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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

werden für ihren Beruf. Nicht bloß ungeschickt, sondern auch in andrer Be¬
ziehung unfähig; denn es werden in ihnen intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse
geweckt, die nicht befriedigt werden können; mich ihr geistiges Fell oder ihre geistige
Epidermis, wenn das besser klingt, wird zu fein und zart für das harte Los, das
sie erwartet; ähnlich wie die verzärtelte Gelehrtenhand Schmutz, heißes Eisen, den
Schmiedehammer und schwere rauhe Steine nicht mehr zu handhaben vermag.

Nicht darin besteht das Liberale im Schulzwange, daß dem zukünftigen Ochsen-
knccht, Steinklopfer, Kohlenschlepper, Kloakenräumer bis zum vierzehnten Jahre
dieselbe Bildung aufgezwungen wird wie dem zukünftigen Minister, General und
Professor, sondern erstens darin, daß auch der Ärmste lesen und schreiben lernt,
was ihn in den Stand setzt, sich später durch Lesen selbst fortzubilden, an den
geistigen Bewegungen seiner Zeit teilzunehmen, und mit seinesgleichen zu gemein¬
samen Unternehmungen in Verbindung zu treten; sodann darin, daß es durch den
Schulzwang möglich wird, anch unter den Kindern des untersten Standes ein
Talent, ein Genie zu entdecken, und ihm durch Überführung in andre Verhältnisse,
an höhere Lehranstalten den Zugang zu einem ihm angemessenen Wirkungskreise zu
erschließen.




Litteratur
Was nun? Zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterpartei in Deutschland. Von Otto Ham-
mann. Berlin, R. Wilhelmi, 1689

Der hier behandelte Gegenstand ist von unserm freisinnigen Bürgerinn? gering
geachtet, dann vielfach überschätzt und mehr, als gerechtfertigt war, gefürchtet, bis
heute aber wohl niemals vollständig begriffen worden, obwohl er schon einmal von
einem gut unterrichteten und geschickten Schriftsteller behandelt worden ist. Es
war im Jahre 1877, als Franz Mehring sein Buch "Die deutsche Sozialdemo¬
kratie, ihre Geschichte und ihre Lehre" veröffentlichte, das bald eine zweite Auflage
erlebte. In den elf Jahren, die seitdem verflossen sind, hat die deutsche Sozial-
demokratie, von der Regierung und der Gesetzgebung mit verschiednen, zum Teil
sehr kräftigen Mitteln bekämpft und eingeschränkt, mancherlei Wandlungen erlebt,
aber nicht aufgehört, vielen Angst einzuflößen und von allen als eine Art Pfahl
im Fleische des Staates und der Gesellschaft empfunden zu werden. Eine die Zeit
nach Erlaß des Sozialistengesetzcs einschließende Betrachtung ihrer Entwicklung gab
es bisher noch nicht. Zachers Schrift "Die rote Internationale" (Berlin, 1384)
und die Broschüre "Sozinlismus und Anarchismus während der Jahre 1883 bis
1886" (Berlin, 1887) verbreiten sich nur über kürzere Perioden und haben es
nicht bloß mit der sozialdemokratischen Bewegung innerhalb Deutschlands zu thun,
sondern teilen in Gestalt von Jahresberichten allerlei über den Stand dieser Be¬
wegung auch in den Nachbarländern mit. Die Litteratur über die Sache bedürfte


Litteratur

werden für ihren Beruf. Nicht bloß ungeschickt, sondern auch in andrer Be¬
ziehung unfähig; denn es werden in ihnen intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse
geweckt, die nicht befriedigt werden können; mich ihr geistiges Fell oder ihre geistige
Epidermis, wenn das besser klingt, wird zu fein und zart für das harte Los, das
sie erwartet; ähnlich wie die verzärtelte Gelehrtenhand Schmutz, heißes Eisen, den
Schmiedehammer und schwere rauhe Steine nicht mehr zu handhaben vermag.

Nicht darin besteht das Liberale im Schulzwange, daß dem zukünftigen Ochsen-
knccht, Steinklopfer, Kohlenschlepper, Kloakenräumer bis zum vierzehnten Jahre
dieselbe Bildung aufgezwungen wird wie dem zukünftigen Minister, General und
Professor, sondern erstens darin, daß auch der Ärmste lesen und schreiben lernt,
was ihn in den Stand setzt, sich später durch Lesen selbst fortzubilden, an den
geistigen Bewegungen seiner Zeit teilzunehmen, und mit seinesgleichen zu gemein¬
samen Unternehmungen in Verbindung zu treten; sodann darin, daß es durch den
Schulzwang möglich wird, anch unter den Kindern des untersten Standes ein
Talent, ein Genie zu entdecken, und ihm durch Überführung in andre Verhältnisse,
an höhere Lehranstalten den Zugang zu einem ihm angemessenen Wirkungskreise zu
erschließen.




