich unter<lb/>
den Trümmern desselben begraben zu lassen. Das Hamburger politische Journal<lb/>
that sich etwas zu gute auf den Einfall, seine Berichte über die Emigration<lb/>
unter einer eigens dazu erfundnen Rubrik &#x201E;Auswärtiges Frankreich" zu bringen;<lb/>
dieses auswärtige Frankreich werde, dein großen, gesund gebliebenen Teile der<lb/>
daheimgebliebenen Franzosen die Hand reichend, das inländische zur Ordnung<lb/>
bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_651" next="#ID_652"> Eilt besondres Wagstllck unternimmt el» Aufsatz in Aloys Hvfmcuins<lb/>
Wiener Zeitschrift. Ob die Emigranten und ihre Sinnesgenossen wirklich, wie<lb/>
die Freunde der Revolution unaufhörlich behaupteten, nur eine Million, gegen¬<lb/>
über vierundzwnnzig Millionen verträten, läßt er beiseite; ihr Recht aber, auch<lb/>
als Minderheit in Frankreich einzubrechen, sucht er sogar mit Rousseaus<lb/>
Prinzipien in Einklang zu bringen. Schon war auch vou andern &#x2014; einem<lb/>
Burke, einem Justus Möser &#x2014; das Recht, durch bloßen Mehrheitsbeschluß<lb/>
die alte Verfassung einer Nation mit einer neuen zu vertauschen &#x2014; nach der<lb/>
Sprache der Zeit: deu alte» Gesellschaftsvertrag aufzulösen und einen ganz<lb/>
neuen zu schließen &#x2014; der Einwand erhoben worden, daß ja nur auf Grund<lb/>
des bisherigen Gesellschaftsvertrages die Nation eine (politische) Nation aus¬<lb/>
gemacht habe und nach Auflösung desselben, unter der Masse der ver¬<lb/>
einzelten Individuen, keine bindenden Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden könnten.<lb/>
So behauptete denn jetzt die Wiener Zeitschrift: Wohl stehe kein rechtliches<lb/>
Hindernis im Wege, daß der größere Teil einer Nation sich unter einer Kor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] Die französische Emigration und die öffentliche Meinung in Deutschland träglichsteu sei, sondern ob das allgemeine Völkerrecht den übrigen europäischen Staaten das Recht zugestehe, der französischen Nation mit Gewalt eine andre, wenn auch noch so vollkommne Konstitution aufzudrängen, als die sie selbst wolle, und nur wer die ersten, hier in Betracht kommenden Grundwahrheiten ableugne, werde diese Frage mit ja beantworten können. Und die Gegner? Statt sich allzu lauge mit dem undankbaren Geschäft aufzuhalten, diese ansprechende und blendende Lehre von der Uuantnstbnrkeit eines Volkswillens im Prinzip zu bekämpfen, warfen hier gern ihren Haupt- nachdruck darauf, zu bestreiten, daß in dem besondern Falle, um deu sich alles drehte, ein Volkswille in Wahrheit vorhanden sei. Die französische Konstitution sei von einer Fnktivu, in einer Versammlung, die sich durch eigne Willkür die Vollmacht angemaßt habe, im Namen deS Volkes eine neue Verfassung zu schaffen, dem Volke aufgedrängt worden. Warum aber das Volk sich gegen den Zwang dieser Faktion nicht erhebe? Weil ihm der Führer fehle! Eben mit dem Eintritt der Emigranten in Frankreich könne ihm dieser Führer er¬ scheinen. Und diese Emigration überhaupt, sie war von Wert als ein lebendiger Gegenbeweis gegen den allgemeinen Willen, auf dem die französische Verfassung beruhen solle. Welche bedeutenden, vornehmen und achtbaren Elemente der Nation seien hier in entschiedenstem Widerspruch gegen die Konstitution zu er¬ blicken, wahre Patrioten, sest entschlossen, den Staat zu retten oder sich unter den Trümmern desselben begraben zu lassen. Das Hamburger politische Journal that sich etwas zu gute auf den Einfall, seine Berichte über die Emigration unter einer eigens dazu erfundnen Rubrik „Auswärtiges Frankreich" zu bringen; dieses auswärtige Frankreich werde, dein großen, gesund gebliebenen Teile der daheimgebliebenen Franzosen die Hand reichend, das inländische zur Ordnung bringen. Eilt besondres Wagstllck unternimmt el» Aufsatz in Aloys Hvfmcuins Wiener Zeitschrift. Ob die Emigranten und ihre Sinnesgenossen wirklich, wie die Freunde der Revolution unaufhörlich behaupteten, nur eine Million, gegen¬ über vierundzwnnzig Millionen verträten, läßt er beiseite; ihr Recht aber, auch als Minderheit in Frankreich einzubrechen, sucht er sogar mit Rousseaus Prinzipien in Einklang zu bringen. Schon war auch vou andern — einem Burke, einem Justus Möser — das Recht, durch bloßen Mehrheitsbeschluß die alte Verfassung einer Nation mit einer neuen zu vertauschen — nach der Sprache der Zeit: deu alte» Gesellschaftsvertrag aufzulösen und einen ganz neuen zu schließen — der Einwand erhoben worden, daß ja nur auf Grund des bisherigen Gesellschaftsvertrages die Nation eine (politische) Nation aus¬ gemacht habe und nach Auflösung desselben, unter der Masse der ver¬ einzelten Individuen, keine bindenden Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden könnten. So behauptete denn jetzt die Wiener Zeitschrift: Wohl stehe kein rechtliches Hindernis im Wege, daß der größere Teil einer Nation sich unter einer Kor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/180>, abgerufen am 30.06.2024.