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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Neue Erzählungen

Vorwiegend ist der humoristische Vortrag, aber um die grausame Natur zu
charakterisiren, hat er die formell wohl bedeutendste Augustnvvelle "Irrlicht"
gedichtet in einem lakonischer Stile, der der ehernen Novellistik Heinrichs vou
Kleist nachgeahmt zu sein scheint. Nicht alle Nerven werden dieses Kunststück
vertragen, trotz der Bewunderung, die man ihm zollen muß.

Ans die einzelnen Geschichten einzugehen, können wir uns hier ersparen.
Sie sind nicht alle gleichwertig, so schön auch die Landschaftsbilder für sich
durchwegs sind. In der "Sündflut" z. B., wo in zwei Knaben zum ersten
male die Liebe durchbricht, gerade wie sie die schöne Hersilie über das weithin
überschwemmte Ufer am Haff rudern, wird unserm Sinne für Wahrscheinlichkeit
doch zu viel zugemutet. Auch wirkt der ironische Vortrag des Erzählers,
wenn er nicht bald von der spannenden Handlung abgelöst wird, abkühlend.
Die bedeutendste Novelle ist unsers Erachtens "Sturm," die allmählich von
einer großartigen Schilderung der wilden Ostsee im November durch den Humor
der Erzählung ins Erhabene einer großen, sittlichen Handlung hinüberführt.
Der Leuchtturmwüchter Rührte rettet dein schönen Georg, der ihn um die ge¬
liebte Luise in treuloser Don Jnanerie betrogen hat, das Lebe". Dieser Rührte
ist die schönste Charakterfigur, die Hoffmann seit seinem Hexenprediger gelungen
ist. Als die zweitschönste Novelle muß "Thauwind" bezeichnet werden: ein
Stück feinen, liebenswürdigen und dabei fast possenhaft ausgelassenen Humors.

Ein ebenso geistreicher als sinnvoller Gedanke liegt der größern Erzäh¬
lung: Iwan der Schreckliche und sein Hund (Stuttgart, Deutsche Ver¬
lagsanstalt, 1889) zu Grnnde, die gleichzeitig, aber an unteren Orte mit jenem
Novelleneyklns erschien, doch steht sie nicht auf der vollen Höhe der Hoffmann-
schen Kunst. Eigentlich ist das Thema dieser heitern Geschichte der Konflikt
zwischen künstlerisch - beschaulicher Gemütsanlage nud pädagogischen Beruf.
Gotthold Belling, Mathematiker seines Zeichens, muß in Ermangelung der
nötigen Gelder von seinen rein wissenschaftlichen Bestrebungen ablassen, er kann
sich uicht dem Jahre lang unbezahlten Dozententnm widmen, wie es sein
Wunsch ist, er kaun nicht warten, bis er Universitätsprofessor wird, und muß
daher eine bescheidene Stellung am Gymnasium in Stolpemünd annehmen.
Da hat er nnn die Pflicht, Disziplin zu halten. Das kann er aber nicht, die
Schulmeisteret ist ihm in der Seele zuwider. An der urwüchsigen Lebens¬
äußerung ungezähmter Jugend hat er sein ästhetisches Wohlgefallen, er kann
nicht zürnen; er ist ferner ein viel zu gutmütiger Mensch, um sich auch nur
Knaben gegenüber als Musterbild geberden zu können, es erscheint ihm abge¬
schmackt, mit dem Knüttel (ob auch unsichtbar) einhergehen zu müssen. Das
ist sein Konflikt; er paßt nicht für seinen Beruf. Aber die Natur hat mit
ihn: ein seltsames Spiel getrieben. Zu seinem schwachen Herzen hat sie ihm
eine martialische Physiognomie gegeben: schwarzes borstiges Haar umrahmt
ihm das Gesicht, nur aufmerksame Späher erkennen die Herzensgüte in seinen


Neue Erzählungen

Vorwiegend ist der humoristische Vortrag, aber um die grausame Natur zu
charakterisiren, hat er die formell wohl bedeutendste Augustnvvelle „Irrlicht"
gedichtet in einem lakonischer Stile, der der ehernen Novellistik Heinrichs vou
Kleist nachgeahmt zu sein scheint. Nicht alle Nerven werden dieses Kunststück
vertragen, trotz der Bewunderung, die man ihm zollen muß.

Ans die einzelnen Geschichten einzugehen, können wir uns hier ersparen.
Sie sind nicht alle gleichwertig, so schön auch die Landschaftsbilder für sich
durchwegs sind. In der „Sündflut" z. B., wo in zwei Knaben zum ersten
male die Liebe durchbricht, gerade wie sie die schöne Hersilie über das weithin
überschwemmte Ufer am Haff rudern, wird unserm Sinne für Wahrscheinlichkeit
doch zu viel zugemutet. Auch wirkt der ironische Vortrag des Erzählers,
wenn er nicht bald von der spannenden Handlung abgelöst wird, abkühlend.
Die bedeutendste Novelle ist unsers Erachtens „Sturm," die allmählich von
einer großartigen Schilderung der wilden Ostsee im November durch den Humor
der Erzählung ins Erhabene einer großen, sittlichen Handlung hinüberführt.
Der Leuchtturmwüchter Rührte rettet dein schönen Georg, der ihn um die ge¬
liebte Luise in treuloser Don Jnanerie betrogen hat, das Lebe». Dieser Rührte
ist die schönste Charakterfigur, die Hoffmann seit seinem Hexenprediger gelungen
ist. Als die zweitschönste Novelle muß „Thauwind" bezeichnet werden: ein
Stück feinen, liebenswürdigen und dabei fast possenhaft ausgelassenen Humors.

