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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

wo der russische Bauer gewissermaßen als über allen Gesetzen stehend nud der
Gutsbesitzer mit seinem Eigentum als vogelfrei betrachtet wurde, wo jede
Niederträchtigkeit und Zügellosigkeit der Bauern als unschuldiger und harm¬
loser Ausbruch des "echt russischen" Nationalcharakters behandelt wurde,
dagegen jeder Schritt der andern, sich und ihr Eigentum gegen die Übergriffe
der Bauern zu schützen, gewissermaßen als Verbrechen an der Menschheit galt.
Und dieser anarchischen Wirtschaft entsprechend waren natürlich auch die Zu¬
stände in den Dörfern und unter den Bauern selbst.

Während der ersten fünfzehn Jahre der Bancrnfreiheit ließ sich wirklich
nichts andres glauben, als daß die gesamte russische Landwirtschaft dem unver¬
meidlichen Untergang entgegengehe; denn nicht allein daß alle Güter verfielen,
auch mit den Bauernwirtschaften war ganz dasselbe der Fall. Eine riesige
Anzahl von Bauern ließ zuerst ihre Landteile vollständig liegen, um anderwärts
"Arbeit" oder vielmehr Freiheit von jeder Verpflichtung zu rechter Arbeit zu
suchen, und bei den übrigen hatte gleichfalls jeder Antrieb zur Arbeit und
Ordnung so ziemlich aufgehört. Befördert wurde das hauptsächlich durch die
unausgesetzten Teilungen sowohl der Felder des Gemeindebesitzes wie der Wirt¬
schaften selbst, oder vielmehr durch den Schnaps, den die Gemeindeglieder bei
solchen Gelegenheiten regelmäßig erhielten.

Nichts hat die Hirngespinnste der Slawrophilen von dem brüderlichen
Charakter und der freiwilligen Unterordnung der russischen Bauern, wo es das
Interesse des Nächsten nud der Gesamtheit verlange, so glänzend illustrirt wie
die eben erwähnten Teilungen. Kaum waren einige Jahre der Freiheit ver¬
gangen, und fast nirgends war eine größere Vanernwirtschaft mehr zu finden. Der
geringste Streit unter den Familiengliedern genügte, um den einen Teil -- in
der Regel die Söhne und deren Frauen -- dahin zu bringen, bei der Ge¬
meinde den Antrag ans Abteilung von den Bädern und Brüdern zu stellen,
und um dies zu erreichen, war weiter nichts nötig, als den übrigen Gemeinde¬
gliedern so und so viel Eimer Branntwein zu versprechen. Dieses ist zwar
von jeher das vorzüglichste Mittel gewesen, um die Bauern zu irgend etwas
willig zu machen, aber noch nie ist er so reichlich geflossen wie innerhalb der
Jahre, wo alles geteilt und wieder ungeteilt wurde, was sich nur teilen ließ.

So häufig die Teilungen in den Familien in den ersten zehn Jahren der
Bnuernfreiheit übrigens auch vorkommen mochten, so hat doch innerhalb dieser
Zeit nichts so hänfig Veranlassung zu Festen und Gelagen bei den russischen
Bauern gegeben, als die Anträge und Bemühungen solcher, die ihren Land¬
anteil oder vielmehr die damit verbundenen Zahlungen los zu werden suchten,
um entweder in der Stadt oder in den Fabriken als Arbeiter oder Bediente
u. s. w. ein bequemeres Leben als das des Landwirth zu suchen, was bei der
solidarischen Haftbarkeit der Bauern für alle Zahlungen und Abgaben ohne
die Zustimmung der souveränen Gemeinde uicht erreicht werden konnte, und


Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart

wo der russische Bauer gewissermaßen als über allen Gesetzen stehend nud der
Gutsbesitzer mit seinem Eigentum als vogelfrei betrachtet wurde, wo jede
Niederträchtigkeit und Zügellosigkeit der Bauern als unschuldiger und harm¬
loser Ausbruch des „echt russischen" Nationalcharakters behandelt wurde,
dagegen jeder Schritt der andern, sich und ihr Eigentum gegen die Übergriffe
der Bauern zu schützen, gewissermaßen als Verbrechen an der Menschheit galt.
Und dieser anarchischen Wirtschaft entsprechend waren natürlich auch die Zu¬
stände in den Dörfern und unter den Bauern selbst.

Während der ersten fünfzehn Jahre der Bancrnfreiheit ließ sich wirklich
nichts andres glauben, als daß die gesamte russische Landwirtschaft dem unver¬
meidlichen Untergang entgegengehe; denn nicht allein daß alle Güter verfielen,
auch mit den Bauernwirtschaften war ganz dasselbe der Fall. Eine riesige
Anzahl von Bauern ließ zuerst ihre Landteile vollständig liegen, um anderwärts
„Arbeit" oder vielmehr Freiheit von jeder Verpflichtung zu rechter Arbeit zu
suchen, und bei den übrigen hatte gleichfalls jeder Antrieb zur Arbeit und
Ordnung so ziemlich aufgehört. Befördert wurde das hauptsächlich durch die
unausgesetzten Teilungen sowohl der Felder des Gemeindebesitzes wie der Wirt¬
schaften selbst, oder vielmehr durch den Schnaps, den die Gemeindeglieder bei
solchen Gelegenheiten regelmäßig erhielten.

