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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Freiheit

Aufbau, teils in der Zersetzung begriffen sind, werden ihre Bestandteile ab¬
wechselnd gebunden und frei. Dabei kommt zwar ein beständiger Wechsel, aber
kein eigentlicher Fortschritt heraus; den" jener Fortschritt zu höheren Orgcmi-
sativnsstufen, den die Dnrwinianer lehren, vollzieht sich nach ihrer eignen
Voraussetzung in so ungeheuer laugen Zeiträumen, daß er über den Nahmen
der Weltgeschichte hinausfällt, weshalb er, wenn er auch in Wirklichkeit statt¬
finden sollte, doch für die menschliche Erfahrung nicht vorhanden sein würde.

Daß dieser Wechsel kein müßiges, zweckloses Spiel ist, daß auch bei ihm
von einem Fortschritt gesprochen werden kann, wenn auch weder im Sinne
Hegels, noch in dem Häckcls oder Hartmanns, daß gerade diese Ansicht zur
Herrschaft eines gesunden Optimismus führt, ohne dem Pessimismus, soweit
er berechtigt ist, auszuschließen, das zu beweisen, würde den Gegenstand einer
besondern Untersuchung ausmachen.

Die nachfolgenden zwei geschichtlichen Skizzen werden den Umbildnngs-
prozeß der Gesellschaftsformen hinsichtlich der Freiheit einigermaßen ver¬
anschaulichen.

Nachdem sich in Ober- und Mittelitalien die Finte" der Völkerwanderung
Herlaufen hatten, fand sich das Land größtenteils im Besitze langobardischer
und fränkischer Herren, denen italische Bauern als Leibeigne den Acker bestellten,
während in den klein gewordenen verarmten Städten die Neste der industrielle"!
Bevölkerung Gewerbe und einen sehr bescheidenen Handel betriebe". Nur
Venedig schwang sich gleich im Anfange dieser Periode zu hoher Bedeutung
empor. Zwei Jahrhunderte verhältnismäßiger Ruhe (lW0 geimgte",
die durch germanisches Blut aufgefrischte Stadtbevölkerung -- jeder Römerzug
führte einen neuen Strom zu -- so weit erstarken zu lassen, daß sie sich von der
königliche" wie von der bischöfliche" Gerichtsbarkeit befreite und Republiken
gründete. In ihren Zünften (früher seimig später l"'t>o8 genannt) lebte der
alte Bürgergeist fort (hie und da sogar die nltrömische Munizipalverfassung;
ein merkwürdiges Beispiel im ^.rolüvio Storioo IWImno von 1888: Kt.Ä,we.i
äollg. "zitt-d. all Ooiuzm-alia), und entfaltete bei wachsendem Wohlstande eine
erstaunliche politische Zeugungskraft: mit der Frühlingssaat schössen alljährlich
neue Verfassungen ans diesem fruchtbaren Boden hervor. Bald zogen die
kraftstrotzenden Bürger ans, die Bürgen der Feudalherren zu brechen, zwangen
viele der letztern, in die Stadt zu ziehen und nach städtischem Necht zu leben,
hoben die Leibeigenschaft auf und gewannen so Arbeitskräfte: zahlreich strömteii
die befreiten Bauern in die Stadt. Nicht durchweg entsprach die Freiheit, die
sie dort fanden, der gehegten Erwartung. Manche häufte" zwar Reichtümer
und wurden vornehme Herren; die Mehrzahl aber blieb i" eine Klasse von
Menschen gebannt, die wir als Fabrikarbeiter bezeichnen dürfen. Sie klagten
über Ausbeutung, über kärglichen Lohn, ja über Mißhandlung. Damit war
ein neuer Gühruugsstoff, ein Antrieb zu weiterem Fortschritt gegeben. Das


Freiheit

Aufbau, teils in der Zersetzung begriffen sind, werden ihre Bestandteile ab¬
wechselnd gebunden und frei. Dabei kommt zwar ein beständiger Wechsel, aber
kein eigentlicher Fortschritt heraus; den» jener Fortschritt zu höheren Orgcmi-
sativnsstufen, den die Dnrwinianer lehren, vollzieht sich nach ihrer eignen
Voraussetzung in so ungeheuer laugen Zeiträumen, daß er über den Nahmen
der Weltgeschichte hinausfällt, weshalb er, wenn er auch in Wirklichkeit statt¬
finden sollte, doch für die menschliche Erfahrung nicht vorhanden sein würde.

Daß dieser Wechsel kein müßiges, zweckloses Spiel ist, daß auch bei ihm
von einem Fortschritt gesprochen werden kann, wenn auch weder im Sinne
Hegels, noch in dem Häckcls oder Hartmanns, daß gerade diese Ansicht zur
Herrschaft eines gesunden Optimismus führt, ohne dem Pessimismus, soweit
er berechtigt ist, auszuschließen, das zu beweisen, würde den Gegenstand einer
besondern Untersuchung ausmachen.

Die nachfolgenden zwei geschichtlichen Skizzen werden den Umbildnngs-
prozeß der Gesellschaftsformen hinsichtlich der Freiheit einigermaßen ver¬
anschaulichen.

