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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland mit das Slawentum

Die festgewurzelte Meinung, daß der Besitz ihrer Wcstgebiete, namentlich
der Ostseeprovinzen, durch Deutschland unmittelbar bedroht sei, hat zum Teil
das heftige Anrennen gegen die Ostseeprovinzen hervorgerufen. Doch ist diese
Sorge um die Ostseeprovinzen nicht ausreichend, um die Mißstimmung zu er¬
klären, die sich in dem politisch denkenden Rußland gegenüber dem Deutschtum
an sich verbreitet hat. Von allen politischen Fragen der Gegenwart ab¬
gesehen, erwächst in Rußland allmählich ein instinktiver Rassenhaß gegen
den Deutschen, der an die Zeit vor Peter I. oder an die Zeit des Regenten
Nirvn erinnert. Und ein Widerschein davon macht sich in den vielen Ma߬
regeln bemerklich, welche die Regierung gegen das Deutsche und den Deutschen
erlassen hat und noch erläßt. Es ist, als ob Rußland einen Kampf um seine
Westhälfte, um die Ostsee, um das Schwarze Meer kommen sähe und sich
darauf vorbereitete.

Das russische Mißtrauen hat schon zu wiederholten Malen bis nahe an
ernsten Zusammenstoß mit uns geführt. Trotz der Meerfahrt des Kaisers
nach Peterhof wird weder das Mißtrauen noch der Rassenhaß in Nußland
verschwinde", weil nicht so sehr die Handlungen des Deutschen Reiches, als
sein Bestehen selbst den Russen als eine Beeinträchtigung und Bedrohung
erscheint, und weil der Rassenhaß nur zum Teil politischer Natur ist. Das
unter Alexander III. sich aufbauende System, der Absperrung gegen Europa
'se vornehmlich gegen die deutsche Welt gerichtet. Nicht die jahrhundertlange
Ausdehnung bloß hat deu Deutschen gewöhnt, im Osten ein naturgegebenes
Feld der Auswanderung von Menschen und Kulturerzenguissen zu sehen, sondern
ihn zwingt die geographische Lage und die Stufe seiner Kultur dazu, gegen
den Osten vorzudrängen. Auch dieses verstärkt in Rußland das Mißtrauen
und die Abneigung, und aus dieser Erkenntnis vornehmlich sind der sogenannte
Ausländer-Ukas von 1887 und manche andre Sperrvorrichtungen der letzten
Jahre hervorgegangen. Dem Deutschtum ist der Krieg erklärt worden, lind
er wird von den leitenden politischen Klassen eifrig geschürt. In den russischen
Grenzländern, die an Deutschland und Österreich-Ungarn stoßen, leben Hunderl-
wuseude von Deutschen, teils deutsche Reichsaugehörige, teils russische Unter¬
thanen. Die Verordnungen und die Verwaltungspraxis der letzten Jahre
haben über sie eine Art von Belagerungszustand verhängt, der ihnen eine Aus¬
nahmestellung gegenüber deu übrige" dortigen Einwohnern zuweist. Man
wünscht sie los zu werde" oder wenigstens i" jedem Augenblick sich ihrer ent¬
ledigen zu können. Der europäische Osten?, auf de" wir mit jede," Jahre
"ringender !" unsrer Entwicklung angewiesen sind, wird für uns gesperrt, was
d!e unheilvollsten Folgen für uns haben muß. Denn überseeische Auswanderung
und Welthandel kann uus deu freien Verkehr im Osten nicht ersetzen. In
"ieser Haltung Rußlands liegen sehr eingreifende Wandlungen der frühern
Stellung z" Deutschland, und Deutschland kann sich der Wirkuug des Um-


Deutschland mit das Slawentum

Die festgewurzelte Meinung, daß der Besitz ihrer Wcstgebiete, namentlich
der Ostseeprovinzen, durch Deutschland unmittelbar bedroht sei, hat zum Teil
das heftige Anrennen gegen die Ostseeprovinzen hervorgerufen. Doch ist diese
Sorge um die Ostseeprovinzen nicht ausreichend, um die Mißstimmung zu er¬
klären, die sich in dem politisch denkenden Rußland gegenüber dem Deutschtum
an sich verbreitet hat. Von allen politischen Fragen der Gegenwart ab¬
gesehen, erwächst in Rußland allmählich ein instinktiver Rassenhaß gegen
den Deutschen, der an die Zeit vor Peter I. oder an die Zeit des Regenten
Nirvn erinnert. Und ein Widerschein davon macht sich in den vielen Ma߬
regeln bemerklich, welche die Regierung gegen das Deutsche und den Deutschen
erlassen hat und noch erläßt. Es ist, als ob Rußland einen Kampf um seine
Westhälfte, um die Ostsee, um das Schwarze Meer kommen sähe und sich
darauf vorbereitete.

