Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Wiener Litteratur gestehen, daß viele solcher Familien wie die der Nvrdcnbergs in Wien vor¬ Die Handlung der "Unzufriedenen" wiederzugeben ist sehr schwierig, weil Wiener Litteratur gestehen, daß viele solcher Familien wie die der Nvrdcnbergs in Wien vor¬ Die Handlung der „Unzufriedenen" wiederzugeben ist sehr schwierig, weil <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204919"/> <fw type="header" place="top"> Wiener Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_453" prev="#ID_452"> gestehen, daß viele solcher Familien wie die der Nvrdcnbergs in Wien vor¬<lb/> handen seien, viel, viel Wahrheit enthält dieses Buch doch, typische Wiener<lb/> Charaktere, typische Wiener Zustände, typische Wiener Gesinnung. Es ist ein<lb/> Originalwerk in jeder Beziehung, mit stark persönlichen Gepräge auch in seiner<lb/> zuweilen unbeholfenen Form, und die intensive Phantasie der Erzählerin läßt<lb/> uns nicht los, bis wir zu Ende gelesen haben, so peinigend und qualvoll die<lb/> ganze etwas einförmige Tonart, so unsympathisch die ganze Gesellschaft sein<lb/> mag, in die sie uns halb wider unsern Willen hineingezogen hat!</p><lb/> <p xml:id="ID_454" next="#ID_455"> Die Handlung der „Unzufriedenen" wiederzugeben ist sehr schwierig, weil<lb/> sie hinter der breiten Charakteristik der Zustände und Menschen zurücktritt;<lb/> sie entwickelt sich auch erst spät in dem weitlnuftigen Buche. Im Mittelpunkte<lb/> steht die Familie Nordenberg. Der Vater, ein nicht ganz freiwillig verab¬<lb/> schiedeter höherer Beamter, weiß mit seiner Zeit und seiner immerhin noch rüstigen<lb/> Kraft nichts anzufangen, steckt vom Morgen bis in die Nacht im Kaffeehaus<lb/> beim Tarokspielen oder im Wirtshaus, verbraucht feilte nicht unbedeutende<lb/> Pension meist für sich selbst, obgleich eine Frau und eine erwachsene Tochter<lb/> Mignon zu Hause sind, die anch leben wollen. Er ist ein genußsüchtiger<lb/> Schuft, dem es gar nicht darauf ankommt, alle zwei Jahre Bankerott zu macheu<lb/> und im Ausgleich die Gläubiger zu betrügen. Seine Frau, nicht minder<lb/> leichtfertig, eine ehemalige Schauspielerin, sitzt den ganzen lieben Tag hinter<lb/> einem französischen Seusasiousroman und kann selbst mit ihren Kindern von<lb/> nichts anderm als von der „Liebe" sprechen. Zusammen mit ihnen wohnt ihre<lb/> verheiratete Tochter Laura mit ihrem Manne und zwei kleinen schmutzigen Kindern.<lb/> Laura und ihr Mann haben sich in toller Leidenschaft unbedacht geheiratet;<lb/> er war ein schöner Offizier, der vom Schwiegervater leben zu können hoffte;<lb/> sie eine eitle, kokette Gans. Er hat aber den Abschied nehmen müssen und<lb/> lebt nun von einem kleinen Gehalt als Postbeamter, dn er wegen seiner Un-<lb/> brauchbarkeit auch im Amt nicht vorwärtskommt. In diesem Hause herrscht<lb/> ewig Hunger, ewig Geldmangel, obgleich nach außen hin einiger Anstand ge¬<lb/> wahrt wird; nie wird von was anderm als von Heirath- und Liebessachen<lb/> gesprochen, die Phantasie der jungen schönen Mignon ist von Kindesbeinen<lb/> auf vergiftet. Mignon ist ein echtes Wiener Kind: eigentlich gutmütig, aber<lb/> ihre Erziehung hat sie verdorben zu einem frech hernnsfordernd koketten Wesen,<lb/> obwohl sie körperlich rein geblieben, anch in Wahrheit so schlecht nicht ist.<lb/> Aber wenn sie immerfort anhören muß, daß es ihr einziger Beruf sei, einen<lb/> reichen Mann zum Heiraten zu erHaschen, wenn sie wegen ihrer Ungeschicklich¬<lb/> keit ausgelacht wird, wenn sich in ihrem jungen Herzen die Sehnsucht nach all<lb/> den schönen Gittern des Lebens der reichen Mädchen regt, die sie hinter den<lb/> Schaufenstern der großen Wareulager in der Stadt glühend bewundert, so muß<lb/> ein solches Mädchen erbittert, trotzig, neidisch, zerfahren, leidenschaftlich, frech<lb/> und spröde zugleich werden, wie sie die Marriot in vortrefflicher Lebenswahr-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0188]
Wiener Litteratur
gestehen, daß viele solcher Familien wie die der Nvrdcnbergs in Wien vor¬
handen seien, viel, viel Wahrheit enthält dieses Buch doch, typische Wiener
Charaktere, typische Wiener Zustände, typische Wiener Gesinnung. Es ist ein
Originalwerk in jeder Beziehung, mit stark persönlichen Gepräge auch in seiner
zuweilen unbeholfenen Form, und die intensive Phantasie der Erzählerin läßt
uns nicht los, bis wir zu Ende gelesen haben, so peinigend und qualvoll die
ganze etwas einförmige Tonart, so unsympathisch die ganze Gesellschaft sein
mag, in die sie uns halb wider unsern Willen hineingezogen hat!