Nachdem sich in Ober- und Mittelitalien die Finte» der Völkerwanderung
Herlaufen hatten, fand sich das Land größtenteils im Besitze langobardischer
und fränkischer Herren, denen italische Bauern als Leibeigne den Acker bestellten,
während in den klein gewordenen verarmten Städten die Neste der industrielle«!
Bevölkerung Gewerbe und einen sehr bescheidenen Handel betriebe». Nur
Venedig schwang sich gleich im Anfange dieser Periode zu hoher Bedeutung
empor. Zwei Jahrhunderte verhältnismäßiger Ruhe (lW0 geimgte»,
die durch germanisches Blut aufgefrischte Stadtbevölkerung — jeder Römerzug
führte einen neuen Strom zu — so weit erstarken zu lassen, daß sie sich von der
königliche» wie von der bischöfliche» Gerichtsbarkeit befreite und Republiken
gründete. In ihren Zünften (früher seimig später l»'t>o8 genannt) lebte der
alte Bürgergeist fort (hie und da sogar die nltrömische Munizipalverfassung;
ein merkwürdiges Beispiel im ^.rolüvio Storioo IWImno von 1888: Kt.Ä,we.i
äollg. «zitt-d. all Ooiuzm-alia), und entfaltete bei wachsendem Wohlstande eine
erstaunliche politische Zeugungskraft: mit der Frühlingssaat schössen alljährlich
neue Verfassungen ans diesem fruchtbaren Boden hervor. Bald zogen die
kraftstrotzenden Bürger ans, die Bürgen der Feudalherren zu brechen, zwangen
viele der letztern, in die Stadt zu ziehen und nach städtischem Necht zu leben,
hoben die Leibeigenschaft auf und gewannen so Arbeitskräfte: zahlreich strömteii
die befreiten Bauern in die Stadt. Nicht durchweg entsprach die Freiheit, die
sie dort fanden, der gehegten Erwartung. Manche häufte» zwar Reichtümer
und wurden vornehme Herren; die Mehrzahl aber blieb i» eine Klasse von
Menschen gebannt, die wir als Fabrikarbeiter bezeichnen dürfen. Sie klagten
über Ausbeutung, über kärglichen Lohn, ja über Mißhandlung. Damit war
ein neuer Gühruugsstoff, ein Antrieb zu weiterem Fortschritt gegeben. Das


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[0394] Freiheit Aufbau, teils in der Zersetzung begriffen sind, werden ihre Bestandteile ab¬ wechselnd gebunden und frei. Dabei kommt zwar ein beständiger Wechsel, aber kein eigentlicher Fortschritt heraus; den» jener Fortschritt zu höheren Orgcmi- sativnsstufen, den die Dnrwinianer lehren, vollzieht sich nach ihrer eignen Voraussetzung in so ungeheuer laugen Zeiträumen, daß er über den Nahmen der Weltgeschichte hinausfällt, weshalb er, wenn er auch in Wirklichkeit statt¬ finden sollte, doch für die menschliche Erfahrung nicht vorhanden sein würde. Daß dieser Wechsel kein müßiges, zweckloses Spiel ist, daß auch bei ihm von einem Fortschritt gesprochen werden kann, wenn auch weder im Sinne Hegels, noch in dem Häckcls oder Hartmanns, daß gerade diese Ansicht zur Herrschaft eines gesunden Optimismus führt, ohne dem Pessimismus, soweit er berechtigt ist, auszuschließen, das zu beweisen, würde den Gegenstand einer besondern Untersuchung ausmachen. Die nachfolgenden zwei geschichtlichen Skizzen werden den Umbildnngs- prozeß der Gesellschaftsformen hinsichtlich der Freiheit einigermaßen ver¬ anschaulichen. Nachdem sich in Ober- und Mittelitalien die Finte» der Völkerwanderung Herlaufen hatten, fand sich das Land größtenteils im Besitze langobardischer und fränkischer Herren, denen italische Bauern als Leibeigne den Acker bestellten, während in den klein gewordenen verarmten Städten die Neste der industrielle«! Bevölkerung Gewerbe und einen sehr bescheidenen Handel betriebe». Nur Venedig schwang sich gleich im Anfange dieser Periode zu hoher Bedeutung empor. Zwei Jahrhunderte verhältnismäßiger Ruhe (lW0 geimgte», die durch germanisches Blut aufgefrischte Stadtbevölkerung — jeder Römerzug führte einen neuen Strom zu — so weit erstarken zu lassen, daß sie sich von der königliche» wie von der bischöfliche» Gerichtsbarkeit befreite und Republiken gründete. In ihren Zünften (früher seimig später l»'t>o8 genannt) lebte der alte Bürgergeist fort (hie und da sogar die nltrömische Munizipalverfassung; ein merkwürdiges Beispiel im ^.rolüvio Storioo IWImno von 1888: Kt.Ä,we.i äollg. «zitt-d. all Ooiuzm-alia), und entfaltete bei wachsendem Wohlstande eine erstaunliche politische Zeugungskraft: mit der Frühlingssaat schössen alljährlich neue Verfassungen ans diesem fruchtbaren Boden hervor. Bald zogen die kraftstrotzenden Bürger ans, die Bürgen der Feudalherren zu brechen, zwangen viele der letztern, in die Stadt zu ziehen und nach städtischem Necht zu leben, hoben die Leibeigenschaft auf und gewannen so Arbeitskräfte: zahlreich strömteii die befreiten Bauern in die Stadt. Nicht durchweg entsprach die Freiheit, die sie dort fanden, der gehegten Erwartung. Manche häufte» zwar Reichtümer und wurden vornehme Herren; die Mehrzahl aber blieb i» eine Klasse von Menschen gebannt, die wir als Fabrikarbeiter bezeichnen dürfen. Sie klagten über Ausbeutung, über kärglichen Lohn, ja über Mißhandlung. Damit war ein neuer Gühruugsstoff, ein Antrieb zu weiterem Fortschritt gegeben. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/394>, abgerufen am 05.02.2025.