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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Das neue Gymnasium

in ihrer ureigner Gestalt, immer nur in Übersetzungen lesen zu lassen, von
einem Volke, von dessen Thun und Wesen, dessen Denken und Dichten man
nun einmal den Schillern so viel geben muß, ihnen gerade die Sprache vvr-
zneuthnlteu, das wäre in jeder Hinsicht, zumal in pädagogischer, unverant¬
wortlich. Übrigens so recht kennen und schätzen gelernt haben wir die Griechen
doch erst in den letzten fünfzig, den letzten zwanzig Jahren, und ohne römische
Vermittlung. Griechische Sprache, griechisches Leben, wie reich entwickelt, und
dabei wie scharf individualisirt jedes einzelnen Stammes Art war, und wie
vergeblich ihr Streben, ein Volk zu werden, alles das ist uns heute gegen¬
wärtiger als je. Einen philologisch und zugleich pädagogisch vollendeten, einen
gründlichem und zugleich frischen Unterricht im Griechischen zu erteilen, ist
heute leichter als je, und im Griechischen, scheint nur, heute leichter und
lohnender als irgendwo. Es war doch wohl kein Zufall oder rein gelehrtes
Interesse, daß der deutsche Reichstag sich für Olympia begeisterte: die Tragödie
von des attischen Reiches Herrlichkeit und die frohe Botschaft vom olympischen
Gottesfrieden ist seit 1870 uns Deutschen ergreifender denn je zuvor. Und
wer weiß, was demnächst uus beschieden ist? Das Reich scheint gesichert; aber
die deutsche Kultur? Wir haben Schiller und Goethe! Aber wie lauge noch?
"Zola is ma lieba," so hört ich einst, es war eine helle Mvndenuacht am
Spider Strande, ein grünes Stimmchen krähen. In dem Augenblick erschienen
mir all unsre deutschen Meister, von Goethe bis Kournd Ferdinand Meyer, in
griechischen Gewändern. Wenn das mehr war, als eine optische Täuschung,
wenn wir wirklich neuen Idealen zusteuern -- ich sag es ohne Spott, und
denk auch an die vielfach angestrebte Erneuerung deutscher Kunst durch volks¬
tümlichere Gestaltung nationaler Stoffe: -- nun so rücken unsre Klassiker und
die Griechen nur noch enger zusammen, und nur mit um so größerm Recht
heißt dann für unsre Jugend Hellas die Eingangspforte zur Geschichte unsers
geistigen Lebens.

Ich bin wohl etwas aus der Rolle gefallen; ich wollte den Pädagogen
Paulsen sprechen lassen und habe doch nur mein eignes Herz entdeckt. Ob
ich ihm das seine gerührt habe? Oder ob er die Rede wohl zu den papiernen
rechnet, die man nicht von Angesicht zu Angesicht halten könne, wie die von
dem Segen fremdsprachlicher Übungen für den deutscheu Stil? Nun, hier hat
er den Nagel auf den Kopf getroffen, an einer andern Stelle glaubt man
jedoch statt des Philosophen einen Agitator zu vernehmen. Es wird ein
rührender Fall geschildert: der Sohn eines Arztes, vortrefflicher Schüler eines
vortrefflichen Renlgymuasiums, entschließt sich, den Beruf seines Vaters zu
ergreifen. "Soll er nun," so fragt Paulsen, "aber sage deine Antwort mir
oder dem Bater oder dem Sohn oder dessen alten Lehrern ins Gesicht! soll
er sein Elternhaus verlassen, seine naturwissenschaftlichen Studien, sein Englisch
bei Seite legen und lernen lateinische Aufsätze und griechische Präparntioneu


Das neue Gymnasium

in ihrer ureigner Gestalt, immer nur in Übersetzungen lesen zu lassen, von
einem Volke, von dessen Thun und Wesen, dessen Denken und Dichten man
nun einmal den Schillern so viel geben muß, ihnen gerade die Sprache vvr-
zneuthnlteu, das wäre in jeder Hinsicht, zumal in pädagogischer, unverant¬
wortlich. Übrigens so recht kennen und schätzen gelernt haben wir die Griechen
doch erst in den letzten fünfzig, den letzten zwanzig Jahren, und ohne römische
Vermittlung. Griechische Sprache, griechisches Leben, wie reich entwickelt, und
dabei wie scharf individualisirt jedes einzelnen Stammes Art war, und wie
vergeblich ihr Streben, ein Volk zu werden, alles das ist uns heute gegen¬
wärtiger als je. Einen philologisch und zugleich pädagogisch vollendeten, einen
gründlichem und zugleich frischen Unterricht im Griechischen zu erteilen, ist
heute leichter als je, und im Griechischen, scheint nur, heute leichter und
lohnender als irgendwo. Es war doch wohl kein Zufall oder rein gelehrtes
Interesse, daß der deutsche Reichstag sich für Olympia begeisterte: die Tragödie
von des attischen Reiches Herrlichkeit und die frohe Botschaft vom olympischen
Gottesfrieden ist seit 1870 uns Deutschen ergreifender denn je zuvor. Und
wer weiß, was demnächst uus beschieden ist? Das Reich scheint gesichert; aber
die deutsche Kultur? Wir haben Schiller und Goethe! Aber wie lauge noch?
„Zola is ma lieba," so hört ich einst, es war eine helle Mvndenuacht am
Spider Strande, ein grünes Stimmchen krähen. In dem Augenblick erschienen
mir all unsre deutschen Meister, von Goethe bis Kournd Ferdinand Meyer, in
griechischen Gewändern. Wenn das mehr war, als eine optische Täuschung,
wenn wir wirklich neuen Idealen zusteuern — ich sag es ohne Spott, und
denk auch an die vielfach angestrebte Erneuerung deutscher Kunst durch volks¬
tümlichere Gestaltung nationaler Stoffe: — nun so rücken unsre Klassiker und
die Griechen nur noch enger zusammen, und nur mit um so größerm Recht
heißt dann für unsre Jugend Hellas die Eingangspforte zur Geschichte unsers
geistigen Lebens.

