Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern Neigung voraussetzen, er ist ganz Freund, ganz Helfer und Berater, er gehört Pylades drängt zur Flucht, er entwirft einen Plan voll List und Wage¬ Der vierte Aufzug enthält die Vorbereitungen zur Flucht. Für Goethe, Der fünfte Akt ist die Krone des ganzen Werkes. Der Charakter der GnnzboNm U 1889 70
Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern Neigung voraussetzen, er ist ganz Freund, ganz Helfer und Berater, er gehört Pylades drängt zur Flucht, er entwirft einen Plan voll List und Wage¬ Der vierte Aufzug enthält die Vorbereitungen zur Flucht. Für Goethe, Der fünfte Akt ist die Krone des ganzen Werkes. Der Charakter der GnnzboNm U 1889 70
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Goethes Wettkampf mit den griechischen Dichtern
Neigung voraussetzen, er ist ganz Freund, ganz Helfer und Berater, er gehört
dazu, wenn Orest geheilt werden soll. So hat sich wohl Goethe die Situation
gedacht, sonst würde er sicher die Teilnahme der Schwester noch inniger und
thätiger dargestellt haben. Vielleicht offenbart sich auch hier ein feiner psycho¬
logischer Zug, der die jungfräuliche Natur von der mütterlichen unterscheidet.
Die Jungfrau, und selbst die Schwester, weicht stark aufregenden Szenen aus,
die Mutter, die Gattin bleibt unter allen Umständen die Pflegerin.
Pylades drängt zur Flucht, er entwirft einen Plan voll List und Wage¬
mut, um den König Thoas zu täuschen. Was war ihm der König! Nichts
als der Gegner, der überlistet und überwunden werden mußte. Aber er setzt
voraus, daß Iphigenie ihre Lage von demselben Standpunkte aus betrachtet,
und darin zeigt sich wieder seine sittliche Beschränktheit.
Der vierte Aufzug enthält die Vorbereitungen zur Flucht. Für Goethe,
der die Handlung bereits in die Tiefe der Menschenbrust verlegt hatte, konnte
die Steigerung des Interesses nicht allein in der drohenden Gefahr liegen, wie
bei Euripides, sondern mußte zugleich eine Steigerung des sittlichen Gefühls
sein. Iphigenie, die deu Bruder vom Wahnsinn errettet hat, soll sich nun
selbst vor der Lüge und dem Undank retten., Ihr Grübeln und Sinnen, ihr
Versuch, sich zum Werkzeug der List herzugeben, ihr Zögern und Schwanken
vermehrt die Gefahr und giebt Pylades Gelegenheit, die ganze Macht seiner
Beredsamkeit aufzubieten, um die Notlüge zu verteidigen und Iphigenien zu
bewegen, ihre Rolle weiter zu spielen. Die List ist dieselbe wie bei Euripides:
Pylades soll unter dem Vorwande, daß die Gefangnen und das Götterbild
von schuldvoller Befleckung in der Meerflut gereinigt werde» müßten, die Ent¬
führung der Statue und die Flucht vermitteln, das rettende Schiff liegt schon
bereit. Aber herrlich ist, wie Goethe hier die Tendenz der Tantalossage zu
Gunsten der sittlichen Weltordnung verwertet. Seine Iphigenie glaubt die
Entsühunng ihres elterlichen Hauses nicht vollenden zu können, wenn sie mit
Lug und Trug von der gastlichen Zufluchtsstätte scheidet. Das Bewußtsein,
daß so der Fluch nicht erlöschen könne, giebt ihr in dem Kampfe zwischen
der Sorge nur den Vrnder und den Forderungen des Sittengesetzes einen
festen Halt.
Der fünfte Akt ist die Krone des ganzen Werkes. Der Charakter der
Iphigenie leuchtet auf wie die reine Flamme auf dem Altar in höchster sitt¬
licher und priesterlicher Weihe, und weit läßt der christliche moderne Dichter
deu Griechen hinter sich. Es ist abermals ein feiner psychologischer Zug, wie
ihn nur Goethe ans Licht ziehen konnte, daß Iphigenie, die noch immer mit
sich kämpft, dein erzürnten Thoas erst mit dem Stolze der Agamemnonstochtcr
entgegentritt, um ihn von der Verfolgung ihrer Lieben abzuhalten, bis sie
endlich, von der männlichen Ruhe und Selbstbeherrschung des Königs über¬
wunden, jede Verstellung von sich wirft und, der ewigen sittliche» Weltordnung
GnnzboNm U 1889 70
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