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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Nationalzeit, örtliche oder ZVeltzeit?

sogar die ägyptischen Pyramiden zu gehören scheinen, haben die Zeit bestimmt
bis in die jüngsten Tage herein.

Erst unserm Jahrhundert war es vorbehalten, eine Verfeinerung der Zeit¬
maße auch sür das bürgerliche Leben durchzuführen. Das kaun man unserm
ebenso gepriesenen wie geschmähten Jahrhundert nicht abstreiten, daß erst in
ihm der unschätzbare Wert der Zeit für alle und für jeden wirklich zur Geltung
gebracht worden ist, nicht bloß in dem einseitigen Sinne des unio is mons^,
sondern auch in dem höhern, daß unsre ganze Lebensdauer mit all ihrem
Streben und Hoffen ans Zeit besteht, weshalb jn in Goethes pädagogischer
Provinz den Uhren die wichtigste Rolle zugewiesen ist. Je weiter nämlich die
Arbeitsteilung im wirtschaftlichen Leben fortschritt und pünktliches Eingreifen
vieler Kräfte in einander forderte, desto dringender wurde das Verlangen lant,
ein genaues gleichförmiges Zeitmaß zu besitzen. Denn daß die natürlichen
Sonnentage von Mittag zu Mittag ganz beträchtliche Verschiedenheiten ihrer
Dauer aufweisen, war uicht verborgen geblieben.

Man wollte ein sogenanntes absolutes Zeitmaß. Ich muß hier Vorbeigehen
an der philosophisch wie mathematisch und naturwissenschaftlich gleich airziehenden.
Frage: Giebt es überhaupt ein absolutes, ein schlechthin unveränderliches Zeitmaß?
Nur weniges will ich darüber andeuten. Daß unsre Seele unfähig ist, ohne Hilfe
äußerer Eindrücke Zeitlängen abzuschätzen, erfahren wir täglich. Denn das einemnl
wird jemand gewahr, die Zeit sei ihm "verflogen, er wisse nicht wie," ein ander¬
mal wird ihm die Zeit "wer weiß wie lang." Für ein absolutes Zeitmaß
braucht man äußere Erscheinungen, braucht man namentlich periodisch wieder¬
kehrende Bewegungen, Kreislaufe oder Schwingungen. Viele dergleichen hat
man versucht, die besten sind die des Pendels, von dem großen Huyghens
1657 eingeführt, und die der Spiralfeder in unsrer Taschenuhr und im Seechrvuo-
meter. Aber auch diese wieder müssen schließlich verglichen werden mit einem
konstanten Zeitmaße. Dieses konstante Zeitmaß ist nur vom Himmel zu holen,
weswegen für alle Zeit die Astronomie die Wächterin unsrer Chronologie bleibt.
Aber uicht der dehnbare Sonnentag ist dieses Zeitmaß, sondern der Sterntag,
d. h. die Zeit, während deren irgend ein Fixstern, z. V. das Deichselende am
Himmelswagen, wieder an seine vorige Stelle zurückkehrt. Dieses geschieht im
gemeinen Jahre 366mal, im Schaltjahre 367mal; während die Sonne, die ein
wenig langsamer ist, im Jahre geuau einen Umlauf weniger macht, nämlich
die bekannten 365 oder 366 Umläufe. Nach der wahren Weltansicht ist der
Sterutag die Dauer eines einmaligen Umschwunges des Erdballes.

Gleichförmige Sternzeit giebt die Hauptuhr einer Sternwarte, die gleich¬
förmige Sternzeit war schon den ältesten griechischen Astronomen wohl be¬
kannt. Gleichwohl hat man niemals versucht, dieses wissenschaftlich beste
Zeitmaß, den Sterntag, auch ins bürgerliche Leben einzuführen. Das natür¬
liche Gefühl der Menschen, die mit der Sonne aufstehen und an die Arbeit


Nationalzeit, örtliche oder ZVeltzeit?

sogar die ägyptischen Pyramiden zu gehören scheinen, haben die Zeit bestimmt
bis in die jüngsten Tage herein.