Das russische Mißtrauen hat schon zu wiederholten Malen bis nahe an
ernsten Zusammenstoß mit uns geführt. Trotz der Meerfahrt des Kaisers
nach Peterhof wird weder das Mißtrauen noch der Rassenhaß in Nußland
verschwinde», weil nicht so sehr die Handlungen des Deutschen Reiches, als
sein Bestehen selbst den Russen als eine Beeinträchtigung und Bedrohung
erscheint, und weil der Rassenhaß nur zum Teil politischer Natur ist. Das
unter Alexander III. sich aufbauende System, der Absperrung gegen Europa
'se vornehmlich gegen die deutsche Welt gerichtet. Nicht die jahrhundertlange
Ausdehnung bloß hat deu Deutschen gewöhnt, im Osten ein naturgegebenes
Feld der Auswanderung von Menschen und Kulturerzenguissen zu sehen, sondern
ihn zwingt die geographische Lage und die Stufe seiner Kultur dazu, gegen
den Osten vorzudrängen. Auch dieses verstärkt in Rußland das Mißtrauen
und die Abneigung, und aus dieser Erkenntnis vornehmlich sind der sogenannte
Ausländer-Ukas von 1887 und manche andre Sperrvorrichtungen der letzten
Jahre hervorgegangen. Dem Deutschtum ist der Krieg erklärt worden, lind
er wird von den leitenden politischen Klassen eifrig geschürt. In den russischen
Grenzländern, die an Deutschland und Österreich-Ungarn stoßen, leben Hunderl-
wuseude von Deutschen, teils deutsche Reichsaugehörige, teils russische Unter¬
thanen. Die Verordnungen und die Verwaltungspraxis der letzten Jahre
haben über sie eine Art von Belagerungszustand verhängt, der ihnen eine Aus¬
nahmestellung gegenüber deu übrige» dortigen Einwohnern zuweist. Man
wünscht sie los zu werde» oder wenigstens i» jedem Augenblick sich ihrer ent¬
ledigen zu können. Der europäische Osten?, auf de» wir mit jede,» Jahre
"ringender !» unsrer Entwicklung angewiesen sind, wird für uns gesperrt, was
d!e unheilvollsten Folgen für uns haben muß. Denn überseeische Auswanderung
und Welthandel kann uus deu freien Verkehr im Osten nicht ersetzen. In
"ieser Haltung Rußlands liegen sehr eingreifende Wandlungen der frühern
Stellung z» Deutschland, und Deutschland kann sich der Wirkuug des Um-


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[0069] Deutschland mit das Slawentum Die festgewurzelte Meinung, daß der Besitz ihrer Wcstgebiete, namentlich der Ostseeprovinzen, durch Deutschland unmittelbar bedroht sei, hat zum Teil das heftige Anrennen gegen die Ostseeprovinzen hervorgerufen. Doch ist diese Sorge um die Ostseeprovinzen nicht ausreichend, um die Mißstimmung zu er¬ klären, die sich in dem politisch denkenden Rußland gegenüber dem Deutschtum an sich verbreitet hat. Von allen politischen Fragen der Gegenwart ab¬ gesehen, erwächst in Rußland allmählich ein instinktiver Rassenhaß gegen den Deutschen, der an die Zeit vor Peter I. oder an die Zeit des Regenten Nirvn erinnert. Und ein Widerschein davon macht sich in den vielen Ma߬ regeln bemerklich, welche die Regierung gegen das Deutsche und den Deutschen erlassen hat und noch erläßt. Es ist, als ob Rußland einen Kampf um seine Westhälfte, um die Ostsee, um das Schwarze Meer kommen sähe und sich darauf vorbereitete. Das russische Mißtrauen hat schon zu wiederholten Malen bis nahe an ernsten Zusammenstoß mit uns geführt. Trotz der Meerfahrt des Kaisers nach Peterhof wird weder das Mißtrauen noch der Rassenhaß in Nußland verschwinde», weil nicht so sehr die Handlungen des Deutschen Reiches, als sein Bestehen selbst den Russen als eine Beeinträchtigung und Bedrohung erscheint, und weil der Rassenhaß nur zum Teil politischer Natur ist. Das unter Alexander III. sich aufbauende System, der Absperrung gegen Europa 'se vornehmlich gegen die deutsche Welt gerichtet. Nicht die jahrhundertlange Ausdehnung bloß hat deu Deutschen gewöhnt, im Osten ein naturgegebenes Feld der Auswanderung von Menschen und Kulturerzenguissen zu sehen, sondern ihn zwingt die geographische Lage und die Stufe seiner Kultur dazu, gegen den Osten vorzudrängen. Auch dieses verstärkt in Rußland das Mißtrauen und die Abneigung, und aus dieser Erkenntnis vornehmlich sind der sogenannte Ausländer-Ukas von 1887 und manche andre Sperrvorrichtungen der letzten Jahre hervorgegangen. Dem Deutschtum ist der Krieg erklärt worden, lind er wird von den leitenden politischen Klassen eifrig geschürt. In den russischen Grenzländern, die an Deutschland und Österreich-Ungarn stoßen, leben Hunderl- wuseude von Deutschen, teils deutsche Reichsaugehörige, teils russische Unter¬ thanen. Die Verordnungen und die Verwaltungspraxis der letzten Jahre haben über sie eine Art von Belagerungszustand verhängt, der ihnen eine Aus¬ nahmestellung gegenüber deu übrige» dortigen Einwohnern zuweist. Man wünscht sie los zu werde» oder wenigstens i» jedem Augenblick sich ihrer ent¬ ledigen zu können. Der europäische Osten?, auf de» wir mit jede,» Jahre "ringender !» unsrer Entwicklung angewiesen sind, wird für uns gesperrt, was d!e unheilvollsten Folgen für uns haben muß. Denn überseeische Auswanderung und Welthandel kann uus deu freien Verkehr im Osten nicht ersetzen. In "ieser Haltung Rußlands liegen sehr eingreifende Wandlungen der frühern Stellung z» Deutschland, und Deutschland kann sich der Wirkuug des Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/69>, abgerufen am 29.06.2024.