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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Schweizer Sympathien

"Was man dein Menschen nicht alles weismachen kann, besonders wenn man
so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von
einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken , . , nun
erzählen sie das alte Märchen immer fort, mau hört bis zum Überdruß: sie
hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben." So schrieb Goethe
von der ersten Schweizerreise, aber seiue Landsleute haben das alte Märchen
noch lange, lange uicht bis zum Überdruß gehört. Und die Schweizer selbst,
so wenig empfindsam sie im allgemeinen angelegt sind, leiden an einer ähnlichen
Schwäche: sie waren und sind in die Franzosen verliebt, trotz der Vergewaltigung
und Verwüstung vor neunzig Jahren, trotz der Hinschlachtung der Schweizer¬
garde und des Septembergemetzels in Nidwaldeu, trotz des Undankes, mit dem
der Kaiser Napoleon das mutige Eintreten der Schweiz fiir den Prinzen Louis
Napoleon lohnte, und trotzdem daß jeder Schweizer, der seine fünf Sinne be¬
sitzt, erkennt, daß der einzige Nachbar, von dem das Land etwas für seine
Unabhängigkeit und für die Sicherheit seiner Grenzen zu befürchten hätte,
Frankreich, das republikanische wie das monarchische, wäre. Widmauu kaun
uicht leugnen, daß die Vorliebe für Frankreich lange vor dem Sturze deo
aristokratischen Regiments durch die Franzosen bestanden hat, und möchte sie
doch durch die "Befreiung" erklären. Wozu die Mühe? Völker, wie einzelne,
lieben, ohne sich über deu Grund zum Liebe" Rechenschaft abzufordern. Und
er macht den Schweizern wahrlich kein Kompliment, wenn er behauptet, die
älteste Republik in Europa empfinde natürliche Zärtlichkeit für diese jüngere
Schwester!

Er setzt auch aus einander, daß allerlei Keime der Sympathie für Deutsch¬
land vorhanden gewesen und dnrch den "Wohlgemuth-Handel" zerstört worden
seien. Die vornehmsten Geister seien sich des Zusammenhanges mit der deutschen
Kultur und ihrer Verpflichtung gegen diese stets bewußt geblieben, die gewaltige
Kraftentfaltung im Kriege und die Mäßigung nach den Siegen hätten tiefen
Eindruck gemacht, mau sehe in Deutschland die Schutzwehr gegen deu Umsturz
aller Ordnung, man dritte sogar die republikanischen Milizen nach Preußischem
Vorbilde u. dergl. in. Dabei findet mich des Züricher Pöbels Unfug im
Frühjahr 1L71 beschönigende Erwähnung. "Das vermeintliche Siegesfest der
deutschen Kolonie, während die Stadt Zürich angefüllt war mit Verwundete"
und Gefangenen (?) der bei Pontnrliers von den Schweizer Truppen in Empfang
genommenen Bonrbakischen Armee hatte die Bevölkerung erbittert l!). Die
Behörden thaten ihre Pflicht, schützten die Deutschen und stellten die Ruhe
wieder her." Untersuchen wir nicht, wie es um die Pflichterfüllung und den
Schutz bestellt war; aber diese verschämte Billigung der "Erbitterung" im
Munde eines Mannes, der sich unzweifelhaft zu der dem Deutschtum günstig
gestimmten Geistesaristokrntie rechnet, ist höchst bezeichnend. Wie wohl das Urteil
lauten würde, wenn Frankreich siegreich gewesen, die Armee Werders über die


Schweizer Sympathien

„Was man dein Menschen nicht alles weismachen kann, besonders wenn man
so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von
einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken , . , nun
erzählen sie das alte Märchen immer fort, mau hört bis zum Überdruß: sie
hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben." So schrieb Goethe
von der ersten Schweizerreise, aber seiue Landsleute haben das alte Märchen
noch lange, lange uicht bis zum Überdruß gehört. Und die Schweizer selbst,
so wenig empfindsam sie im allgemeinen angelegt sind, leiden an einer ähnlichen
Schwäche: sie waren und sind in die Franzosen verliebt, trotz der Vergewaltigung
und Verwüstung vor neunzig Jahren, trotz der Hinschlachtung der Schweizer¬
garde und des Septembergemetzels in Nidwaldeu, trotz des Undankes, mit dem
der Kaiser Napoleon das mutige Eintreten der Schweiz fiir den Prinzen Louis
Napoleon lohnte, und trotzdem daß jeder Schweizer, der seine fünf Sinne be¬
sitzt, erkennt, daß der einzige Nachbar, von dem das Land etwas für seine
Unabhängigkeit und für die Sicherheit seiner Grenzen zu befürchten hätte,
Frankreich, das republikanische wie das monarchische, wäre. Widmauu kaun
uicht leugnen, daß die Vorliebe für Frankreich lange vor dem Sturze deo
aristokratischen Regiments durch die Franzosen bestanden hat, und möchte sie
doch durch die „Befreiung" erklären. Wozu die Mühe? Völker, wie einzelne,
lieben, ohne sich über deu Grund zum Liebe» Rechenschaft abzufordern. Und
er macht den Schweizern wahrlich kein Kompliment, wenn er behauptet, die
älteste Republik in Europa empfinde natürliche Zärtlichkeit für diese jüngere
Schwester!