Erst unserm Jahrhundert war es vorbehalten, eine Verfeinerung der Zeit¬
maße auch sür das bürgerliche Leben durchzuführen. Das kaun man unserm
ebenso gepriesenen wie geschmähten Jahrhundert nicht abstreiten, daß erst in
ihm der unschätzbare Wert der Zeit für alle und für jeden wirklich zur Geltung
gebracht worden ist, nicht bloß in dem einseitigen Sinne des unio is mons^,
sondern auch in dem höhern, daß unsre ganze Lebensdauer mit all ihrem
Streben und Hoffen ans Zeit besteht, weshalb jn in Goethes pädagogischer
Provinz den Uhren die wichtigste Rolle zugewiesen ist. Je weiter nämlich die
Arbeitsteilung im wirtschaftlichen Leben fortschritt und pünktliches Eingreifen
vieler Kräfte in einander forderte, desto dringender wurde das Verlangen lant,
ein genaues gleichförmiges Zeitmaß zu besitzen. Denn daß die natürlichen
Sonnentage von Mittag zu Mittag ganz beträchtliche Verschiedenheiten ihrer
Dauer aufweisen, war uicht verborgen geblieben.

Man wollte ein sogenanntes absolutes Zeitmaß. Ich muß hier Vorbeigehen
an der philosophisch wie mathematisch und naturwissenschaftlich gleich airziehenden.
Frage: Giebt es überhaupt ein absolutes, ein schlechthin unveränderliches Zeitmaß?
Nur weniges will ich darüber andeuten. Daß unsre Seele unfähig ist, ohne Hilfe
äußerer Eindrücke Zeitlängen abzuschätzen, erfahren wir täglich. Denn das einemnl
wird jemand gewahr, die Zeit sei ihm „verflogen, er wisse nicht wie," ein ander¬
mal wird ihm die Zeit „wer weiß wie lang." Für ein absolutes Zeitmaß
braucht man äußere Erscheinungen, braucht man namentlich periodisch wieder¬
kehrende Bewegungen, Kreislaufe oder Schwingungen. Viele dergleichen hat
man versucht, die besten sind die des Pendels, von dem großen Huyghens
1657 eingeführt, und die der Spiralfeder in unsrer Taschenuhr und im Seechrvuo-
meter. Aber auch diese wieder müssen schließlich verglichen werden mit einem
konstanten Zeitmaße. Dieses konstante Zeitmaß ist nur vom Himmel zu holen,
weswegen für alle Zeit die Astronomie die Wächterin unsrer Chronologie bleibt.
Aber uicht der dehnbare Sonnentag ist dieses Zeitmaß, sondern der Sterntag,
d. h. die Zeit, während deren irgend ein Fixstern, z. V. das Deichselende am
Himmelswagen, wieder an seine vorige Stelle zurückkehrt. Dieses geschieht im
gemeinen Jahre 366mal, im Schaltjahre 367mal; während die Sonne, die ein
wenig langsamer ist, im Jahre geuau einen Umlauf weniger macht, nämlich
die bekannten 365 oder 366 Umläufe. Nach der wahren Weltansicht ist der
Sterutag die Dauer eines einmaligen Umschwunges des Erdballes.

Gleichförmige Sternzeit giebt die Hauptuhr einer Sternwarte, die gleich¬
förmige Sternzeit war schon den ältesten griechischen Astronomen wohl be¬
kannt. Gleichwohl hat man niemals versucht, dieses wissenschaftlich beste
Zeitmaß, den Sterntag, auch ins bürgerliche Leben einzuführen. Das natür¬
liche Gefühl der Menschen, die mit der Sonne aufstehen und an die Arbeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/330>, abgerufen am 05.02.2025.