Litteratur
Was nun? Zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterpartei in Deutschland. Von Otto Ham-
mann. Berlin, R. Wilhelmi, 1689

Der hier behandelte Gegenstand ist von unserm freisinnigen Bürgerinn? gering
geachtet, dann vielfach überschätzt und mehr, als gerechtfertigt war, gefürchtet, bis
heute aber wohl niemals vollständig begriffen worden, obwohl er schon einmal von
einem gut unterrichteten und geschickten Schriftsteller behandelt worden ist. Es
war im Jahre 1877, als Franz Mehring sein Buch „Die deutsche Sozialdemo¬
kratie, ihre Geschichte und ihre Lehre" veröffentlichte, das bald eine zweite Auflage
erlebte. In den elf Jahren, die seitdem verflossen sind, hat die deutsche Sozial-
demokratie, von der Regierung und der Gesetzgebung mit verschiednen, zum Teil
sehr kräftigen Mitteln bekämpft und eingeschränkt, mancherlei Wandlungen erlebt,
aber nicht aufgehört, vielen Angst einzuflößen und von allen als eine Art Pfahl
im Fleische des Staates und der Gesellschaft empfunden zu werden. Eine die Zeit
nach Erlaß des Sozialistengesetzcs einschließende Betrachtung ihrer Entwicklung gab
es bisher noch nicht. Zachers Schrift „Die rote Internationale" (Berlin, 1384)
und die Broschüre „Sozinlismus und Anarchismus während der Jahre 1883 bis
1886" (Berlin, 1887) verbreiten sich nur über kürzere Perioden und haben es
nicht bloß mit der sozialdemokratischen Bewegung innerhalb Deutschlands zu thun,
sondern teilen in Gestalt von Jahresberichten allerlei über den Stand dieser Be¬
wegung auch in den Nachbarländern mit. Die Litteratur über die Sache bedürfte


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[0579] Litteratur werden für ihren Beruf. Nicht bloß ungeschickt, sondern auch in andrer Be¬ ziehung unfähig; denn es werden in ihnen intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse geweckt, die nicht befriedigt werden können; mich ihr geistiges Fell oder ihre geistige Epidermis, wenn das besser klingt, wird zu fein und zart für das harte Los, das sie erwartet; ähnlich wie die verzärtelte Gelehrtenhand Schmutz, heißes Eisen, den Schmiedehammer und schwere rauhe Steine nicht mehr zu handhaben vermag. Nicht darin besteht das Liberale im Schulzwange, daß dem zukünftigen Ochsen- knccht, Steinklopfer, Kohlenschlepper, Kloakenräumer bis zum vierzehnten Jahre dieselbe Bildung aufgezwungen wird wie dem zukünftigen Minister, General und Professor, sondern erstens darin, daß auch der Ärmste lesen und schreiben lernt, was ihn in den Stand setzt, sich später durch Lesen selbst fortzubilden, an den geistigen Bewegungen seiner Zeit teilzunehmen, und mit seinesgleichen zu gemein¬ samen Unternehmungen in Verbindung zu treten; sodann darin, daß es durch den Schulzwang möglich wird, anch unter den Kindern des untersten Standes ein Talent, ein Genie zu entdecken, und ihm durch Überführung in andre Verhältnisse, an höhere Lehranstalten den Zugang zu einem ihm angemessenen Wirkungskreise zu erschließen. Litteratur Was nun? Zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterpartei in Deutschland. Von Otto Ham- mann. Berlin, R. Wilhelmi, 1689 Der hier behandelte Gegenstand ist von unserm freisinnigen Bürgerinn? gering geachtet, dann vielfach überschätzt und mehr, als gerechtfertigt war, gefürchtet, bis heute aber wohl niemals vollständig begriffen worden, obwohl er schon einmal von einem gut unterrichteten und geschickten Schriftsteller behandelt worden ist. Es war im Jahre 1877, als Franz Mehring sein Buch „Die deutsche Sozialdemo¬ kratie, ihre Geschichte und ihre Lehre" veröffentlichte, das bald eine zweite Auflage erlebte. In den elf Jahren, die seitdem verflossen sind, hat die deutsche Sozial- demokratie, von der Regierung und der Gesetzgebung mit verschiednen, zum Teil sehr kräftigen Mitteln bekämpft und eingeschränkt, mancherlei Wandlungen erlebt, aber nicht aufgehört, vielen Angst einzuflößen und von allen als eine Art Pfahl im Fleische des Staates und der Gesellschaft empfunden zu werden. Eine die Zeit nach Erlaß des Sozialistengesetzcs einschließende Betrachtung ihrer Entwicklung gab es bisher noch nicht. Zachers Schrift „Die rote Internationale" (Berlin, 1384) und die Broschüre „Sozinlismus und Anarchismus während der Jahre 1883 bis 1886" (Berlin, 1887) verbreiten sich nur über kürzere Perioden und haben es nicht bloß mit der sozialdemokratischen Bewegung innerhalb Deutschlands zu thun, sondern teilen in Gestalt von Jahresberichten allerlei über den Stand dieser Be¬ wegung auch in den Nachbarländern mit. Die Litteratur über die Sache bedürfte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/579>, abgerufen am 05.02.2025.