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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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der Spannung und Rührung versteht, und weil die reiche und vornehme Bil¬
dung Spielhagens die zahllosen Themen der Politik und der sozialen Frage,
der Litteratur und der Gesellschaft, der Kunst und der Wissenschaft noch immer
in einer hübschen Form, in geistreicher Weise und mit warmer Rhetorik zu
behandeln versteht. Der deutsche Romanleser will sich ja noch immer "bilden":
da freut ihn solch ein Roman. Künstlerisch ist so ein Werk so wenig wichtig
zu nehmen, als ein Roman z. B. von Paul Lindau, der in ganz entgegen¬
gesetzter Weise, durch einen zahmen Naturalismus, sein Publikum zu fesseln
sucht; aber die Fülle der Bildung erhebt doch einen "Neuen Pharao" hoch
über die "Spitzen" u. ühnl.

Unmittelbar nach dem Kriege und der Gründung des Reiches schrieb
Berthold Auerbach in lodernder Begeisterung den (allerdings nicht sehr ge¬
lungenen) Roman "Waldfried." Darin feierte er die Versöhnung der alten,
nach Amerika Verbannten oder ausgewanderten Achtundvierziger mit der neuen
Ordnung der deutschen Dinge. War auch der Einheitstraum nicht genau so
verwirklicht worden, wie sie ihn geträumt hatten, so freuten sie sich doch der
großen Thatsache und sahen im übrigen vertrauensvoll der deutschen Zukunft
in den Händen des neuen Geschlechts entgegen. Damals, um fünfzehn oder
mehr Jahre näher dem Jahre 1848 als jetzt, war Auerbachs Gedanke nicht
bloß dichterisch fruchtbar, fondern auch zeitgemäß. Es lebten noch Männer
genug, die in der Paulskirche gesessen, für die Reichsidee gekämpft und gelitten,
und die in sich selbst die Versöhnung mit der Wandlung der Dinge zu erkämpfen
hatten. Ein charakterfester Schwabe wie Bischer, der im Jahre 1848 Republi¬
kaner war, hatte sich, im Verlaufe der siebziger Jahre doch zum Freunde Bis-
marcks und der Monarchie umgewandelt, wie die unlängst erschienenen Briefe
an Ernst Julius Günthert bezeugten. Auerbach hat also die Wahrheit in
seinem Roman ganz zutreffend geschildert.

Jetzt, nachdem die Nation wieder um soviel älter geworden ist, sich durch
eine Fülle von Ereignissen und neuen Aufgaben von dem Jahre 1848 und
seinen Ideen und Männern entfernt hat, kommt nun Spielhagen auf die
alte Geschichte zurück. Einen nunmehr siebzigjährigen Achtundvierziger, der
in der republikanischen Partei um badischen Aufstände teilgenommen hat, dann
mit Aufopferung von Weib und Kind, Besitz und gesellschaftlichen Rang nach
Amerika geflüchtet war, führt Spielhagen nach dreißigjähriger Abwesenheit
wieder nach Deutschland zurück. Wozu? Um durch die Gegenüberstellung dieses
Mannes und der neuen Zustände den Unterschied der Zeiten darzustellen. Sein
Baron von Alten hat in dem amerikanischen Leben keine Befriedigung ge¬
sundem Er hat dort, wo der Kampf ums Dasein nur sehr egoistische Na¬
turen gedeihen läßt, das Leben eines armen Philosophen geführt, der auf alleu
Rang und Reichtum verzichtet. Er hat die republikanischen Ideale in sich
genährt und sich so ganz und gar dem Entwicklungsgange des Vaterlandes


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der Spannung und Rührung versteht, und weil die reiche und vornehme Bil¬
dung Spielhagens die zahllosen Themen der Politik und der sozialen Frage,
der Litteratur und der Gesellschaft, der Kunst und der Wissenschaft noch immer
in einer hübschen Form, in geistreicher Weise und mit warmer Rhetorik zu
behandeln versteht. Der deutsche Romanleser will sich ja noch immer „bilden":
da freut ihn solch ein Roman. Künstlerisch ist so ein Werk so wenig wichtig
zu nehmen, als ein Roman z. B. von Paul Lindau, der in ganz entgegen¬
gesetzter Weise, durch einen zahmen Naturalismus, sein Publikum zu fesseln
sucht; aber die Fülle der Bildung erhebt doch einen „Neuen Pharao" hoch
über die „Spitzen" u. ühnl.

Unmittelbar nach dem Kriege und der Gründung des Reiches schrieb
Berthold Auerbach in lodernder Begeisterung den (allerdings nicht sehr ge¬
lungenen) Roman „Waldfried." Darin feierte er die Versöhnung der alten,
nach Amerika Verbannten oder ausgewanderten Achtundvierziger mit der neuen
Ordnung der deutschen Dinge. War auch der Einheitstraum nicht genau so
verwirklicht worden, wie sie ihn geträumt hatten, so freuten sie sich doch der
großen Thatsache und sahen im übrigen vertrauensvoll der deutschen Zukunft
in den Händen des neuen Geschlechts entgegen. Damals, um fünfzehn oder
mehr Jahre näher dem Jahre 1848 als jetzt, war Auerbachs Gedanke nicht
bloß dichterisch fruchtbar, fondern auch zeitgemäß. Es lebten noch Männer
genug, die in der Paulskirche gesessen, für die Reichsidee gekämpft und gelitten,
und die in sich selbst die Versöhnung mit der Wandlung der Dinge zu erkämpfen
hatten. Ein charakterfester Schwabe wie Bischer, der im Jahre 1848 Republi¬
kaner war, hatte sich, im Verlaufe der siebziger Jahre doch zum Freunde Bis-
marcks und der Monarchie umgewandelt, wie die unlängst erschienenen Briefe
an Ernst Julius Günthert bezeugten. Auerbach hat also die Wahrheit in
seinem Roman ganz zutreffend geschildert.