Die Handlung der „Unzufriedenen" wiederzugeben ist sehr schwierig, weil
sie hinter der breiten Charakteristik der Zustände und Menschen zurücktritt;
sie entwickelt sich auch erst spät in dem weitlnuftigen Buche. Im Mittelpunkte
steht die Familie Nordenberg. Der Vater, ein nicht ganz freiwillig verab¬
schiedeter höherer Beamter, weiß mit seiner Zeit und seiner immerhin noch rüstigen
Kraft nichts anzufangen, steckt vom Morgen bis in die Nacht im Kaffeehaus
beim Tarokspielen oder im Wirtshaus, verbraucht feilte nicht unbedeutende
Pension meist für sich selbst, obgleich eine Frau und eine erwachsene Tochter
Mignon zu Hause sind, die anch leben wollen. Er ist ein genußsüchtiger
Schuft, dem es gar nicht darauf ankommt, alle zwei Jahre Bankerott zu macheu
und im Ausgleich die Gläubiger zu betrügen. Seine Frau, nicht minder
leichtfertig, eine ehemalige Schauspielerin, sitzt den ganzen lieben Tag hinter
einem französischen Seusasiousroman und kann selbst mit ihren Kindern von
nichts anderm als von der „Liebe" sprechen. Zusammen mit ihnen wohnt ihre
verheiratete Tochter Laura mit ihrem Manne und zwei kleinen schmutzigen Kindern.
Laura und ihr Mann haben sich in toller Leidenschaft unbedacht geheiratet;
er war ein schöner Offizier, der vom Schwiegervater leben zu können hoffte;
sie eine eitle, kokette Gans. Er hat aber den Abschied nehmen müssen und
lebt nun von einem kleinen Gehalt als Postbeamter, dn er wegen seiner Un-
brauchbarkeit auch im Amt nicht vorwärtskommt. In diesem Hause herrscht
ewig Hunger, ewig Geldmangel, obgleich nach außen hin einiger Anstand ge¬
wahrt wird; nie wird von was anderm als von Heirath- und Liebessachen
gesprochen, die Phantasie der jungen schönen Mignon ist von Kindesbeinen
auf vergiftet. Mignon ist ein echtes Wiener Kind: eigentlich gutmütig, aber
ihre Erziehung hat sie verdorben zu einem frech hernnsfordernd koketten Wesen,
obwohl sie körperlich rein geblieben, anch in Wahrheit so schlecht nicht ist.
Aber wenn sie immerfort anhören muß, daß es ihr einziger Beruf sei, einen
reichen Mann zum Heiraten zu erHaschen, wenn sie wegen ihrer Ungeschicklich¬
keit ausgelacht wird, wenn sich in ihrem jungen Herzen die Sehnsucht nach all
den schönen Gittern des Lebens der reichen Mädchen regt, die sie hinter den
Schaufenstern der großen Wareulager in der Stadt glühend bewundert, so muß
ein solches Mädchen erbittert, trotzig, neidisch, zerfahren, leidenschaftlich, frech
und spröde zugleich werden, wie sie die Marriot in vortrefflicher Lebenswahr-
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