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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Boris Lensky

Nita kommt erst spät dazu, dem schwer unter seinem Schuldbewußtsein leidenden
Boris zu verzeihe"; inzwischen häuft sie glühende Kohlen auf sein Haupt, in¬
dem sie sich Mahadas annimmt.

Mahada, ein prächtiges Mädchen, von entzückender Unschuld und Naivität,
von großer Schönheit, hat von ihrem Vater mehr, als für sie gut ist, geerbt,
außer seinem musikalischen Genie auch noch das verzehrende Feuer der Leiden¬
schaft, der mau nicht widerstehen kann. Ihre völlige Unkenntnis der Welt und
dieses heiße Herz stürzen sie ins Unglück. Sie verliebt sich in den österreichischen
Grafen Bärenburg, eiuen charakterlosen, wenn auch gutmütigen Schwächling,
der sie wohl verführen, aber nicht heiraten kann. Nach seinem Verbrechen ver¬
tauscht er feigerweise Paris mit London und verlobt sich mit einer ebeubttrtigeu
Engländerin. Das Unglück Mahadas ist grenzenlos, sie stürzt sich ins Wasser,
wird gerettet, und Nita bringt es durch ihre tapfern Bemühungen dahin, daß
Graf Bärenburg die von ihm verführte bürgerliche Mahada doch heiratet, freilich
"in bald eine freudlose Ehe mit ihr zu führen, da er dnrch diese unebenbürtige
Ehe zunächst seine Familie gegen sich aufgebracht und feine diplomatische Stellung
verloren hat.

Diese furchtbaren Erlebnisse an und mit seine" Kindern haben Boris
Lenskys gewaltige Lebenskraft und Lust erschüttert. Er ist nicht der alte
Skeptiker mehr, er ist frömmer geworden, die Jugenderinnerungen werden
lebendig in ihm, er will sich im heiligen Rußland ein Nest bauen, er ist auch
setzt leidenschaftlich national gesinnt, die Aristokraten haßt er mehr als je, und
schwer wird der Streit zwischen ihm und dein gräflichen Schwiegersohn ver¬
mieden. Boris ist sogar Mystiker geworden. In seiner tiefen Unbefriedigung
vom Dasein glaubt er an Geister, insbesondre daß seine nie verschmerzte früh
gestorbene Gattin Natalie ans dem Jenseits sich öfter ihm nähere, um ihn zu
lenken, zu warnen; eine himmlische Musik pflegt ihm ihr Erscheinen zu ver¬
künden. Dieses Alter des Virtuosen hat Ossip Schubin wieder mit großem
Geschick geschildert, sie erspart ihrem Helden uicht den letzten Tropfen ans dein
bittern Kelche des Daseins. Da es Mahada bei Bärenburgs leichtsinnigem
Lebenswandel schlecht geht, ist Boris Lensky rasch entschlossen, wieder eine
Konzertreise dnrch Europa zu machen, um mit seiner Zaubergeige Gold zu
schaffen. Aber die paar Jahre seiner Zurückgezogenheit von der Öffentlichkeit
haben genügt, ihn zu einem Halbverschollenen zu macheu; andre Virtuose"
sind aufgetreten und haben das Publikum für sich begeistert. Lensky ist alt,
sein Rücken ist schon merklich gerundet, sein Bogen ist nicht mehr sicher, die
Begeisterung sehlt auch angesichts halbgefüllter Säle. Boris muß die furchtbare
Erfahrung machen, daß man seinen Ruhm überleben kann. In Rom, wo
man ihn in einer Zeitung angegriffen hat, stirbt er nach einem bezaubernden
Schwanengesang im Konzertsaal selbst. Beim letzten Bogenstrich trifft ihn
ein Herzschlag.


Boris Lensky

Nita kommt erst spät dazu, dem schwer unter seinem Schuldbewußtsein leidenden
Boris zu verzeihe»; inzwischen häuft sie glühende Kohlen auf sein Haupt, in¬
dem sie sich Mahadas annimmt.

Mahada, ein prächtiges Mädchen, von entzückender Unschuld und Naivität,
von großer Schönheit, hat von ihrem Vater mehr, als für sie gut ist, geerbt,
außer seinem musikalischen Genie auch noch das verzehrende Feuer der Leiden¬
schaft, der mau nicht widerstehen kann. Ihre völlige Unkenntnis der Welt und
dieses heiße Herz stürzen sie ins Unglück. Sie verliebt sich in den österreichischen
Grafen Bärenburg, eiuen charakterlosen, wenn auch gutmütigen Schwächling,
der sie wohl verführen, aber nicht heiraten kann. Nach seinem Verbrechen ver¬
tauscht er feigerweise Paris mit London und verlobt sich mit einer ebeubttrtigeu
Engländerin. Das Unglück Mahadas ist grenzenlos, sie stürzt sich ins Wasser,
wird gerettet, und Nita bringt es durch ihre tapfern Bemühungen dahin, daß
Graf Bärenburg die von ihm verführte bürgerliche Mahada doch heiratet, freilich
»in bald eine freudlose Ehe mit ihr zu führen, da er dnrch diese unebenbürtige
Ehe zunächst seine Familie gegen sich aufgebracht und feine diplomatische Stellung
verloren hat.

