Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Iviener Litteratur überhaupt ist Ludwig Speidels Geschichte der Wiener Theater in dem Zeit¬ Wie in Wien das Theater immer und überall vor der Litteratur bevor¬ Grenzboten II 1889 30
Iviener Litteratur überhaupt ist Ludwig Speidels Geschichte der Wiener Theater in dem Zeit¬ Wie in Wien das Theater immer und überall vor der Litteratur bevor¬ Grenzboten II 1889 30
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Iviener Litteratur
überhaupt ist Ludwig Speidels Geschichte der Wiener Theater in dem Zeit¬
räume von 1848—1888. Es sind vielfach neue Thatsachen, die Speidel ans
dem Archive des Burgtheaters mitteilt, so z. B. über die Berufung Landes
nach Wien. Die Charakterbilder, die Speidel von diesem Begründer des gegen¬
wärtigen Bnrgthenters, von Dingelstedt, von Baron Hofmann, von Wilbrandt
zeichnet, und dann die ganze Pvrträtgallerie der bedeutenden Schallspieler sind
kleine Meisterwerke, nicht bloß in der Sprache, sondern auch weil sie von einer
großen sittlichen und künstlerischen Überzeugung erfüllt sind. Eine Trennung
von künstlerischer und sittlicher Größe kann sich Speidel nicht denken; beide
bedingen einander, wie er dies bei dem im Virtuosentum untergegangenen
Dawisvn hervorhebt. Das Kapitel ist aber nicht bloß deswegen merkwürdig,
weil man den Feuilletonisten Speidel hier als sehr ernsthaften Geschichtschreiber
kennen lernt, sondern weil man hier auch Urteile über Menschen und Ein¬
richtungen von ihn: vernimmt, die man in seinen Burgtheaterkritiken in
der Neuen Freien Presse niemals finden konnte. Wie vernichtend urteilt
er z. B. über den reklamesüchtigen Bortrngshelden Strnkosch, den Notnagel
des seligen Stadttheaters! Wie begeistert erkennt er die „Krenzelschreiber"
Ludwig Anzengrubers an. Bei dem Ansehen, das Speidel in allen Kreisen
der Wiener Gesellschaft genießt, hätten diese Urteile vielfach klärend und för¬
dernd wirken können, wenn sie in der Zeitung vor Jahren der großen Menge
vermittelt worden wären; so fehlt ihnen die unmittelbare Schlagkraft. Es
scheint, daß anch ein mächtiger Schriftsteller, wie Ludwig Speidel, nicht unabhängig
genug bleibt, um immer in seiner Zeitung sagen zu können, was er sagen will.
Wie in Wien das Theater immer und überall vor der Litteratur bevor¬
zugt wird, so ist sie auch in dem Gedenktmch durch Robert Zimmermnnn
nur allzu bescheiden abgethan worden. Im Zusammenhange mit dem Überblick
über die gesamte Natur- und Geisteswissenschaft hat der Philosoph auch die
Litteratur behandelt; aber — alle Achtung vor der riesigen Belesenheit und
Gelehrsamkeit des Wiener Akademikers! - - mehr als einen räsonnircnden Katalog
von Namen und Büchern hat er nicht geliefert. Auch persönliche Vorliebe
und Abneigung sind in dieser Übersicht nicht zu verkennen. Man begreift
z. B. uicht, daß das geschwätzige Fräulein Delle Grazie, deren Dichtungen
kein ernster Mensch Geschmack abgewinnen konnte, der Ehre, verhältnismäßig
Mlsfnhrlich genannt zu werden, würdiger erachtet worden ist, als z. B. der
gänzlich mit Stillschweigen übergnngene und doch höchst charakteristische Wiener
Humorist Chiavaeei; auch Ludwig Ganghofer, seit zehn Jahren in Wien, der
eigenartig pessimistische Schwarzkopf hüllen genannt werde» sollen, wenn eine
Neiinschmiedin wie die Delle Grazie erwähnt wurde. Auch unter den Männern
der Wissenschaft hat der gelehrte Historiker seine Auswahl durch persönliche
Zu- und Abneigung leiten lassen. Geradezu unbegreiflich und unverzeihlich ist
es, daß ein Mann wie Ferdinand Lotheißen, der siebzehn Jahre an der Wiener
Grenzboten II 1889 30
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