Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweck erfüllen, wenigstens die Anhänglichkeit der Gleichgearteten und die gegen¬
seitige Hilfsbereitschaft verstärken, ,die Grundlage für wertvollere Organisationen
darbieten, wenn solche nötig werden sollten, und denen nachleben zu dürfen
ein Gefühl des Wohlbehagens erzeugt. Jedenfalls ist der nicht frei, der nicht
nach seinem Geschmack leben darf.

Wir sehen, die Alternative: Freiheit oder Knechtschaft kommt in Wirk¬
lichkeit fast gar nicht vor. Zivilisirtes Leben ist nicht denkbar ohne ver¬
schiedenerlei Abhängigkeitsverhältnisse, denen gegenüber je nach den mancherlei
Standpunkten eine sehr verschiedne Haltung beobachtet zu werden pflegt.

Der Christ wird vor allem das freie Bekenntnis seines Glaubens und
die sittliche Freiheit erstreben; eine Mischung von äußerer Freiheit und Ab¬
hängigkeit, bei dem jene beiden Güter am besten gedeihen, wird ihm als der
angemessenste soziale und politische Zustand erscheinen. Der Menschenfreund
wird daraus bedacht sein, den Druck zu mildern, der immer und überall
auf den untersten Schichten der Gesellschaft lastet. Der Privatmann wird,
wenn er die Macht hat, sich dasjenige Abhängigkeitsverhältnis aufsuchen, das
seiner Eigenart nur wenigsten widerstrebt, und wird innerhalb desselben seine
Bande so viel wie möglich zu lockern suchen. Der demokratische Politiker
wird für die untern Klassen ein möglichst hohes Maß von Bewegungsfreiheit
und eine möglichst ausgedehnte Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung
erstreben. Ein Staatsmann endlich, der ohne vorgefaßte Theorie das Wohl
des großen Ganzen im Auge behält, wird zwischen der Regierungsgewalt und
der individuellen Freiheit das Gleichgewicht herzustellen suchen. Zur letztern
gehört die Selbständigkeit der Kirchen, Stände, Korporationen, Landschaften,
Gemeinden insofern, als der kleine Mann seinen Willen ja nnr in Gemein¬
schaft mit seinesgleichen geltend zu machen vermag. Überwiegt im Staate
die Regierungsgewalt zu stark, so werden die Individualitäten erdrückt, das
Volk wird dumm, und die Regierung, die ja nicht vom Himmel fällt, mit ihm.
Überwiegen aber die Individuen und die kleinern Kreise, so wird der Staat
gesprengt, und man gelangt entweder zu dein bekannten Schwanken zwischen
Anarchie und Despotismus, oder das Leben erstarrt in jenen kleinern Kreisen,
die zu beschränkt und einseitig sind, als daß sie ohne Zusammenhang mit
einen: großen Ganzen ihren Angehörigen immer frische Ströme von Ideen
und würdigen Aufgaben zuführen konnten. Außerdem gerät ein Volk, das
der starken Zentralgewalt entbehrt, gewöhnlich in Abhängigkeit vom Auslande.
(Ähnlich beurteilt Röscher diese Verhältnisse a. a. O. II, 1--1<i.)




Zweck erfüllen, wenigstens die Anhänglichkeit der Gleichgearteten und die gegen¬
seitige Hilfsbereitschaft verstärken, ,die Grundlage für wertvollere Organisationen
darbieten, wenn solche nötig werden sollten, und denen nachleben zu dürfen
ein Gefühl des Wohlbehagens erzeugt. Jedenfalls ist der nicht frei, der nicht
nach seinem Geschmack leben darf.

Wir sehen, die Alternative: Freiheit oder Knechtschaft kommt in Wirk¬
lichkeit fast gar nicht vor. Zivilisirtes Leben ist nicht denkbar ohne ver¬
schiedenerlei Abhängigkeitsverhältnisse, denen gegenüber je nach den mancherlei
Standpunkten eine sehr verschiedne Haltung beobachtet zu werden pflegt.