Ich bin wohl etwas aus der Rolle gefallen; ich wollte den Pädagogen
Paulsen sprechen lassen und habe doch nur mein eignes Herz entdeckt. Ob
ich ihm das seine gerührt habe? Oder ob er die Rede wohl zu den papiernen
rechnet, die man nicht von Angesicht zu Angesicht halten könne, wie die von
dem Segen fremdsprachlicher Übungen für den deutscheu Stil? Nun, hier hat
er den Nagel auf den Kopf getroffen, an einer andern Stelle glaubt man
jedoch statt des Philosophen einen Agitator zu vernehmen. Es wird ein
rührender Fall geschildert: der Sohn eines Arztes, vortrefflicher Schüler eines
vortrefflichen Renlgymuasiums, entschließt sich, den Beruf seines Vaters zu
ergreifen. „Soll er nun," so fragt Paulsen, „aber sage deine Antwort mir
oder dem Bater oder dem Sohn oder dessen alten Lehrern ins Gesicht! soll
er sein Elternhaus verlassen, seine naturwissenschaftlichen Studien, sein Englisch
bei Seite legen und lernen lateinische Aufsätze und griechische Präparntioneu


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[0603] Das neue Gymnasium in ihrer ureigner Gestalt, immer nur in Übersetzungen lesen zu lassen, von einem Volke, von dessen Thun und Wesen, dessen Denken und Dichten man nun einmal den Schillern so viel geben muß, ihnen gerade die Sprache vvr- zneuthnlteu, das wäre in jeder Hinsicht, zumal in pädagogischer, unverant¬ wortlich. Übrigens so recht kennen und schätzen gelernt haben wir die Griechen doch erst in den letzten fünfzig, den letzten zwanzig Jahren, und ohne römische Vermittlung. Griechische Sprache, griechisches Leben, wie reich entwickelt, und dabei wie scharf individualisirt jedes einzelnen Stammes Art war, und wie vergeblich ihr Streben, ein Volk zu werden, alles das ist uns heute gegen¬ wärtiger als je. Einen philologisch und zugleich pädagogisch vollendeten, einen gründlichem und zugleich frischen Unterricht im Griechischen zu erteilen, ist heute leichter als je, und im Griechischen, scheint nur, heute leichter und lohnender als irgendwo. Es war doch wohl kein Zufall oder rein gelehrtes Interesse, daß der deutsche Reichstag sich für Olympia begeisterte: die Tragödie von des attischen Reiches Herrlichkeit und die frohe Botschaft vom olympischen Gottesfrieden ist seit 1870 uns Deutschen ergreifender denn je zuvor. Und wer weiß, was demnächst uus beschieden ist? Das Reich scheint gesichert; aber die deutsche Kultur? Wir haben Schiller und Goethe! Aber wie lauge noch? „Zola is ma lieba," so hört ich einst, es war eine helle Mvndenuacht am Spider Strande, ein grünes Stimmchen krähen. In dem Augenblick erschienen mir all unsre deutschen Meister, von Goethe bis Kournd Ferdinand Meyer, in griechischen Gewändern. Wenn das mehr war, als eine optische Täuschung, wenn wir wirklich neuen Idealen zusteuern — ich sag es ohne Spott, und denk auch an die vielfach angestrebte Erneuerung deutscher Kunst durch volks¬ tümlichere Gestaltung nationaler Stoffe: — nun so rücken unsre Klassiker und die Griechen nur noch enger zusammen, und nur mit um so größerm Recht heißt dann für unsre Jugend Hellas die Eingangspforte zur Geschichte unsers geistigen Lebens. Ich bin wohl etwas aus der Rolle gefallen; ich wollte den Pädagogen Paulsen sprechen lassen und habe doch nur mein eignes Herz entdeckt. Ob ich ihm das seine gerührt habe? Oder ob er die Rede wohl zu den papiernen rechnet, die man nicht von Angesicht zu Angesicht halten könne, wie die von dem Segen fremdsprachlicher Übungen für den deutscheu Stil? Nun, hier hat er den Nagel auf den Kopf getroffen, an einer andern Stelle glaubt man jedoch statt des Philosophen einen Agitator zu vernehmen. Es wird ein rührender Fall geschildert: der Sohn eines Arztes, vortrefflicher Schüler eines vortrefflichen Renlgymuasiums, entschließt sich, den Beruf seines Vaters zu ergreifen. „Soll er nun," so fragt Paulsen, „aber sage deine Antwort mir oder dem Bater oder dem Sohn oder dessen alten Lehrern ins Gesicht! soll er sein Elternhaus verlassen, seine naturwissenschaftlichen Studien, sein Englisch bei Seite legen und lernen lateinische Aufsätze und griechische Präparntioneu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/603>, abgerufen am 05.02.2025.