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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

nehmigung der Obrigkeit und dem mit dem Verfall der gesamten Landwirt¬
schaft zusammenhangenden, geradezu unerhörten Steigen der Getreidepreise
oder vielmehr mit der riesenhaft wachsenden Verarmung und Not unter den
befreiten Bauern ein.

Weniger als zehn Jahre der Freiheit hatten genügt, um ganze Gegenden
mit dem wunderbarsten Boden und einer Überfülle der besten Wiesen, die
früher Unmassen von Getreide ausgeführt hatten, dahin zu bringen, daß buch¬
stäblich nicht ein einziger Bauer mehr das nötige Vrotkorn baute, und eine
Hungersnot der andern folgte. Es genüge die Thatsache, daß in den nörd¬
lichen Gouvernements vom Jahre 1861 bis 1881 des Tschetwert Roggen (9 Pud
3 Zentner) auf dem Lande von 4 auf 16 und 18 Rubel, also auf Preise
stieg, die noch nie dagewesen waren, so lange das russische Reich bestand. In
den siebziger Jahren schwankte dort überhaupt immer der Noggenpreis zwischen
12 und Ili Rubeln, aber trotzdem lagen fast sämtliche Gutsländereien und ein
sehr großer Teil des Bauernlandes vollkommen wüst und unbearbeitet, und ans
dem übrigen wurde gleichfalls nichts weiter als reine Raubwirtschaft getrieben.

Jedenfalls hätten sich die Bauern schon weit früher wieder einigermaßen
zur Arbeit verstanden, wenn ihre jedes Maß übersteigende Lüderlichkeit und
Völlerei nicht fortwährend von den verblendeten Bauernfreunden und deren
Presse in Schutz genommen und, trotz aller entgegenstehenden Erklärungen der
Regierung, Hilfe und Unterstützung von selten des Staates in Aussicht gestellt
worden wäre, die in nichts geringerem bestehen sollte, als die noch übrigen
Gutsländereien, wenn auch nur zum größeren Teil, aber unentgeltlich, nnter
die faulenzenden Bauern zu verteilen.

Was die Erklärungen der Regierung nicht zu Stande bringen konnten,
brachte, wie gesagt, endlich die Not und der Hunger fertig: wenn auch wider¬
willig, so mußten sich doch die, die kein Brot mehr hatten, wieder dazu be¬
quemen, den Pflug in die Hand zu nehmen, und außer diesen waren immer
noch einzelne Bauern vorhanden, die aus den steigenden Getreidepreisen möglichst
Nutzen zu ziehen suchten. Die letztern sind es auch allein gewesen, die sich
zuerst bereit erklärten, frei werdende Landanteile mit deu darauf ruhenden
Zahlungen ohne jede Entschädigung zu übernehme" und schließlich denen, die
Anteile abtreten wollten, sogar noch besondre Entschädigung zu zahlen, womit
sich diese aber auch als die alleinigen Eigentümer der übernommenen Anteile
betrachteten und keinem andern irgend welche Rechte daran mehr zugestanden.

Schon hierdurch hatte der Begriff vom. teilbaren Gemeindebesitz nnter den
Bauern selbst ein gehöriges Loch erhalten, aber immerhin verursachte die Frage,
wie es in der Zukunft damit werden würde, aus verschiednen Gründen uoch
keine" Streit in den Dörfern. Zunächst bestanden die ursprünglichen Zahlungen
noch in ihrer ganzen Höhe, bei deren Veitreibung zudem jetzt weit weniger
Nachsicht als früher geübt wurde, ferner fanden uoch sehr viele in deu Städten


Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

nehmigung der Obrigkeit und dem mit dem Verfall der gesamten Landwirt¬
schaft zusammenhangenden, geradezu unerhörten Steigen der Getreidepreise
oder vielmehr mit der riesenhaft wachsenden Verarmung und Not unter den
befreiten Bauern ein.

Weniger als zehn Jahre der Freiheit hatten genügt, um ganze Gegenden
mit dem wunderbarsten Boden und einer Überfülle der besten Wiesen, die
früher Unmassen von Getreide ausgeführt hatten, dahin zu bringen, daß buch¬
stäblich nicht ein einziger Bauer mehr das nötige Vrotkorn baute, und eine
Hungersnot der andern folgte. Es genüge die Thatsache, daß in den nörd¬
lichen Gouvernements vom Jahre 1861 bis 1881 des Tschetwert Roggen (9 Pud
3 Zentner) auf dem Lande von 4 auf 16 und 18 Rubel, also auf Preise
stieg, die noch nie dagewesen waren, so lange das russische Reich bestand. In
den siebziger Jahren schwankte dort überhaupt immer der Noggenpreis zwischen
12 und Ili Rubeln, aber trotzdem lagen fast sämtliche Gutsländereien und ein
sehr großer Teil des Bauernlandes vollkommen wüst und unbearbeitet, und ans
dem übrigen wurde gleichfalls nichts weiter als reine Raubwirtschaft getrieben.

Jedenfalls hätten sich die Bauern schon weit früher wieder einigermaßen
zur Arbeit verstanden, wenn ihre jedes Maß übersteigende Lüderlichkeit und
Völlerei nicht fortwährend von den verblendeten Bauernfreunden und deren
Presse in Schutz genommen und, trotz aller entgegenstehenden Erklärungen der
Regierung, Hilfe und Unterstützung von selten des Staates in Aussicht gestellt
worden wäre, die in nichts geringerem bestehen sollte, als die noch übrigen
Gutsländereien, wenn auch nur zum größeren Teil, aber unentgeltlich, nnter
die faulenzenden Bauern zu verteilen.

