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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern

vor den Ihrigen "kompromittiren." Darauf legt Goethe in dem Plane ein be¬
sondres Gewicht, das unvorsichtige Geständnis soll den Knoten der Verwicklung
vollends zuziehen. Der fünfte Akt wird im Plane nur kurz berührt: der edeln
Königstochter bleibt beim Scheiden des Ulysses nur der freiwillig gewählte
Tod übrig, wir müssen hinzudenken, weil sie nach der Entdeckung, daß sich
ihr Herz zu einem verheirateten Manne verirrt hat, der heimwärts strebt, um
Weib und Kind wiederzufinden, mit Ehren nicht länger leben kann. Im
Schema wird dieser Auftritt uoch bewegter dargestellt. Ulysses, der sich selbst
für schuldig an Nansikaas Seelenqual erklären muß, sucht, als sie weggegangen
ist, den klugen Vermittler und Sühner zu spielen. Er macht den Eltern den
Vorschlag, der Nausikaa als Entschädigung seinen Sohn Telemach zu geben.
Wirklich gelingt es ihm endlich, die guten Alten für diesen Plan zu gewinnen --
da wird die Leiche der Nausikaa hereingebracht.

Goethe bedauert als Greis in einem Brief um Boissers, daß er das Stück
in jener Zeit nicht vollendet habe, und mehr als einmal hat man seitdem
den Versuch gemacht, es nachdichtend auszuführen, allein dem Stoffe haften
Schwierigkeiten an, die sich nicht beseitigen lassen. Abgesehen davon, daß das
Epische von allen Seiten heran- und hereinbringt, ist die unvorsichtige Hin¬
gebung eines kindlich unbefangenen und reinen Mädchens an einen Mann, der
sich nach geschehenem Geständnis als Gatte und Vater entpuppt, etwas so
Peinliches und Unzartes, daß niemand daran Gefallen finden könnte. Im
Idyll, in der epischen Episode, lassen sich die abstoßenden Züge durch eine
feine Wendung, durch ein rasches Abbrechen verdecken, in dem scharfen Wehen
der Leidenschaft, wie es dem Trauerspiel eigen ist, werden diese Blößen auf
unbarmherzige Weise zur Schau gestellt, und zwar um so mehr, je weniger
die Schuld betont wird. Dies war wohl der Grund, warum Goethe an der
Schwelle des besonnenen Mannesalters den Plan der Tragödie "Nausikaa"
fallen lassen mußte. Es wäre trotz seines antiken Gepräges ein Seitenstück
zur "Stella" geworden.

Ebensowenig wie auf dramatischem konnte Goethe den Homer auf epischem
Gebiete schöpferisch verwerten. Gegen Ende des Jahres 1797, mitten in
theoretischen Untersuchungen über das Epische und Dramatische, die er in
Gemeinschaft mit Schiller eifrig betrieb, vertiefte er sich in die Jlins und
entdeckte dabei einen poetischen Stoff, der im Cyklus der antiken Epen aus
dein trojanischen Sagenkreise noch nicht bearbeitet war: den "Tod des Achill."
Anfangs hielt er den Gegenstand für durchaus tragisch und dachte daran, den
Plau zu einem Drama zu entwerfen, allein bei weiterem Nachdenken trat der
epische Charakter mehr und mehr hervor. Goethe fühlte sich durch den Ge¬
danken erhoben, daß, wenn irgendwo, hier der Punkt sei, an welchen ein
moderner Nachfolger Homers anknüpfen und im Geiste des gewaltigen Musters
den dichterischen Gedanken der Ilias weiterführen, ja abschließen könnte. Aber


Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern

vor den Ihrigen „kompromittiren." Darauf legt Goethe in dem Plane ein be¬
sondres Gewicht, das unvorsichtige Geständnis soll den Knoten der Verwicklung
vollends zuziehen. Der fünfte Akt wird im Plane nur kurz berührt: der edeln
Königstochter bleibt beim Scheiden des Ulysses nur der freiwillig gewählte
Tod übrig, wir müssen hinzudenken, weil sie nach der Entdeckung, daß sich
ihr Herz zu einem verheirateten Manne verirrt hat, der heimwärts strebt, um
Weib und Kind wiederzufinden, mit Ehren nicht länger leben kann. Im
Schema wird dieser Auftritt uoch bewegter dargestellt. Ulysses, der sich selbst
für schuldig an Nansikaas Seelenqual erklären muß, sucht, als sie weggegangen
ist, den klugen Vermittler und Sühner zu spielen. Er macht den Eltern den
Vorschlag, der Nausikaa als Entschädigung seinen Sohn Telemach zu geben.
Wirklich gelingt es ihm endlich, die guten Alten für diesen Plan zu gewinnen —
da wird die Leiche der Nausikaa hereingebracht.

