Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Zweites Vierteljahr.Zur italienischen Krisis bei Überallspannung der Zwangsgewalt im jetzigen Einheitsstnate zu beklagen Völker wie Individuen leisten nur dann ihr Bestes, wenn sie ihrer Eigen¬ Eine ähnliche wohlthätige Wirkung soll auch das jetzige Bündnis mit Also: ehe Italien die Großmacht spielt, muß es erst die hierzu erforder¬ Zur italienischen Krisis bei Überallspannung der Zwangsgewalt im jetzigen Einheitsstnate zu beklagen Völker wie Individuen leisten nur dann ihr Bestes, wenn sie ihrer Eigen¬ Eine ähnliche wohlthätige Wirkung soll auch das jetzige Bündnis mit Also: ehe Italien die Großmacht spielt, muß es erst die hierzu erforder¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204747"/> <fw type="header" place="top"> Zur italienischen Krisis</fw><lb/> <p xml:id="ID_22" prev="#ID_21"> bei Überallspannung der Zwangsgewalt im jetzigen Einheitsstnate zu beklagen<lb/> sein. Die Italiener haben diesen Staat errungen nicht als eine große Zwangs¬<lb/> anstalt, sondern um sich von dem Zwange zu befreien, den die Päpste, die<lb/> Bourbonen, die Österreicher ihnen auferlegten, und um sich selber zu leben. Soll<lb/> der junge Einheitsstaat lebenskräftig sein, so muß er den kommunalen und<lb/> landschaftlichen Eigentünckich reiten Rechnung tragen und den Individualitäten<lb/> möglichst freien Spielraum gestatten. Leo fand schon die Staaten des Moisn<lb/> i-Lgiinö zu groß für die Bedürfnisse Italiens. „Das schönste Land Europas<lb/> ist durch das Aufheben der kleinen politischen Kreise aller Frische beraubt."<lb/> (A. a. O. III, 478.)</p><lb/> <p xml:id="ID_23"> Völker wie Individuen leisten nur dann ihr Bestes, wenn sie ihrer Eigen¬<lb/> art unes behandelt und auf deu richtigen Platz gestellt werden. Zwingt man<lb/> sie zu einer Lebensweise, die ihrer Naturanlage nicht entspricht, so macht man<lb/> sie nicht besser, sondern schlechter. Bis zu einem gewissen Grade wirkt ja der<lb/> Zwang, den eine andersgeartete Individualität ausübt, recht heilsam. Wie<lb/> uns schwerfällige», formlosen Germanen eine Weckung und Anregung der Lebens¬<lb/> geister durch die lebhaften, mit feinem Schönheitssinn ausgestatteten Romanen<lb/> niemals schaden kann, so gereicht es diesen zum Heile, wenn sie von ihren<lb/> nördlichen Nachbarn vorübergehend in strenge Zucht genommen worden. Über<lb/> die Wechselwirkung zwischen Deutschland und Italien schrieb vor 70 Jahren<lb/> Heinrich Leo sehr schön (a. a. O. II, 388. Die preußische und die deutsche<lb/> Eigenart zu sondern, was hier eigentlich noch notwendig wäre, würde eine<lb/> besondre völkerpsycholvgische Skizze erfordern): „Deutschland ist der Stahl ge¬<lb/> wesen, der dem italienischen Steine wahre Funken des Geistes entlockte, der<lb/> dem italienische,: Volke, das durch sein Land zu Genuß aufgefordert, jederzeit<lb/> geneigt war, in Üppigkeit zu zergehen und sich in eine unendliche Reihe cito-<lb/> mistisch aufgebauter Staaten zu zerlegen, ein Joch aufgelegt hat, welches das¬<lb/> selbe immer wieder von neuem zu Einigungen, zu Korporationen, mit einem.<lb/> Worte zu allgemeinen Bildungen zwang und das Isoliren der Judividunlitäteu<lb/> verhinderte."</p><lb/> <p xml:id="ID_24"> Eine ähnliche wohlthätige Wirkung soll auch das jetzige Bündnis mit<lb/> dem Deutschen Reiche erzeugen. Aber indem die leitenden städtischen Politiker<lb/> Italiens, anstatt sich selbst Opfer aufzulegen, dem dnrch Genußsucht nicht im<lb/> mindesten gefährdeten Landvolke den letzten Schweiß- und Blutstropfen aus¬<lb/> preßten, um damit die Kosten ihres Patriotismus und ihrer Grvßmachtstelluug<lb/> zu bestreiten, haben sie das heilende Pflaster ans die unrechte Stelle gelegt.