Er setzt auch aus einander, daß allerlei Keime der Sympathie für Deutsch¬
land vorhanden gewesen und dnrch den „Wohlgemuth-Handel" zerstört worden
seien. Die vornehmsten Geister seien sich des Zusammenhanges mit der deutschen
Kultur und ihrer Verpflichtung gegen diese stets bewußt geblieben, die gewaltige
Kraftentfaltung im Kriege und die Mäßigung nach den Siegen hätten tiefen
Eindruck gemacht, mau sehe in Deutschland die Schutzwehr gegen deu Umsturz
aller Ordnung, man dritte sogar die republikanischen Milizen nach Preußischem
Vorbilde u. dergl. in. Dabei findet mich des Züricher Pöbels Unfug im
Frühjahr 1L71 beschönigende Erwähnung. „Das vermeintliche Siegesfest der
deutschen Kolonie, während die Stadt Zürich angefüllt war mit Verwundete»
und Gefangenen (?) der bei Pontnrliers von den Schweizer Truppen in Empfang
genommenen Bonrbakischen Armee hatte die Bevölkerung erbittert l!). Die
Behörden thaten ihre Pflicht, schützten die Deutschen und stellten die Ruhe
wieder her." Untersuchen wir nicht, wie es um die Pflichterfüllung und den
Schutz bestellt war; aber diese verschämte Billigung der „Erbitterung" im
Munde eines Mannes, der sich unzweifelhaft zu der dem Deutschtum günstig
gestimmten Geistesaristokrntie rechnet, ist höchst bezeichnend. Wie wohl das Urteil
lauten würde, wenn Frankreich siegreich gewesen, die Armee Werders über die


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[0162] Schweizer Sympathien „Was man dein Menschen nicht alles weismachen kann, besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken , . , nun erzählen sie das alte Märchen immer fort, mau hört bis zum Überdruß: sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben." So schrieb Goethe von der ersten Schweizerreise, aber seiue Landsleute haben das alte Märchen noch lange, lange uicht bis zum Überdruß gehört. Und die Schweizer selbst, so wenig empfindsam sie im allgemeinen angelegt sind, leiden an einer ähnlichen Schwäche: sie waren und sind in die Franzosen verliebt, trotz der Vergewaltigung und Verwüstung vor neunzig Jahren, trotz der Hinschlachtung der Schweizer¬ garde und des Septembergemetzels in Nidwaldeu, trotz des Undankes, mit dem der Kaiser Napoleon das mutige Eintreten der Schweiz fiir den Prinzen Louis Napoleon lohnte, und trotzdem daß jeder Schweizer, der seine fünf Sinne be¬ sitzt, erkennt, daß der einzige Nachbar, von dem das Land etwas für seine Unabhängigkeit und für die Sicherheit seiner Grenzen zu befürchten hätte, Frankreich, das republikanische wie das monarchische, wäre. Widmauu kaun uicht leugnen, daß die Vorliebe für Frankreich lange vor dem Sturze deo aristokratischen Regiments durch die Franzosen bestanden hat, und möchte sie doch durch die „Befreiung" erklären. Wozu die Mühe? Völker, wie einzelne, lieben, ohne sich über deu Grund zum Liebe» Rechenschaft abzufordern. Und er macht den Schweizern wahrlich kein Kompliment, wenn er behauptet, die älteste Republik in Europa empfinde natürliche Zärtlichkeit für diese jüngere Schwester! Er setzt auch aus einander, daß allerlei Keime der Sympathie für Deutsch¬ land vorhanden gewesen und dnrch den „Wohlgemuth-Handel" zerstört worden seien. Die vornehmsten Geister seien sich des Zusammenhanges mit der deutschen Kultur und ihrer Verpflichtung gegen diese stets bewußt geblieben, die gewaltige Kraftentfaltung im Kriege und die Mäßigung nach den Siegen hätten tiefen Eindruck gemacht, mau sehe in Deutschland die Schutzwehr gegen deu Umsturz aller Ordnung, man dritte sogar die republikanischen Milizen nach Preußischem Vorbilde u. dergl. in. Dabei findet mich des Züricher Pöbels Unfug im Frühjahr 1L71 beschönigende Erwähnung. „Das vermeintliche Siegesfest der deutschen Kolonie, während die Stadt Zürich angefüllt war mit Verwundete» und Gefangenen (?) der bei Pontnrliers von den Schweizer Truppen in Empfang genommenen Bonrbakischen Armee hatte die Bevölkerung erbittert l!). Die Behörden thaten ihre Pflicht, schützten die Deutschen und stellten die Ruhe wieder her." Untersuchen wir nicht, wie es um die Pflichterfüllung und den Schutz bestellt war; aber diese verschämte Billigung der „Erbitterung" im Munde eines Mannes, der sich unzweifelhaft zu der dem Deutschtum günstig gestimmten Geistesaristokrntie rechnet, ist höchst bezeichnend. Wie wohl das Urteil lauten würde, wenn Frankreich siegreich gewesen, die Armee Werders über die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/162>, abgerufen am 22.07.2024.