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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Robert Hainerlings Selbstbiographie

seiner Tragödie "Ahnsverus" urit ihren ganz abstrakten Formeln*) selbst
mitgeteilt hat, sagt er: "Übel vermerkt es vielleicht mancher, daß ich
bei meinen poetischen Entwürfen mir so viel mit Ideen zu schaffen machte.
Aber das Denken ist eine Gewöhnung, welcher -- wenigstens in den höhern
"Dicht"gattungen (!) - mehr oder wenig sich alle deutschen Poeten schuldig
machen. (Auch Mörike, Uhland oder Storni?) Man nehme Goethes und
Schillers Briefwechsel zur Hand, und mau wird erstaunen, wieviel selbst unsre
größten deutschen Dichter -- der "naive" Goethe nicht zum wenigsten -- bei ihren
scheinbar einfachsten Arbeiten gedacht, gegrübelt, gewollt, beabsichtigt, sym-
bolisirt und "hineingeheimnißt" haben." Da sieht man, daß Hamerling den
Begriff "naiv" in seiner ästhetischen Bedeutung nicht klar festgehalten hat.
Der naive Künstler hört ja keineswegs auf ein berechnender Künstler zu sein;
zufällig find sehr selten große Schönheiten entstanden. Daß Goethe sehr viel
über Kunst nachgedacht hat, ist selbstverständlich; aber die Form seiner Kunst¬
werke ist naiv; er hat im gegenständlichen Wort, im schönen Bilde, im gehalt¬
vollen Symbol als Dichter zu uns gesprochen; seine Menschen sind ästhetisch
naiv, durch Handlungen und den Situationen gut angepaßte Worte stellen sie
ihr Wesen dar, nicht indem sie sich durch Selbstbetrachtung charakterisiren wie
Hamcrlings Menschen. Am meisten überrascht wird jeder Kenner der Hcuner-
lingscheu Lyrik von dein Geständnis sein, das; die sogenannte Reslexionslyrik
seine Sache nicht gewesen sei; als Beweis dafür drückt Hamerling eine das
Volkslied feiernde Stelle ans dem Tagebuche von 2. April 1849 ab. Als ob
künstlerische Theorie und künstlerische That zusammenfallen müßten! Als ob
nicht seine Gedichte, wo mau sie ausschlägt, den Charakter der Reslexionslyrik
trügen! Als ob nicht seine ganze aufs Heroische, Pathetische und Phantastische
gerichtete Begabung nicht naturgemäß andre Formen als die des Volksliedes
in der Lyrik Hütte suchen müssen! Wie wenig Hamerling sich selbst richtig
beurteilt, beweist u. a. auch eine Kleinigkeit. Man hat an seiner anmutigsten
Schöpfung, dein Märchen "Amor und Psyche" die "schöne Einfachheit" im
Gegensatz zu seinen gedankenschwerer größern Epen hervorgehoben. Damit ist
Hamerling aber nicht einverstanden. "Meine Schilderung der Liebesinsel --
die Wanderung Psyches durch die Unterwelt -- die Himmelfahrt des Liebes¬
paares -- Partien, welche zusammen mehr als die Hälfte des Ganzen bilden --
glänzen die wirklich durch Einfachheit? Ich glaubte da doch das Register
meiner höchsten und vollsten Töne gezogen zu haben." Da mache man es



I. Akt. Reflexionsloses, seliges Naturleben des Urmenschen (Ahcwerus). Lucifer, sich
zu ihnl gesellend, zeigt ihnl die Herrlichkeit der Welt und verführt ihn. -- Sündenfall (Re¬
flexion) -- Fluch. Dein Ausgestoßenen aus dem Paradiese wird ein Erlöser verheißen. Er
verläßt das Paradies mit der Gabe des Gedankens und einem Fortunatussäckel, aber
unselig u. s. w.
Robert Hainerlings Selbstbiographie

seiner Tragödie „Ahnsverus" urit ihren ganz abstrakten Formeln*) selbst
mitgeteilt hat, sagt er: „Übel vermerkt es vielleicht mancher, daß ich
bei meinen poetischen Entwürfen mir so viel mit Ideen zu schaffen machte.
Aber das Denken ist eine Gewöhnung, welcher — wenigstens in den höhern
„Dicht"gattungen (!) - mehr oder wenig sich alle deutschen Poeten schuldig
machen. (Auch Mörike, Uhland oder Storni?) Man nehme Goethes und
Schillers Briefwechsel zur Hand, und mau wird erstaunen, wieviel selbst unsre
größten deutschen Dichter — der »naive« Goethe nicht zum wenigsten — bei ihren
scheinbar einfachsten Arbeiten gedacht, gegrübelt, gewollt, beabsichtigt, sym-
bolisirt und »hineingeheimnißt« haben." Da sieht man, daß Hamerling den
Begriff „naiv" in seiner ästhetischen Bedeutung nicht klar festgehalten hat.
Der naive Künstler hört ja keineswegs auf ein berechnender Künstler zu sein;
zufällig find sehr selten große Schönheiten entstanden. Daß Goethe sehr viel
über Kunst nachgedacht hat, ist selbstverständlich; aber die Form seiner Kunst¬
werke ist naiv; er hat im gegenständlichen Wort, im schönen Bilde, im gehalt¬
vollen Symbol als Dichter zu uns gesprochen; seine Menschen sind ästhetisch
naiv, durch Handlungen und den Situationen gut angepaßte Worte stellen sie
ihr Wesen dar, nicht indem sie sich durch Selbstbetrachtung charakterisiren wie
Hamcrlings Menschen. Am meisten überrascht wird jeder Kenner der Hcuner-
lingscheu Lyrik von dein Geständnis sein, das; die sogenannte Reslexionslyrik
seine Sache nicht gewesen sei; als Beweis dafür drückt Hamerling eine das
Volkslied feiernde Stelle ans dem Tagebuche von 2. April 1849 ab. Als ob
künstlerische Theorie und künstlerische That zusammenfallen müßten! Als ob
nicht seine Gedichte, wo mau sie ausschlägt, den Charakter der Reslexionslyrik
trügen! Als ob nicht seine ganze aufs Heroische, Pathetische und Phantastische
gerichtete Begabung nicht naturgemäß andre Formen als die des Volksliedes
in der Lyrik Hütte suchen müssen! Wie wenig Hamerling sich selbst richtig
beurteilt, beweist u. a. auch eine Kleinigkeit. Man hat an seiner anmutigsten
Schöpfung, dein Märchen „Amor und Psyche" die „schöne Einfachheit" im
Gegensatz zu seinen gedankenschwerer größern Epen hervorgehoben. Damit ist
Hamerling aber nicht einverstanden. „Meine Schilderung der Liebesinsel —
die Wanderung Psyches durch die Unterwelt — die Himmelfahrt des Liebes¬
paares — Partien, welche zusammen mehr als die Hälfte des Ganzen bilden —
glänzen die wirklich durch Einfachheit? Ich glaubte da doch das Register
meiner höchsten und vollsten Töne gezogen zu haben." Da mache man es



I. Akt. Reflexionsloses, seliges Naturleben des Urmenschen (Ahcwerus). Lucifer, sich
zu ihnl gesellend, zeigt ihnl die Herrlichkeit der Welt und verführt ihn. — Sündenfall (Re¬
flexion) — Fluch. Dein Ausgestoßenen aus dem Paradiese wird ein Erlöser verheißen. Er
verläßt das Paradies mit der Gabe des Gedankens und einem Fortunatussäckel, aber
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/611>, abgerufen am 10.02.2025.