Nichts hat die Hirngespinnste der Slawrophilen von dem brüderlichen
Charakter und der freiwilligen Unterordnung der russischen Bauern, wo es das
Interesse des Nächsten nud der Gesamtheit verlange, so glänzend illustrirt wie
die eben erwähnten Teilungen. Kaum waren einige Jahre der Freiheit ver¬
gangen, und fast nirgends war eine größere Vanernwirtschaft mehr zu finden. Der
geringste Streit unter den Familiengliedern genügte, um den einen Teil — in
der Regel die Söhne und deren Frauen — dahin zu bringen, bei der Ge¬
meinde den Antrag ans Abteilung von den Bädern und Brüdern zu stellen,
und um dies zu erreichen, war weiter nichts nötig, als den übrigen Gemeinde¬
gliedern so und so viel Eimer Branntwein zu versprechen. Dieses ist zwar
von jeher das vorzüglichste Mittel gewesen, um die Bauern zu irgend etwas
willig zu machen, aber noch nie ist er so reichlich geflossen wie innerhalb der
Jahre, wo alles geteilt und wieder ungeteilt wurde, was sich nur teilen ließ.

So häufig die Teilungen in den Familien in den ersten zehn Jahren der
Bnuernfreiheit übrigens auch vorkommen mochten, so hat doch innerhalb dieser
Zeit nichts so hänfig Veranlassung zu Festen und Gelagen bei den russischen
Bauern gegeben, als die Anträge und Bemühungen solcher, die ihren Land¬
anteil oder vielmehr die damit verbundenen Zahlungen los zu werden suchten,
um entweder in der Stadt oder in den Fabriken als Arbeiter oder Bediente
u. s. w. ein bequemeres Leben als das des Landwirth zu suchen, was bei der
solidarischen Haftbarkeit der Bauern für alle Zahlungen und Abgaben ohne
die Zustimmung der souveränen Gemeinde uicht erreicht werden konnte, und


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[0306] Der russische Gemeindebesitz in der Gegenwart wo der russische Bauer gewissermaßen als über allen Gesetzen stehend nud der Gutsbesitzer mit seinem Eigentum als vogelfrei betrachtet wurde, wo jede Niederträchtigkeit und Zügellosigkeit der Bauern als unschuldiger und harm¬ loser Ausbruch des „echt russischen" Nationalcharakters behandelt wurde, dagegen jeder Schritt der andern, sich und ihr Eigentum gegen die Übergriffe der Bauern zu schützen, gewissermaßen als Verbrechen an der Menschheit galt. Und dieser anarchischen Wirtschaft entsprechend waren natürlich auch die Zu¬ stände in den Dörfern und unter den Bauern selbst. Während der ersten fünfzehn Jahre der Bancrnfreiheit ließ sich wirklich nichts andres glauben, als daß die gesamte russische Landwirtschaft dem unver¬ meidlichen Untergang entgegengehe; denn nicht allein daß alle Güter verfielen, auch mit den Bauernwirtschaften war ganz dasselbe der Fall. Eine riesige Anzahl von Bauern ließ zuerst ihre Landteile vollständig liegen, um anderwärts „Arbeit" oder vielmehr Freiheit von jeder Verpflichtung zu rechter Arbeit zu suchen, und bei den übrigen hatte gleichfalls jeder Antrieb zur Arbeit und Ordnung so ziemlich aufgehört. Befördert wurde das hauptsächlich durch die unausgesetzten Teilungen sowohl der Felder des Gemeindebesitzes wie der Wirt¬ schaften selbst, oder vielmehr durch den Schnaps, den die Gemeindeglieder bei solchen Gelegenheiten regelmäßig erhielten. Nichts hat die Hirngespinnste der Slawrophilen von dem brüderlichen Charakter und der freiwilligen Unterordnung der russischen Bauern, wo es das Interesse des Nächsten nud der Gesamtheit verlange, so glänzend illustrirt wie die eben erwähnten Teilungen. Kaum waren einige Jahre der Freiheit ver¬ gangen, und fast nirgends war eine größere Vanernwirtschaft mehr zu finden. Der geringste Streit unter den Familiengliedern genügte, um den einen Teil — in der Regel die Söhne und deren Frauen — dahin zu bringen, bei der Ge¬ meinde den Antrag ans Abteilung von den Bädern und Brüdern zu stellen, und um dies zu erreichen, war weiter nichts nötig, als den übrigen Gemeinde¬ gliedern so und so viel Eimer Branntwein zu versprechen. Dieses ist zwar von jeher das vorzüglichste Mittel gewesen, um die Bauern zu irgend etwas willig zu machen, aber noch nie ist er so reichlich geflossen wie innerhalb der Jahre, wo alles geteilt und wieder ungeteilt wurde, was sich nur teilen ließ. So häufig die Teilungen in den Familien in den ersten zehn Jahren der Bnuernfreiheit übrigens auch vorkommen mochten, so hat doch innerhalb dieser Zeit nichts so hänfig Veranlassung zu Festen und Gelagen bei den russischen Bauern gegeben, als die Anträge und Bemühungen solcher, die ihren Land¬ anteil oder vielmehr die damit verbundenen Zahlungen los zu werden suchten, um entweder in der Stadt oder in den Fabriken als Arbeiter oder Bediente u. s. w. ein bequemeres Leben als das des Landwirth zu suchen, was bei der solidarischen Haftbarkeit der Bauern für alle Zahlungen und Abgaben ohne die Zustimmung der souveränen Gemeinde uicht erreicht werden konnte, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/306>, abgerufen am 05.02.2025.