Ein ebenso geistreicher als sinnvoller Gedanke liegt der größern Erzäh¬
lung: Iwan der Schreckliche und sein Hund (Stuttgart, Deutsche Ver¬
lagsanstalt, 1889) zu Grnnde, die gleichzeitig, aber an unteren Orte mit jenem
Novelleneyklns erschien, doch steht sie nicht auf der vollen Höhe der Hoffmann-
schen Kunst. Eigentlich ist das Thema dieser heitern Geschichte der Konflikt
zwischen künstlerisch - beschaulicher Gemütsanlage nud pädagogischen Beruf.
Gotthold Belling, Mathematiker seines Zeichens, muß in Ermangelung der
nötigen Gelder von seinen rein wissenschaftlichen Bestrebungen ablassen, er kann
sich uicht dem Jahre lang unbezahlten Dozententnm widmen, wie es sein
Wunsch ist, er kaun nicht warten, bis er Universitätsprofessor wird, und muß
daher eine bescheidene Stellung am Gymnasium in Stolpemünd annehmen.
Da hat er nnn die Pflicht, Disziplin zu halten. Das kann er aber nicht, die
Schulmeisteret ist ihm in der Seele zuwider. An der urwüchsigen Lebens¬
äußerung ungezähmter Jugend hat er sein ästhetisches Wohlgefallen, er kann
nicht zürnen; er ist ferner ein viel zu gutmütiger Mensch, um sich auch nur
Knaben gegenüber als Musterbild geberden zu können, es erscheint ihm abge¬
schmackt, mit dem Knüttel (ob auch unsichtbar) einhergehen zu müssen. Das
ist sein Konflikt; er paßt nicht für seinen Beruf. Aber die Natur hat mit
ihn: ein seltsames Spiel getrieben. Zu seinem schwachen Herzen hat sie ihm
eine martialische Physiognomie gegeben: schwarzes borstiges Haar umrahmt
ihm das Gesicht, nur aufmerksame Späher erkennen die Herzensgüte in seinen


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[0472] Neue Erzählungen Vorwiegend ist der humoristische Vortrag, aber um die grausame Natur zu charakterisiren, hat er die formell wohl bedeutendste Augustnvvelle „Irrlicht" gedichtet in einem lakonischer Stile, der der ehernen Novellistik Heinrichs vou Kleist nachgeahmt zu sein scheint. Nicht alle Nerven werden dieses Kunststück vertragen, trotz der Bewunderung, die man ihm zollen muß. Ans die einzelnen Geschichten einzugehen, können wir uns hier ersparen. Sie sind nicht alle gleichwertig, so schön auch die Landschaftsbilder für sich durchwegs sind. In der „Sündflut" z. B., wo in zwei Knaben zum ersten male die Liebe durchbricht, gerade wie sie die schöne Hersilie über das weithin überschwemmte Ufer am Haff rudern, wird unserm Sinne für Wahrscheinlichkeit doch zu viel zugemutet. Auch wirkt der ironische Vortrag des Erzählers, wenn er nicht bald von der spannenden Handlung abgelöst wird, abkühlend. Die bedeutendste Novelle ist unsers Erachtens „Sturm," die allmählich von einer großartigen Schilderung der wilden Ostsee im November durch den Humor der Erzählung ins Erhabene einer großen, sittlichen Handlung hinüberführt. Der Leuchtturmwüchter Rührte rettet dein schönen Georg, der ihn um die ge¬ liebte Luise in treuloser Don Jnanerie betrogen hat, das Lebe». Dieser Rührte ist die schönste Charakterfigur, die Hoffmann seit seinem Hexenprediger gelungen ist. Als die zweitschönste Novelle muß „Thauwind" bezeichnet werden: ein Stück feinen, liebenswürdigen und dabei fast possenhaft ausgelassenen Humors. Ein ebenso geistreicher als sinnvoller Gedanke liegt der größern Erzäh¬ lung: Iwan der Schreckliche und sein Hund (Stuttgart, Deutsche Ver¬ lagsanstalt, 1889) zu Grnnde, die gleichzeitig, aber an unteren Orte mit jenem Novelleneyklns erschien, doch steht sie nicht auf der vollen Höhe der Hoffmann- schen Kunst. Eigentlich ist das Thema dieser heitern Geschichte der Konflikt zwischen künstlerisch - beschaulicher Gemütsanlage nud pädagogischen Beruf. Gotthold Belling, Mathematiker seines Zeichens, muß in Ermangelung der nötigen Gelder von seinen rein wissenschaftlichen Bestrebungen ablassen, er kann sich uicht dem Jahre lang unbezahlten Dozententnm widmen, wie es sein Wunsch ist, er kaun nicht warten, bis er Universitätsprofessor wird, und muß daher eine bescheidene Stellung am Gymnasium in Stolpemünd annehmen. Da hat er nnn die Pflicht, Disziplin zu halten. Das kann er aber nicht, die Schulmeisteret ist ihm in der Seele zuwider. An der urwüchsigen Lebens¬ äußerung ungezähmter Jugend hat er sein ästhetisches Wohlgefallen, er kann nicht zürnen; er ist ferner ein viel zu gutmütiger Mensch, um sich auch nur Knaben gegenüber als Musterbild geberden zu können, es erscheint ihm abge¬ schmackt, mit dem Knüttel (ob auch unsichtbar) einhergehen zu müssen. Das ist sein Konflikt; er paßt nicht für seinen Beruf. Aber die Natur hat mit ihn: ein seltsames Spiel getrieben. Zu seinem schwachen Herzen hat sie ihm eine martialische Physiognomie gegeben: schwarzes borstiges Haar umrahmt ihm das Gesicht, nur aufmerksame Späher erkennen die Herzensgüte in seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/472>, abgerufen am 05.02.2025.