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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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hervorgehende Entwicklung der Handlung; die Tendenz steht ihnen allen in
Riesenlettern auf die Stirn geschrieben! die Sprache ist trocken und unpoetisch.
Sem Erfolg erklärt sich einerseits dnrch die natürliche Reaktion gegen da^
süßliche Hof-, Schäfer- und Liebesgeschwätz, anderseits daraus, daß, wenn blut¬
dürstige Tyrannen und stolze Märtyrer der Freiheit immer und überall bei
"den Gründlingen im Parterre" zünden, sie besonders in dem geknechteten
Italien jener Zeit ein Publikum fanden, das dankbar war, seine Sehnsucht
nach Freiheit und nationaler Große wenigstens durch Händeklatschen und
Bravorufen bekunden zu können.

Als die französische Revolution die europäische Menschheit mit neuen
Ideen erfüllte, als der Wellenschlag der gewaltigen Umwälzung sich auch
bis an die Gestade der apenninischen Halbinsel fortpflanzte, als seine Wir¬
kungen und Folgen hier mit den alten Fürstengeschlechtern und Höfen auch
die Hofpoesie wegfegten und dem Leben der Völker einen neuen, ernsten Inhalt
gaben, machte sich alsbald auch in der Litteratur das Wehen eines neuen,
frischen Geistes bemerkbar. Der edle Parmi in Mailand hielt in seinem be¬
rühmten von warmer Begeisterung für das Gute beseelten Lehrgedichte in ein¬
fach natürlicher Form, wie man sie lauge nicht mehr gekannt hatte, dem ent¬
arteten Adel seiner Zeit einen blanken Spiegel vor; Ugo Foscolo gab in seinem
.laeovo Ortis, dem italienischen Werther, dein modernen Weltschmerz, in seinen
^oxolvri der patriotischen Klage über Italiens Verlorne Größe einen Hoch-
Poetischen Ausdruck, und Vincenzo Monti, den nnr seine Charakterlosigkeit
hinderte, ein wirklich großer Dichter zu sein, belebte in seinen wohlklingenden,
von dem hergebrachten Bombast freien Versen die klassischen Formen des
vierzehnten Jahrhunderts wieder, die er doch in der Theorie ebenso wohl be¬
kämpfte wie die Romantik. Allein bei diesen Männern wie bei ihren weniger
bedeutenden dichtenden Zeitgenossen herrscht noch die bloße Verneinung des
Bestehenden und der Individualismus vor; sie vertreten keine gemeinsame
Geistesrichtung, noch weniger bilden sie eine Schule; sie spiegeln gleichsam die
Verworrenheit der Ideen wie den fortwährenden Wechsel der Zustände ab, die
das Vierteljahrhundert vou 178!)--1815 bezeichne". Wir können ihnen noch
einen vierten hinzufügen, der zwar der Zeit nach dem folgenden Geschlecht
angehört, aber durch sein Alleinstehen, seinen Skeptizismus und seine pessi¬
mistische Weltanschauung den Dichtern der napoleonischen Zeit, die er freilich
alle um Haupteslänge überragt, näher steht als seine Zeitgenossen von der
romantischen Schule, Giacomo Leopardi, auf deu man die Goethischen Verse
anwenden möchte:


Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward,
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?

hervorgehende Entwicklung der Handlung; die Tendenz steht ihnen allen in
Riesenlettern auf die Stirn geschrieben! die Sprache ist trocken und unpoetisch.
Sem Erfolg erklärt sich einerseits dnrch die natürliche Reaktion gegen da^
süßliche Hof-, Schäfer- und Liebesgeschwätz, anderseits daraus, daß, wenn blut¬
dürstige Tyrannen und stolze Märtyrer der Freiheit immer und überall bei
„den Gründlingen im Parterre" zünden, sie besonders in dem geknechteten
Italien jener Zeit ein Publikum fanden, das dankbar war, seine Sehnsucht
nach Freiheit und nationaler Große wenigstens durch Händeklatschen und
Bravorufen bekunden zu können.

Als die französische Revolution die europäische Menschheit mit neuen
Ideen erfüllte, als der Wellenschlag der gewaltigen Umwälzung sich auch
bis an die Gestade der apenninischen Halbinsel fortpflanzte, als seine Wir¬
kungen und Folgen hier mit den alten Fürstengeschlechtern und Höfen auch
die Hofpoesie wegfegten und dem Leben der Völker einen neuen, ernsten Inhalt
gaben, machte sich alsbald auch in der Litteratur das Wehen eines neuen,
frischen Geistes bemerkbar. Der edle Parmi in Mailand hielt in seinem be¬
rühmten von warmer Begeisterung für das Gute beseelten Lehrgedichte in ein¬
fach natürlicher Form, wie man sie lauge nicht mehr gekannt hatte, dem ent¬
arteten Adel seiner Zeit einen blanken Spiegel vor; Ugo Foscolo gab in seinem
.laeovo Ortis, dem italienischen Werther, dein modernen Weltschmerz, in seinen
^oxolvri der patriotischen Klage über Italiens Verlorne Größe einen Hoch-
Poetischen Ausdruck, und Vincenzo Monti, den nnr seine Charakterlosigkeit
hinderte, ein wirklich großer Dichter zu sein, belebte in seinen wohlklingenden,
von dem hergebrachten Bombast freien Versen die klassischen Formen des
vierzehnten Jahrhunderts wieder, die er doch in der Theorie ebenso wohl be¬
kämpfte wie die Romantik. Allein bei diesen Männern wie bei ihren weniger
bedeutenden dichtenden Zeitgenossen herrscht noch die bloße Verneinung des
Bestehenden und der Individualismus vor; sie vertreten keine gemeinsame
Geistesrichtung, noch weniger bilden sie eine Schule; sie spiegeln gleichsam die
Verworrenheit der Ideen wie den fortwährenden Wechsel der Zustände ab, die
das Vierteljahrhundert vou 178!)—1815 bezeichne». Wir können ihnen noch
einen vierten hinzufügen, der zwar der Zeit nach dem folgenden Geschlecht
angehört, aber durch sein Alleinstehen, seinen Skeptizismus und seine pessi¬
mistische Weltanschauung den Dichtern der napoleonischen Zeit, die er freilich
alle um Haupteslänge überragt, näher steht als seine Zeitgenossen von der
romantischen Schule, Giacomo Leopardi, auf deu man die Goethischen Verse
anwenden möchte:


Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward,
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/81>, abgerufen am 05.02.2025.