Der Christ wird vor allem das freie Bekenntnis seines Glaubens und
die sittliche Freiheit erstreben; eine Mischung von äußerer Freiheit und Ab¬
hängigkeit, bei dem jene beiden Güter am besten gedeihen, wird ihm als der
angemessenste soziale und politische Zustand erscheinen. Der Menschenfreund
wird daraus bedacht sein, den Druck zu mildern, der immer und überall
auf den untersten Schichten der Gesellschaft lastet. Der Privatmann wird,
wenn er die Macht hat, sich dasjenige Abhängigkeitsverhältnis aufsuchen, das
seiner Eigenart nur wenigsten widerstrebt, und wird innerhalb desselben seine
Bande so viel wie möglich zu lockern suchen. Der demokratische Politiker
wird für die untern Klassen ein möglichst hohes Maß von Bewegungsfreiheit
und eine möglichst ausgedehnte Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung
erstreben. Ein Staatsmann endlich, der ohne vorgefaßte Theorie das Wohl
des großen Ganzen im Auge behält, wird zwischen der Regierungsgewalt und
der individuellen Freiheit das Gleichgewicht herzustellen suchen. Zur letztern
gehört die Selbständigkeit der Kirchen, Stände, Korporationen, Landschaften,
Gemeinden insofern, als der kleine Mann seinen Willen ja nnr in Gemein¬
schaft mit seinesgleichen geltend zu machen vermag. Überwiegt im Staate
die Regierungsgewalt zu stark, so werden die Individualitäten erdrückt, das
Volk wird dumm, und die Regierung, die ja nicht vom Himmel fällt, mit ihm.
Überwiegen aber die Individuen und die kleinern Kreise, so wird der Staat
gesprengt, und man gelangt entweder zu dein bekannten Schwanken zwischen
Anarchie und Despotismus, oder das Leben erstarrt in jenen kleinern Kreisen,
die zu beschränkt und einseitig sind, als daß sie ohne Zusammenhang mit
einen: großen Ganzen ihren Angehörigen immer frische Ströme von Ideen
und würdigen Aufgaben zuführen konnten. Außerdem gerät ein Volk, das
der starken Zentralgewalt entbehrt, gewöhnlich in Abhängigkeit vom Auslande.
(Ähnlich beurteilt Röscher diese Verhältnisse a. a. O. II, 1—1<i.)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0412" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/205143"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1147" prev="#ID_1146"> Zweck erfüllen, wenigstens die Anhänglichkeit der Gleichgearteten und die gegen¬<lb/>
seitige Hilfsbereitschaft verstärken, ,die Grundlage für wertvollere Organisationen<lb/>
darbieten, wenn solche nötig werden sollten, und denen nachleben zu dürfen<lb/>
ein Gefühl des Wohlbehagens erzeugt. Jedenfalls ist der nicht frei, der nicht<lb/>
nach seinem Geschmack leben darf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1148"> Wir sehen, die Alternative: Freiheit oder Knechtschaft kommt in Wirk¬<lb/>
lichkeit fast gar nicht vor. Zivilisirtes Leben ist nicht denkbar ohne ver¬<lb/>
schiedenerlei Abhängigkeitsverhältnisse, denen gegenüber je nach den mancherlei<lb/>
Standpunkten eine sehr verschiedne Haltung beobachtet zu werden pflegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1149"> Der Christ wird vor allem das freie Bekenntnis seines Glaubens und<lb/>
die sittliche Freiheit erstreben; eine Mischung von äußerer Freiheit und Ab¬<lb/>
hängigkeit, bei dem jene beiden Güter am besten gedeihen, wird ihm als der<lb/>
angemessenste soziale und politische Zustand erscheinen. Der Menschenfreund<lb/>
wird daraus bedacht sein, den Druck zu mildern, der immer und überall<lb/>
auf den untersten Schichten der Gesellschaft lastet. Der Privatmann wird,<lb/>
wenn er die Macht hat, sich dasjenige Abhängigkeitsverhältnis aufsuchen, das<lb/>
seiner Eigenart nur wenigsten widerstrebt, und wird innerhalb desselben seine<lb/>
Bande so viel wie möglich zu lockern suchen. Der demokratische Politiker<lb/>
wird für die untern Klassen ein möglichst hohes Maß von Bewegungsfreiheit<lb/>
und eine möglichst ausgedehnte Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung<lb/>
erstreben. Ein Staatsmann endlich, der ohne vorgefaßte Theorie das Wohl<lb/>