</p><lb/> <p xml:id="ID_25" next="#ID_26"> Also: ehe Italien die Großmacht spielt, muß es erst die hierzu erforder¬<lb/> liche physische Kraft erwerben. Mit einem Worte wenigstens »vollen wir zum<lb/> Schlüsse auch noch des schmerzhaftesten Schmerzenskindes dieser Grvßmachts-<lb/> politik, Massauahs, gedenken. Es scheint kaum glaublich, daß die Urheber dieser<lb/> wunderlichen Kolonialpolitik die Vergangenheit ihres eignen Vaterlandes kennen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Zur italienischen Krisis
bei Überallspannung der Zwangsgewalt im jetzigen Einheitsstnate zu beklagen
sein. Die Italiener haben diesen Staat errungen nicht als eine große Zwangs¬
anstalt, sondern um sich von dem Zwange zu befreien, den die Päpste, die
Bourbonen, die Österreicher ihnen auferlegten, und um sich selber zu leben. Soll
der junge Einheitsstaat lebenskräftig sein, so muß er den kommunalen und
landschaftlichen Eigentünckich reiten Rechnung tragen und den Individualitäten
möglichst freien Spielraum gestatten. Leo fand schon die Staaten des Moisn
i-Lgiinö zu groß für die Bedürfnisse Italiens. „Das schönste Land Europas
ist durch das Aufheben der kleinen politischen Kreise aller Frische beraubt."
(A. a. O. III, 478.)
Völker wie Individuen leisten nur dann ihr Bestes, wenn sie ihrer Eigen¬
art unes behandelt und auf deu richtigen Platz gestellt werden. Zwingt man
sie zu einer Lebensweise, die ihrer Naturanlage nicht entspricht, so macht man
sie nicht besser, sondern schlechter. Bis zu einem gewissen Grade wirkt ja der
Zwang, den eine andersgeartete Individualität ausübt, recht heilsam. Wie
uns schwerfällige», formlosen Germanen eine Weckung und Anregung der Lebens¬
geister durch die lebhaften, mit feinem Schönheitssinn ausgestatteten Romanen
niemals schaden kann, so gereicht es diesen zum Heile, wenn sie von ihren
nördlichen Nachbarn vorübergehend in strenge Zucht genommen worden. Über
die Wechselwirkung zwischen Deutschland und Italien schrieb vor 70 Jahren
Heinrich Leo sehr schön (a. a. O. II, 388. Die preußische und die deutsche
Eigenart zu sondern, was hier eigentlich noch notwendig wäre, würde eine
besondre völkerpsycholvgische Skizze erfordern): „Deutschland ist der Stahl ge¬
wesen, der dem italienischen Steine wahre Funken des Geistes entlockte, der
dem italienische,: Volke, das durch sein Land zu Genuß aufgefordert, jederzeit
geneigt war, in Üppigkeit zu zergehen und sich in eine unendliche Reihe cito-
mistisch aufgebauter Staaten zu zerlegen, ein Joch aufgelegt hat, welches das¬
selbe immer wieder von neuem zu Einigungen, zu Korporationen, mit einem.
Worte zu allgemeinen Bildungen zwang und das Isoliren der Judividunlitäteu
verhinderte."
Eine ähnliche wohlthätige Wirkung soll auch das jetzige Bündnis mit
dem Deutschen Reiche erzeugen. Aber indem die leitenden städtischen Politiker
Italiens, anstatt sich selbst Opfer aufzulegen, dem dnrch Genußsucht nicht im
mindesten gefährdeten Landvolke den letzten Schweiß- und Blutstropfen aus¬
preßten, um damit die Kosten ihres Patriotismus und ihrer Grvßmachtstelluug
zu bestreiten, haben sie das heilende Pflaster ans die unrechte Stelle gelegt.
Also: ehe Italien die Großmacht spielt, muß es erst die hierzu erforder¬
liche physische Kraft erwerben. Mit einem Worte wenigstens »vollen wir zum
Schlüsse auch noch des schmerzhaftesten Schmerzenskindes dieser Grvßmachts-
politik, Massauahs, gedenken. Es scheint kaum glaublich, daß die Urheber dieser
wunderlichen Kolonialpolitik die Vergangenheit ihres eignen Vaterlandes kennen
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |