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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Geineindebesitz in der Gegenwart

beibehalten wurde, obgleich gerade die Zustände in diesen Kolonien bei einer
ernsten Untersuchung aufs entschiedenste gegen den teilbaren Gemeindebesitz sprachen.

Welches übrigens auch die eigentlichen Gründe gewesen sein mögen, den
Gemeindebesitz unverändert beizubehalten, so viel ist jedenfalls schon heute
sicher, daß man in Rußland, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, auf dem ein¬
geschlagenen Wege der fast mühelosem Lösung einer Frage entgegengeht, die
der westeuropäischen Welt noch sehr viele schwere Tage und Stunden bereiten
wird. Und deshalb dürfte es sich auch nicht empfehlen, eine Sache unbeachtet
zu lassen, deren außerordentliche Bedeutung sich sehr bald herausstellen wird
und muß.

Es würde zu weit führen, hier eine erschöpfende Schilderung der furcht¬
baren Verwüstungen zu geben, die die unvermittelte Lösung der zwischen den
russischen Gutsbesitzern und ihren leibeignen Bauern bis zum Jahre 1861
bestehenden Verbindung zur unvermeidlichen Folge hatte. Nur die, welche die
ganze Sache selbst mit durchlebt haben, können hiervon eine wirkliche Vor¬
stellung haben, eben diesen ist es auch allein bekannt, daß die entstandene
heillose Wirtschaft, die bei hinreichender Kenntnis selbst den größten Optimisten
an der Zukunft der russischen Volkswirtschaft verzweifeln ließ, ohne den
bodenlosen Leichtsinn und die Gedankenlosigkeit der russischen Liberalen und
ihrer Presse nie und nimmer den Umfang hätte erreichen können, den sie in
den ersten zehn Jahren der Bauernfreiheit thatsächlich angenommen hat.

Für jeden, der die beiden dnrch langen persönlichen Verkehr vollkommen
kennt, ist es eine ausgemachte Sache, daß der russische Adel in seiner Gesamt¬
heit nicht schlechter ist als die russischen Bauern, und daß diese in ihrem ganzen
Denken und Leben nicht um ein Haar besser als die Edelleute sind, daß sich
beide also anch gegenseitig nichts vorzuwerfen haben; aber trotzdem wurde
der Bauer von seinen Freunden zum halben Heiligen nud der Ruin des ge¬
samten Großgrundbesitzes zum Besten der Bauern zur allgemeinen Parole
oder wenigstens derjenigen erhoben, die als aufgeklärt und fortgeschritten
gelten wollten.

Bauern und teilbarer Gemeindebesitz! dieses Universalmittel, das die
leidende Welt gewissermaßen im Handumdrehen kuriren sollte, Gemeindebesitz
und unsre göttlichen Bauern! diese einzigen Menschen und künftigen Refor¬
matoren der übrigen demoralisirten Menschheit -- das gellte allen und jeden
bei jeder Gelegenheit, in jeder Unterhaltung, in jeder Nummer aller ma߬
gebenden Blätter der russischen Presse damals entgegen, und daß dieses Pfeifen
und Singen ihres Lobes auf allen Gassen und Straßen die russischen
Bauern nicht besser machte, als sie thatsächlich waren, bedarf wohl kaum der
Erwähnung.

Nur mit Ekel und Erbitterung kann man sich der langen und furchtbaren
Zeit erinnern -- von der übrigens auch heute uoch ein Rest vorhanden ist --,


Grenzboten II 188!) 38
Der russische Geineindebesitz in der Gegenwart

beibehalten wurde, obgleich gerade die Zustände in diesen Kolonien bei einer
ernsten Untersuchung aufs entschiedenste gegen den teilbaren Gemeindebesitz sprachen.

Welches übrigens auch die eigentlichen Gründe gewesen sein mögen, den
Gemeindebesitz unverändert beizubehalten, so viel ist jedenfalls schon heute
sicher, daß man in Rußland, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, auf dem ein¬
geschlagenen Wege der fast mühelosem Lösung einer Frage entgegengeht, die
der westeuropäischen Welt noch sehr viele schwere Tage und Stunden bereiten
wird. Und deshalb dürfte es sich auch nicht empfehlen, eine Sache unbeachtet
zu lassen, deren außerordentliche Bedeutung sich sehr bald herausstellen wird
und muß.

Es würde zu weit führen, hier eine erschöpfende Schilderung der furcht¬
baren Verwüstungen zu geben, die die unvermittelte Lösung der zwischen den
russischen Gutsbesitzern und ihren leibeignen Bauern bis zum Jahre 1861
bestehenden Verbindung zur unvermeidlichen Folge hatte. Nur die, welche die
ganze Sache selbst mit durchlebt haben, können hiervon eine wirkliche Vor¬
stellung haben, eben diesen ist es auch allein bekannt, daß die entstandene
heillose Wirtschaft, die bei hinreichender Kenntnis selbst den größten Optimisten
an der Zukunft der russischen Volkswirtschaft verzweifeln ließ, ohne den
bodenlosen Leichtsinn und die Gedankenlosigkeit der russischen Liberalen und
ihrer Presse nie und nimmer den Umfang hätte erreichen können, den sie in
den ersten zehn Jahren der Bauernfreiheit thatsächlich angenommen hat.