des großen Ganzen im Auge behält, wird zwischen der Regierungsgewalt und<lb/>
der individuellen Freiheit das Gleichgewicht herzustellen suchen. Zur letztern<lb/>
gehört die Selbständigkeit der Kirchen, Stände, Korporationen, Landschaften,<lb/>
Gemeinden insofern, als der kleine Mann seinen Willen ja nnr in Gemein¬<lb/>
schaft mit seinesgleichen geltend zu machen vermag. Überwiegt im Staate<lb/>
die Regierungsgewalt zu stark, so werden die Individualitäten erdrückt, das<lb/>
Volk wird dumm, und die Regierung, die ja nicht vom Himmel fällt, mit ihm.<lb/>
Überwiegen aber die Individuen und die kleinern Kreise, so wird der Staat<lb/>
gesprengt, und man gelangt entweder zu dein bekannten Schwanken zwischen<lb/>
Anarchie und Despotismus, oder das Leben erstarrt in jenen kleinern Kreisen,<lb/>
die zu beschränkt und einseitig sind, als daß sie ohne Zusammenhang mit<lb/>
einen: großen Ganzen ihren Angehörigen immer frische Ströme von Ideen<lb/>
und würdigen Aufgaben zuführen konnten. Außerdem gerät ein Volk, das<lb/>
der starken Zentralgewalt entbehrt, gewöhnlich in Abhängigkeit vom Auslande.<lb/>
(Ähnlich beurteilt Röscher diese Verhältnisse a. a. O. II, 1&#x2014;1&lt;i.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0412] Zweck erfüllen, wenigstens die Anhänglichkeit der Gleichgearteten und die gegen¬ seitige Hilfsbereitschaft verstärken, ,die Grundlage für wertvollere Organisationen darbieten, wenn solche nötig werden sollten, und denen nachleben zu dürfen ein Gefühl des Wohlbehagens erzeugt. Jedenfalls ist der nicht frei, der nicht nach seinem Geschmack leben darf. Wir sehen, die Alternative: Freiheit oder Knechtschaft kommt in Wirk¬ lichkeit fast gar nicht vor. Zivilisirtes Leben ist nicht denkbar ohne ver¬ schiedenerlei Abhängigkeitsverhältnisse, denen gegenüber je nach den mancherlei Standpunkten eine sehr verschiedne Haltung beobachtet zu werden pflegt. Der Christ wird vor allem das freie Bekenntnis seines Glaubens und die sittliche Freiheit erstreben; eine Mischung von äußerer Freiheit und Ab¬ hängigkeit, bei dem jene beiden Güter am besten gedeihen, wird ihm als der angemessenste soziale und politische Zustand erscheinen. Der Menschenfreund wird daraus bedacht sein, den Druck zu mildern, der immer und überall auf den untersten Schichten der Gesellschaft lastet. Der Privatmann wird, wenn er die Macht hat, sich dasjenige Abhängigkeitsverhältnis aufsuchen, das seiner Eigenart nur wenigsten widerstrebt, und wird innerhalb desselben seine Bande so viel wie möglich zu lockern suchen. Der demokratische Politiker wird für die untern Klassen ein möglichst hohes Maß von Bewegungsfreiheit und eine möglichst ausgedehnte Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung erstreben. Ein Staatsmann endlich, der ohne vorgefaßte Theorie das Wohl des großen Ganzen im Auge behält, wird zwischen der Regierungsgewalt und der individuellen Freiheit das Gleichgewicht herzustellen suchen. Zur letztern gehört die Selbständigkeit der Kirchen, Stände, Korporationen, Landschaften, Gemeinden insofern, als der kleine Mann seinen Willen ja nnr in Gemein¬ schaft mit seinesgleichen geltend zu machen vermag. Überwiegt im Staate die Regierungsgewalt zu stark, so werden die Individualitäten erdrückt, das Volk wird dumm, und die Regierung, die ja nicht vom Himmel fällt, mit ihm. Überwiegen aber die Individuen und die kleinern Kreise, so wird der Staat gesprengt, und man gelangt entweder zu dein bekannten Schwanken zwischen Anarchie und Despotismus, oder das Leben erstarrt in jenen kleinern Kreisen, die zu beschränkt und einseitig sind, als daß sie ohne Zusammenhang mit einen: großen Ganzen ihren Angehörigen immer frische Ströme von Ideen und würdigen Aufgaben zuführen konnten. Außerdem gerät ein Volk, das der starken Zentralgewalt entbehrt, gewöhnlich in Abhängigkeit vom Auslande. (Ähnlich beurteilt Röscher diese Verhältnisse a. a. O. II, 1—1<i.)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/412
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/412>, abgerufen am 05.02.2025.