Goethe bedauert als Greis in einem Brief um Boissers, daß er das Stück
in jener Zeit nicht vollendet habe, und mehr als einmal hat man seitdem
den Versuch gemacht, es nachdichtend auszuführen, allein dem Stoffe haften
Schwierigkeiten an, die sich nicht beseitigen lassen. Abgesehen davon, daß das
Epische von allen Seiten heran- und hereinbringt, ist die unvorsichtige Hin¬
gebung eines kindlich unbefangenen und reinen Mädchens an einen Mann, der
sich nach geschehenem Geständnis als Gatte und Vater entpuppt, etwas so
Peinliches und Unzartes, daß niemand daran Gefallen finden könnte. Im
Idyll, in der epischen Episode, lassen sich die abstoßenden Züge durch eine
feine Wendung, durch ein rasches Abbrechen verdecken, in dem scharfen Wehen
der Leidenschaft, wie es dem Trauerspiel eigen ist, werden diese Blößen auf
unbarmherzige Weise zur Schau gestellt, und zwar um so mehr, je weniger
die Schuld betont wird. Dies war wohl der Grund, warum Goethe an der
Schwelle des besonnenen Mannesalters den Plan der Tragödie „Nausikaa"
fallen lassen mußte. Es wäre trotz seines antiken Gepräges ein Seitenstück
zur „Stella" geworden.

Ebensowenig wie auf dramatischem konnte Goethe den Homer auf epischem
Gebiete schöpferisch verwerten. Gegen Ende des Jahres 1797, mitten in
theoretischen Untersuchungen über das Epische und Dramatische, die er in
Gemeinschaft mit Schiller eifrig betrieb, vertiefte er sich in die Jlins und
entdeckte dabei einen poetischen Stoff, der im Cyklus der antiken Epen aus
dein trojanischen Sagenkreise noch nicht bearbeitet war: den „Tod des Achill."
Anfangs hielt er den Gegenstand für durchaus tragisch und dachte daran, den
Plau zu einem Drama zu entwerfen, allein bei weiterem Nachdenken trat der
epische Charakter mehr und mehr hervor. Goethe fühlte sich durch den Ge¬
danken erhoben, daß, wenn irgendwo, hier der Punkt sei, an welchen ein
moderner Nachfolger Homers anknüpfen und im Geiste des gewaltigen Musters
den dichterischen Gedanken der Ilias weiterführen, ja abschließen könnte. Aber


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[0566] Goethes Mettkampf mit den griechischen Dichtern vor den Ihrigen „kompromittiren." Darauf legt Goethe in dem Plane ein be¬ sondres Gewicht, das unvorsichtige Geständnis soll den Knoten der Verwicklung vollends zuziehen. Der fünfte Akt wird im Plane nur kurz berührt: der edeln Königstochter bleibt beim Scheiden des Ulysses nur der freiwillig gewählte Tod übrig, wir müssen hinzudenken, weil sie nach der Entdeckung, daß sich ihr Herz zu einem verheirateten Manne verirrt hat, der heimwärts strebt, um Weib und Kind wiederzufinden, mit Ehren nicht länger leben kann. Im Schema wird dieser Auftritt uoch bewegter dargestellt. Ulysses, der sich selbst für schuldig an Nansikaas Seelenqual erklären muß, sucht, als sie weggegangen ist, den klugen Vermittler und Sühner zu spielen. Er macht den Eltern den Vorschlag, der Nausikaa als Entschädigung seinen Sohn Telemach zu geben. Wirklich gelingt es ihm endlich, die guten Alten für diesen Plan zu gewinnen — da wird die Leiche der Nausikaa hereingebracht. Goethe bedauert als Greis in einem Brief um Boissers, daß er das Stück in jener Zeit nicht vollendet habe, und mehr als einmal hat man seitdem den Versuch gemacht, es nachdichtend auszuführen, allein dem Stoffe haften Schwierigkeiten an, die sich nicht beseitigen lassen. Abgesehen davon, daß das Epische von allen Seiten heran- und hereinbringt, ist die unvorsichtige Hin¬ gebung eines kindlich unbefangenen und reinen Mädchens an einen Mann, der sich nach geschehenem Geständnis als Gatte und Vater entpuppt, etwas so Peinliches und Unzartes, daß niemand daran Gefallen finden könnte. Im Idyll, in der epischen Episode, lassen sich die abstoßenden Züge durch eine feine Wendung, durch ein rasches Abbrechen verdecken, in dem scharfen Wehen der Leidenschaft, wie es dem Trauerspiel eigen ist, werden diese Blößen auf unbarmherzige Weise zur Schau gestellt, und zwar um so mehr, je weniger die Schuld betont wird. Dies war wohl der Grund, warum Goethe an der Schwelle des besonnenen Mannesalters den Plan der Tragödie „Nausikaa" fallen lassen mußte. Es wäre trotz seines antiken Gepräges ein Seitenstück zur „Stella" geworden. Ebensowenig wie auf dramatischem konnte Goethe den Homer auf epischem Gebiete schöpferisch verwerten. Gegen Ende des Jahres 1797, mitten in theoretischen Untersuchungen über das Epische und Dramatische, die er in Gemeinschaft mit Schiller eifrig betrieb, vertiefte er sich in die Jlins und entdeckte dabei einen poetischen Stoff, der im Cyklus der antiken Epen aus dein trojanischen Sagenkreise noch nicht bearbeitet war: den „Tod des Achill." Anfangs hielt er den Gegenstand für durchaus tragisch und dachte daran, den Plau zu einem Drama zu entwerfen, allein bei weiterem Nachdenken trat der epische Charakter mehr und mehr hervor. Goethe fühlte sich durch den Ge¬ danken erhoben, daß, wenn irgendwo, hier der Punkt sei, an welchen ein moderner Nachfolger Homers anknüpfen und im Geiste des gewaltigen Musters den dichterischen Gedanken der Ilias weiterführen, ja abschließen könnte. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/566>, abgerufen am 05.02.2025.