Diese furchtbaren Erlebnisse an und mit seine» Kindern haben Boris
Lenskys gewaltige Lebenskraft und Lust erschüttert. Er ist nicht der alte
Skeptiker mehr, er ist frömmer geworden, die Jugenderinnerungen werden
lebendig in ihm, er will sich im heiligen Rußland ein Nest bauen, er ist auch
setzt leidenschaftlich national gesinnt, die Aristokraten haßt er mehr als je, und
schwer wird der Streit zwischen ihm und dein gräflichen Schwiegersohn ver¬
mieden. Boris ist sogar Mystiker geworden. In seiner tiefen Unbefriedigung
vom Dasein glaubt er an Geister, insbesondre daß seine nie verschmerzte früh
gestorbene Gattin Natalie ans dem Jenseits sich öfter ihm nähere, um ihn zu
lenken, zu warnen; eine himmlische Musik pflegt ihm ihr Erscheinen zu ver¬
künden. Dieses Alter des Virtuosen hat Ossip Schubin wieder mit großem
Geschick geschildert, sie erspart ihrem Helden uicht den letzten Tropfen ans dein
bittern Kelche des Daseins. Da es Mahada bei Bärenburgs leichtsinnigem
Lebenswandel schlecht geht, ist Boris Lensky rasch entschlossen, wieder eine
Konzertreise dnrch Europa zu machen, um mit seiner Zaubergeige Gold zu
schaffen. Aber die paar Jahre seiner Zurückgezogenheit von der Öffentlichkeit
haben genügt, ihn zu einem Halbverschollenen zu macheu; andre Virtuose»
sind aufgetreten und haben das Publikum für sich begeistert. Lensky ist alt,
sein Rücken ist schon merklich gerundet, sein Bogen ist nicht mehr sicher, die
Begeisterung sehlt auch angesichts halbgefüllter Säle. Boris muß die furchtbare
Erfahrung machen, daß man seinen Ruhm überleben kann. In Rom, wo
man ihn in einer Zeitung angegriffen hat, stirbt er nach einem bezaubernden
Schwanengesang im Konzertsaal selbst. Beim letzten Bogenstrich trifft ihn
ein Herzschlag.


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[0100] Boris Lensky Nita kommt erst spät dazu, dem schwer unter seinem Schuldbewußtsein leidenden Boris zu verzeihe»; inzwischen häuft sie glühende Kohlen auf sein Haupt, in¬ dem sie sich Mahadas annimmt. Mahada, ein prächtiges Mädchen, von entzückender Unschuld und Naivität, von großer Schönheit, hat von ihrem Vater mehr, als für sie gut ist, geerbt, außer seinem musikalischen Genie auch noch das verzehrende Feuer der Leiden¬ schaft, der mau nicht widerstehen kann. Ihre völlige Unkenntnis der Welt und dieses heiße Herz stürzen sie ins Unglück. Sie verliebt sich in den österreichischen Grafen Bärenburg, eiuen charakterlosen, wenn auch gutmütigen Schwächling, der sie wohl verführen, aber nicht heiraten kann. Nach seinem Verbrechen ver¬ tauscht er feigerweise Paris mit London und verlobt sich mit einer ebeubttrtigeu Engländerin. Das Unglück Mahadas ist grenzenlos, sie stürzt sich ins Wasser, wird gerettet, und Nita bringt es durch ihre tapfern Bemühungen dahin, daß Graf Bärenburg die von ihm verführte bürgerliche Mahada doch heiratet, freilich »in bald eine freudlose Ehe mit ihr zu führen, da er dnrch diese unebenbürtige Ehe zunächst seine Familie gegen sich aufgebracht und feine diplomatische Stellung verloren hat. Diese furchtbaren Erlebnisse an und mit seine» Kindern haben Boris Lenskys gewaltige Lebenskraft und Lust erschüttert. Er ist nicht der alte Skeptiker mehr, er ist frömmer geworden, die Jugenderinnerungen werden lebendig in ihm, er will sich im heiligen Rußland ein Nest bauen, er ist auch setzt leidenschaftlich national gesinnt, die Aristokraten haßt er mehr als je, und schwer wird der Streit zwischen ihm und dein gräflichen Schwiegersohn ver¬ mieden. Boris ist sogar Mystiker geworden. In seiner tiefen Unbefriedigung vom Dasein glaubt er an Geister, insbesondre daß seine nie verschmerzte früh gestorbene Gattin Natalie ans dem Jenseits sich öfter ihm nähere, um ihn zu lenken, zu warnen; eine himmlische Musik pflegt ihm ihr Erscheinen zu ver¬ künden. Dieses Alter des Virtuosen hat Ossip Schubin wieder mit großem Geschick geschildert, sie erspart ihrem Helden uicht den letzten Tropfen ans dein bittern Kelche des Daseins. Da es Mahada bei Bärenburgs leichtsinnigem Lebenswandel schlecht geht, ist Boris Lensky rasch entschlossen, wieder eine Konzertreise dnrch Europa zu machen, um mit seiner Zaubergeige Gold zu schaffen. Aber die paar Jahre seiner Zurückgezogenheit von der Öffentlichkeit haben genügt, ihn zu einem Halbverschollenen zu macheu; andre Virtuose» sind aufgetreten und haben das Publikum für sich begeistert. Lensky ist alt, sein Rücken ist schon merklich gerundet, sein Bogen ist nicht mehr sicher, die Begeisterung sehlt auch angesichts halbgefüllter Säle. Boris muß die furchtbare Erfahrung machen, daß man seinen Ruhm überleben kann. In Rom, wo man ihn in einer Zeitung angegriffen hat, stirbt er nach einem bezaubernden Schwanengesang im Konzertsaal selbst. Beim letzten Bogenstrich trifft ihn ein Herzschlag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/100>, abgerufen am 22.12.2024.