Was die Erklärungen der Regierung nicht zu Stande bringen konnten,
brachte, wie gesagt, endlich die Not und der Hunger fertig: wenn auch wider¬
willig, so mußten sich doch die, die kein Brot mehr hatten, wieder dazu be¬
quemen, den Pflug in die Hand zu nehmen, und außer diesen waren immer
noch einzelne Bauern vorhanden, die aus den steigenden Getreidepreisen möglichst
Nutzen zu ziehen suchten. Die letztern sind es auch allein gewesen, die sich
zuerst bereit erklärten, frei werdende Landanteile mit deu darauf ruhenden
Zahlungen ohne jede Entschädigung zu übernehme» und schließlich denen, die
Anteile abtreten wollten, sogar noch besondre Entschädigung zu zahlen, womit
sich diese aber auch als die alleinigen Eigentümer der übernommenen Anteile
betrachteten und keinem andern irgend welche Rechte daran mehr zugestanden.

Schon hierdurch hatte der Begriff vom. teilbaren Gemeindebesitz nnter den
Bauern selbst ein gehöriges Loch erhalten, aber immerhin verursachte die Frage,
wie es in der Zukunft damit werden würde, aus verschiednen Gründen uoch
keine» Streit in den Dörfern. Zunächst bestanden die ursprünglichen Zahlungen
noch in ihrer ganzen Höhe, bei deren Veitreibung zudem jetzt weit weniger
Nachsicht als früher geübt wurde, ferner fanden uoch sehr viele in deu Städten


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[0309] Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart nehmigung der Obrigkeit und dem mit dem Verfall der gesamten Landwirt¬ schaft zusammenhangenden, geradezu unerhörten Steigen der Getreidepreise oder vielmehr mit der riesenhaft wachsenden Verarmung und Not unter den befreiten Bauern ein. Weniger als zehn Jahre der Freiheit hatten genügt, um ganze Gegenden mit dem wunderbarsten Boden und einer Überfülle der besten Wiesen, die früher Unmassen von Getreide ausgeführt hatten, dahin zu bringen, daß buch¬ stäblich nicht ein einziger Bauer mehr das nötige Vrotkorn baute, und eine Hungersnot der andern folgte. Es genüge die Thatsache, daß in den nörd¬ lichen Gouvernements vom Jahre 1861 bis 1881 des Tschetwert Roggen (9 Pud 3 Zentner) auf dem Lande von 4 auf 16 und 18 Rubel, also auf Preise stieg, die noch nie dagewesen waren, so lange das russische Reich bestand. In den siebziger Jahren schwankte dort überhaupt immer der Noggenpreis zwischen 12 und Ili Rubeln, aber trotzdem lagen fast sämtliche Gutsländereien und ein sehr großer Teil des Bauernlandes vollkommen wüst und unbearbeitet, und ans dem übrigen wurde gleichfalls nichts weiter als reine Raubwirtschaft getrieben. Jedenfalls hätten sich die Bauern schon weit früher wieder einigermaßen zur Arbeit verstanden, wenn ihre jedes Maß übersteigende Lüderlichkeit und Völlerei nicht fortwährend von den verblendeten Bauernfreunden und deren Presse in Schutz genommen und, trotz aller entgegenstehenden Erklärungen der Regierung, Hilfe und Unterstützung von selten des Staates in Aussicht gestellt worden wäre, die in nichts geringerem bestehen sollte, als die noch übrigen Gutsländereien, wenn auch nur zum größeren Teil, aber unentgeltlich, nnter die faulenzenden Bauern zu verteilen. Was die Erklärungen der Regierung nicht zu Stande bringen konnten, brachte, wie gesagt, endlich die Not und der Hunger fertig: wenn auch wider¬ willig, so mußten sich doch die, die kein Brot mehr hatten, wieder dazu be¬ quemen, den Pflug in die Hand zu nehmen, und außer diesen waren immer noch einzelne Bauern vorhanden, die aus den steigenden Getreidepreisen möglichst Nutzen zu ziehen suchten. Die letztern sind es auch allein gewesen, die sich zuerst bereit erklärten, frei werdende Landanteile mit deu darauf ruhenden Zahlungen ohne jede Entschädigung zu übernehme» und schließlich denen, die Anteile abtreten wollten, sogar noch besondre Entschädigung zu zahlen, womit sich diese aber auch als die alleinigen Eigentümer der übernommenen Anteile betrachteten und keinem andern irgend welche Rechte daran mehr zugestanden. Schon hierdurch hatte der Begriff vom. teilbaren Gemeindebesitz nnter den Bauern selbst ein gehöriges Loch erhalten, aber immerhin verursachte die Frage, wie es in der Zukunft damit werden würde, aus verschiednen Gründen uoch keine» Streit in den Dörfern. Zunächst bestanden die ursprünglichen Zahlungen noch in ihrer ganzen Höhe, bei deren Veitreibung zudem jetzt weit weniger Nachsicht als früher geübt wurde, ferner fanden uoch sehr viele in deu Städten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/309>, abgerufen am 05.02.2025.