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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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beigebracht werden. Zu diesen? Zwecke verlangt er, daß die Kulturgeschichte
zur Grundlage des ganzen Mädchenunterrichts in den höhern Klassen gemacht
werde, und zwar in der dem weiblichen Gemüte am meisten zusagenden Gestalt,
d. h. als ästhetische Kulturgeschichte oder Entwicklungsgeschichte der Ideale
der Menschheit.

Die mechanistische Weltanschauung, der kurzsichtige Materialismus, die
Frucht einer einseitigen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, eines über¬
triebenen Kultus der brutalen Thatsache, muß dnrch die Pflege der menschlichen
Ideale, die sich in der Kulturgeschichte, der Litteratur und der Kunst offenbaren,
wieder beseitigt werden. Wir wissen nicht, ob irgendwo an höhern Mädchen¬
schulen eine Überwucherung der naturunssenschaftlichen Fächer zum Schaden
der wichtigern vorhanden ist; in diesem Falle würden wir uns entschieden an
Hartmanns Ansicht anschließen, da wir mit Goethe meinen: ,,Ein Lehrer, der
das Gefühl an einer einzigen guten That, um einem einzigen? guten Gedichte
erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter
Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert." Der natur¬
wissenschaftliche Unterricht an Mädchenschulen soll nach unsrer Ansicht in der
Gesundheitslehre gipfeln, wovon leider jetzt gar leine Rede ist; geht er zum
toten Formelkram über, verläßt er die Grenzen der Anschauung, um auch noch
das Gedächtnis der Schülerin in Anspruch zu nehmen, so hört seine Berechtigung
für den Mädchenunterricht auf. "Wenn schou die Jungen über den vielen
Lernstoff sich dumm lernen, wie viel mehr muß das erst bei Mädchen geschehen,
denn wo der Mann mir pedantisch erscheint, ist das Weib schon verschroben/'
'

Daher gründliche Beschräukuua, aller Nebenfächer, die eine unverhältnismäßige
Belastung des Gedächtnisses mit sich bringen, eine nachteilige Zersplitterung des
Wissens, eine verwirrende Ablenkung des jugendlichen Geistes von deu Haupt¬
fächern, die ihn vertraut machen sollen mit der Entwicklungsgeschichte der mensch¬
lichen Ideale. Auch die Überbürdungsfrage berührt Hartmann; er verwirft alle
häuslichen Schularbeiten als im höchsten Grade unpädagogisch. Die Schule ist
dazu da, sagt er, um der Jugend die nötige allgemeine Bildung einzupflanzen, und
wenn sie sich dazu nnfühig erklärt ohne Zuhilfenahme des Hauses, so beweist sie
damit nnr, daß entweder in ihrer Organisation ein Fehler steckt, oder daß die Lehrer
die ihnen obliegende Aufgabe teilweise auf das Haus abzuwälzen für bequemer
finden. Diese Forvernng ist nicht neu und wird schon von vielen Pädagogen
angestrebt; daß wir aber den gewünschten Zustand noch nicht erreicht haben,
ist wohl nicht Schuld der Schulen, sondern liegt, besonders beim Mädchen¬
unterricht, wesentlich an dein Widerstande der Familien. Unsre lieben Mütter
verlangen ausdrücklich, daß die Schule auch noch für die häusliche Veschäftignng
der Kinder sorge, ja sie berechnen geradezu die Leistungsfähigkeit eiuer Schule
nach der Summe und Schwere der häuslichen Arbeiten; das ist eine lächer¬
liche Auffassung, aber wer hätte sie noch nicht erlebt?


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beigebracht werden. Zu diesen? Zwecke verlangt er, daß die Kulturgeschichte
zur Grundlage des ganzen Mädchenunterrichts in den höhern Klassen gemacht
werde, und zwar in der dem weiblichen Gemüte am meisten zusagenden Gestalt,
d. h. als ästhetische Kulturgeschichte oder Entwicklungsgeschichte der Ideale
der Menschheit.

Die mechanistische Weltanschauung, der kurzsichtige Materialismus, die
Frucht einer einseitigen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, eines über¬
triebenen Kultus der brutalen Thatsache, muß dnrch die Pflege der menschlichen
Ideale, die sich in der Kulturgeschichte, der Litteratur und der Kunst offenbaren,
wieder beseitigt werden. Wir wissen nicht, ob irgendwo an höhern Mädchen¬
schulen eine Überwucherung der naturunssenschaftlichen Fächer zum Schaden
der wichtigern vorhanden ist; in diesem Falle würden wir uns entschieden an
Hartmanns Ansicht anschließen, da wir mit Goethe meinen: ,,Ein Lehrer, der
das Gefühl an einer einzigen guten That, um einem einzigen? guten Gedichte
erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter
Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert." Der natur¬
wissenschaftliche Unterricht an Mädchenschulen soll nach unsrer Ansicht in der
Gesundheitslehre gipfeln, wovon leider jetzt gar leine Rede ist; geht er zum
toten Formelkram über, verläßt er die Grenzen der Anschauung, um auch noch
das Gedächtnis der Schülerin in Anspruch zu nehmen, so hört seine Berechtigung
für den Mädchenunterricht auf. „Wenn schou die Jungen über den vielen
Lernstoff sich dumm lernen, wie viel mehr muß das erst bei Mädchen geschehen,
denn wo der Mann mir pedantisch erscheint, ist das Weib schon verschroben/'
'

Daher gründliche Beschräukuua, aller Nebenfächer, die eine unverhältnismäßige
Belastung des Gedächtnisses mit sich bringen, eine nachteilige Zersplitterung des
Wissens, eine verwirrende Ablenkung des jugendlichen Geistes von deu Haupt¬
fächern, die ihn vertraut machen sollen mit der Entwicklungsgeschichte der mensch¬
lichen Ideale. Auch die Überbürdungsfrage berührt Hartmann; er verwirft alle
häuslichen Schularbeiten als im höchsten Grade unpädagogisch. Die Schule ist
dazu da, sagt er, um der Jugend die nötige allgemeine Bildung einzupflanzen, und
wenn sie sich dazu nnfühig erklärt ohne Zuhilfenahme des Hauses, so beweist sie
damit nnr, daß entweder in ihrer Organisation ein Fehler steckt, oder daß die Lehrer
die ihnen obliegende Aufgabe teilweise auf das Haus abzuwälzen für bequemer
finden. Diese Forvernng ist nicht neu und wird schon von vielen Pädagogen
angestrebt; daß wir aber den gewünschten Zustand noch nicht erreicht haben,
ist wohl nicht Schuld der Schulen, sondern liegt, besonders beim Mädchen¬
unterricht, wesentlich an dein Widerstande der Familien. Unsre lieben Mütter
verlangen ausdrücklich, daß die Schule auch noch für die häusliche Veschäftignng
der Kinder sorge, ja sie berechnen geradezu die Leistungsfähigkeit eiuer Schule
nach der Summe und Schwere der häuslichen Arbeiten; das ist eine lächer¬
liche Auffassung, aber wer hätte sie noch nicht erlebt?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/96>, abgerufen am 05.02.2025.