Für jeden, der die beiden dnrch langen persönlichen Verkehr vollkommen
kennt, ist es eine ausgemachte Sache, daß der russische Adel in seiner Gesamt¬
heit nicht schlechter ist als die russischen Bauern, und daß diese in ihrem ganzen
Denken und Leben nicht um ein Haar besser als die Edelleute sind, daß sich
beide also anch gegenseitig nichts vorzuwerfen haben; aber trotzdem wurde
der Bauer von seinen Freunden zum halben Heiligen nud der Ruin des ge¬
samten Großgrundbesitzes zum Besten der Bauern zur allgemeinen Parole
oder wenigstens derjenigen erhoben, die als aufgeklärt und fortgeschritten
gelten wollten.

Bauern und teilbarer Gemeindebesitz! dieses Universalmittel, das die
leidende Welt gewissermaßen im Handumdrehen kuriren sollte, Gemeindebesitz
und unsre göttlichen Bauern! diese einzigen Menschen und künftigen Refor¬
matoren der übrigen demoralisirten Menschheit — das gellte allen und jeden
bei jeder Gelegenheit, in jeder Unterhaltung, in jeder Nummer aller ma߬
gebenden Blätter der russischen Presse damals entgegen, und daß dieses Pfeifen
und Singen ihres Lobes auf allen Gassen und Straßen die russischen
Bauern nicht besser machte, als sie thatsächlich waren, bedarf wohl kaum der
Erwähnung.

Nur mit Ekel und Erbitterung kann man sich der langen und furchtbaren
Zeit erinnern — von der übrigens auch heute uoch ein Rest vorhanden ist —,


Grenzboten II 188!) 38
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[0305] Der russische Geineindebesitz in der Gegenwart beibehalten wurde, obgleich gerade die Zustände in diesen Kolonien bei einer ernsten Untersuchung aufs entschiedenste gegen den teilbaren Gemeindebesitz sprachen. Welches übrigens auch die eigentlichen Gründe gewesen sein mögen, den Gemeindebesitz unverändert beizubehalten, so viel ist jedenfalls schon heute sicher, daß man in Rußland, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, auf dem ein¬ geschlagenen Wege der fast mühelosem Lösung einer Frage entgegengeht, die der westeuropäischen Welt noch sehr viele schwere Tage und Stunden bereiten wird. Und deshalb dürfte es sich auch nicht empfehlen, eine Sache unbeachtet zu lassen, deren außerordentliche Bedeutung sich sehr bald herausstellen wird und muß. Es würde zu weit führen, hier eine erschöpfende Schilderung der furcht¬ baren Verwüstungen zu geben, die die unvermittelte Lösung der zwischen den russischen Gutsbesitzern und ihren leibeignen Bauern bis zum Jahre 1861 bestehenden Verbindung zur unvermeidlichen Folge hatte. Nur die, welche die ganze Sache selbst mit durchlebt haben, können hiervon eine wirkliche Vor¬ stellung haben, eben diesen ist es auch allein bekannt, daß die entstandene heillose Wirtschaft, die bei hinreichender Kenntnis selbst den größten Optimisten an der Zukunft der russischen Volkswirtschaft verzweifeln ließ, ohne den bodenlosen Leichtsinn und die Gedankenlosigkeit der russischen Liberalen und ihrer Presse nie und nimmer den Umfang hätte erreichen können, den sie in den ersten zehn Jahren der Bauernfreiheit thatsächlich angenommen hat. Für jeden, der die beiden dnrch langen persönlichen Verkehr vollkommen kennt, ist es eine ausgemachte Sache, daß der russische Adel in seiner Gesamt¬ heit nicht schlechter ist als die russischen Bauern, und daß diese in ihrem ganzen Denken und Leben nicht um ein Haar besser als die Edelleute sind, daß sich beide also anch gegenseitig nichts vorzuwerfen haben; aber trotzdem wurde der Bauer von seinen Freunden zum halben Heiligen nud der Ruin des ge¬ samten Großgrundbesitzes zum Besten der Bauern zur allgemeinen Parole oder wenigstens derjenigen erhoben, die als aufgeklärt und fortgeschritten gelten wollten. Bauern und teilbarer Gemeindebesitz! dieses Universalmittel, das die leidende Welt gewissermaßen im Handumdrehen kuriren sollte, Gemeindebesitz und unsre göttlichen Bauern! diese einzigen Menschen und künftigen Refor¬ matoren der übrigen demoralisirten Menschheit — das gellte allen und jeden bei jeder Gelegenheit, in jeder Unterhaltung, in jeder Nummer aller ma߬ gebenden Blätter der russischen Presse damals entgegen, und daß dieses Pfeifen und Singen ihres Lobes auf allen Gassen und Straßen die russischen Bauern nicht besser machte, als sie thatsächlich waren, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Nur mit Ekel und Erbitterung kann man sich der langen und furchtbaren Zeit erinnern — von der übrigens auch heute uoch ein Rest vorhanden ist —, Grenzboten II 188!) 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204730/305>, abgerufen am 05.02.2025.