Jetzt, nachdem die Nation wieder um soviel älter geworden ist, sich durch
eine Fülle von Ereignissen und neuen Aufgaben von dem Jahre 1848 und
seinen Ideen und Männern entfernt hat, kommt nun Spielhagen auf die
alte Geschichte zurück. Einen nunmehr siebzigjährigen Achtundvierziger, der
in der republikanischen Partei um badischen Aufstände teilgenommen hat, dann
mit Aufopferung von Weib und Kind, Besitz und gesellschaftlichen Rang nach
Amerika geflüchtet war, führt Spielhagen nach dreißigjähriger Abwesenheit
wieder nach Deutschland zurück. Wozu? Um durch die Gegenüberstellung dieses
Mannes und der neuen Zustände den Unterschied der Zeiten darzustellen. Sein
Baron von Alten hat in dem amerikanischen Leben keine Befriedigung ge¬
sundem Er hat dort, wo der Kampf ums Dasein nur sehr egoistische Na¬
turen gedeihen läßt, das Leben eines armen Philosophen geführt, der auf alleu
Rang und Reichtum verzichtet. Er hat die republikanischen Ideale in sich
genährt und sich so ganz und gar dem Entwicklungsgange des Vaterlandes


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[0474] Neue Erzählungen der Spannung und Rührung versteht, und weil die reiche und vornehme Bil¬ dung Spielhagens die zahllosen Themen der Politik und der sozialen Frage, der Litteratur und der Gesellschaft, der Kunst und der Wissenschaft noch immer in einer hübschen Form, in geistreicher Weise und mit warmer Rhetorik zu behandeln versteht. Der deutsche Romanleser will sich ja noch immer „bilden": da freut ihn solch ein Roman. Künstlerisch ist so ein Werk so wenig wichtig zu nehmen, als ein Roman z. B. von Paul Lindau, der in ganz entgegen¬ gesetzter Weise, durch einen zahmen Naturalismus, sein Publikum zu fesseln sucht; aber die Fülle der Bildung erhebt doch einen „Neuen Pharao" hoch über die „Spitzen" u. ühnl. Unmittelbar nach dem Kriege und der Gründung des Reiches schrieb Berthold Auerbach in lodernder Begeisterung den (allerdings nicht sehr ge¬ lungenen) Roman „Waldfried." Darin feierte er die Versöhnung der alten, nach Amerika Verbannten oder ausgewanderten Achtundvierziger mit der neuen Ordnung der deutschen Dinge. War auch der Einheitstraum nicht genau so verwirklicht worden, wie sie ihn geträumt hatten, so freuten sie sich doch der großen Thatsache und sahen im übrigen vertrauensvoll der deutschen Zukunft in den Händen des neuen Geschlechts entgegen. Damals, um fünfzehn oder mehr Jahre näher dem Jahre 1848 als jetzt, war Auerbachs Gedanke nicht bloß dichterisch fruchtbar, fondern auch zeitgemäß. Es lebten noch Männer genug, die in der Paulskirche gesessen, für die Reichsidee gekämpft und gelitten, und die in sich selbst die Versöhnung mit der Wandlung der Dinge zu erkämpfen hatten. Ein charakterfester Schwabe wie Bischer, der im Jahre 1848 Republi¬ kaner war, hatte sich, im Verlaufe der siebziger Jahre doch zum Freunde Bis- marcks und der Monarchie umgewandelt, wie die unlängst erschienenen Briefe an Ernst Julius Günthert bezeugten. Auerbach hat also die Wahrheit in seinem Roman ganz zutreffend geschildert. Jetzt, nachdem die Nation wieder um soviel älter geworden ist, sich durch eine Fülle von Ereignissen und neuen Aufgaben von dem Jahre 1848 und seinen Ideen und Männern entfernt hat, kommt nun Spielhagen auf die alte Geschichte zurück. Einen nunmehr siebzigjährigen Achtundvierziger, der in der republikanischen Partei um badischen Aufstände teilgenommen hat, dann mit Aufopferung von Weib und Kind, Besitz und gesellschaftlichen Rang nach Amerika geflüchtet war, führt Spielhagen nach dreißigjähriger Abwesenheit wieder nach Deutschland zurück. Wozu? Um durch die Gegenüberstellung dieses Mannes und der neuen Zustände den Unterschied der Zeiten darzustellen. Sein Baron von Alten hat in dem amerikanischen Leben keine Befriedigung ge¬ sundem Er hat dort, wo der Kampf ums Dasein nur sehr egoistische Na¬ turen gedeihen läßt, das Leben eines armen Philosophen geführt, der auf alleu Rang und Reichtum verzichtet. Er hat die republikanischen Ideale in sich genährt und sich so ganz und gar dem Entwicklungsgange des Vaterlandes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/474>, abgerufen am 05.02.2025.