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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und das Slawentum

bestimmend über die Grenzen des Reiches hinübergreife. Das bloße Dasein
einer so stetig anschwellenden Kraft inmitten Europas übt, auch wo sie sich
nicht unmittelbar handelnd in der Politik äußert, einen Einfluß aus, dem sich
die Nachbarn, nicht entziehen können.

Unter den mannichfachen Wirkungen, welche die Neugründuug Deutsch-
lands in internationaler Beziehung gehabt hat, ragt als bedeutsamste hervor
die Änderung in den staatlichen und nationalen Beziehungen Deutschlands zu
dem Slawentum und den slawischen Staaten.

Jahrhunderte lang hat das alte staatliche Deutschland nur matt ab¬
wehrend dem Slawentum gegenüber gestanden. Erst Polen, dann seit dein
Anfang des 18. Jahrhunderts Rußland, drängten es immer mehr aus seiner
ehemaligen vorschreitendem Stellung im Osten Europas zurück. Vom Tilsiter
Frieden etwa bis 1866 hat Deutschland 60 Jahre lang dem russischen Reiche
mehr oder minder schwere Vasallendienste leisten müssen. Diesem staatlichen
Verhältnis der Abhängigkeit von Rußland entsprach inzwischen nicht das Ver¬
hältnis, in dem das deutsche Volk zum Slawentum stand. In Österreich hielt
man noch an dem überlieferten deutschen Staatsbewußtsein fest, das die Herr¬
schaft und Ausbreitung deutscheu Wesens unterstützte. Die politische Ab¬
hängigkeit Preußens vou Rußland sowie das Bedürfnis Rußlands nach
befruchtendem Verkehr mit Europa gestatteten das Vordringen deutscher Kultur¬
elemente über die russische Grenze hiu, ohne nationale Eifersucht wach zu
rufen. Es war wie die Freundschaft eines alternden und weisen Erziehers
zu seinem mündig gewordenen und selbstbewußten Zögling. Der alte weise
Freund verwandelte sich zwischen 1860 und 1870 in einen jungen, stolzen
Herrn, und die Freundschaft mit dem ehemaligen Zögling erkaltete alsbald.

Seit 1870 vollzieht sich nun langsam eine völlige Wandlung in den
deutsch-slawischen Beziehungen. In Osterreich hat das gegenwärtige Ministerium
des Grafen Taaffe mit der alten Überlieferung >des deutscheu Staatswesens
offen gebrochen, um, wie es scheint, langsam in einem slawisch-magyarischen
Dualismus überzugehen. Unten im Volke hatte der nationale Angriff der
habsburgischenSlawen gegen das Deutschtum bereits längst vor diescmMinisterium
begonnen. Jetzt schreitet das Slawentum besonders in Böhmen von Erfolg
zu Erfolg, der Kampf der beiden Völker tobt durch alle Lnuder der öster¬
reichischen Krone. Dabei stützen sich die Slawen anscheinend weniger als früher
auf Rußland; allem, sie Habens eben uicht nötig, solange als Graf Taaffe
ihnen dasselbe leistet, was der Zar thun könnte, und sie werden erst in dem
Augenblicke wieder, und dann unbedenklich, auf Rußland zurückgreifen, wo sie
in Wien etwa Steine in dem Wege finden sollten, den sie erwählt haben.
Im österreichischen Abgeordnetenhause hat Dr. Rieger am 7. Dezember vorigen
Jahres den Panslawismus weit von sich gewiesen. Man darf ein der
Aufrichtigkeit feiner Erklärung uicht zweifeln und darf getrost auch glauben,


Deutschland und das Slawentum

bestimmend über die Grenzen des Reiches hinübergreife. Das bloße Dasein
einer so stetig anschwellenden Kraft inmitten Europas übt, auch wo sie sich
nicht unmittelbar handelnd in der Politik äußert, einen Einfluß aus, dem sich
die Nachbarn, nicht entziehen können.

Unter den mannichfachen Wirkungen, welche die Neugründuug Deutsch-
lands in internationaler Beziehung gehabt hat, ragt als bedeutsamste hervor
die Änderung in den staatlichen und nationalen Beziehungen Deutschlands zu
dem Slawentum und den slawischen Staaten.

Jahrhunderte lang hat das alte staatliche Deutschland nur matt ab¬
wehrend dem Slawentum gegenüber gestanden. Erst Polen, dann seit dein
Anfang des 18. Jahrhunderts Rußland, drängten es immer mehr aus seiner
ehemaligen vorschreitendem Stellung im Osten Europas zurück. Vom Tilsiter
Frieden etwa bis 1866 hat Deutschland 60 Jahre lang dem russischen Reiche
mehr oder minder schwere Vasallendienste leisten müssen. Diesem staatlichen
Verhältnis der Abhängigkeit von Rußland entsprach inzwischen nicht das Ver¬
hältnis, in dem das deutsche Volk zum Slawentum stand. In Österreich hielt
man noch an dem überlieferten deutschen Staatsbewußtsein fest, das die Herr¬
schaft und Ausbreitung deutscheu Wesens unterstützte. Die politische Ab¬
hängigkeit Preußens vou Rußland sowie das Bedürfnis Rußlands nach
befruchtendem Verkehr mit Europa gestatteten das Vordringen deutscher Kultur¬
elemente über die russische Grenze hiu, ohne nationale Eifersucht wach zu
rufen. Es war wie die Freundschaft eines alternden und weisen Erziehers
zu seinem mündig gewordenen und selbstbewußten Zögling. Der alte weise
Freund verwandelte sich zwischen 1860 und 1870 in einen jungen, stolzen
Herrn, und die Freundschaft mit dem ehemaligen Zögling erkaltete alsbald.

Seit 1870 vollzieht sich nun langsam eine völlige Wandlung in den
deutsch-slawischen Beziehungen. In Osterreich hat das gegenwärtige Ministerium
des Grafen Taaffe mit der alten Überlieferung >des deutscheu Staatswesens
offen gebrochen, um, wie es scheint, langsam in einem slawisch-magyarischen
Dualismus überzugehen. Unten im Volke hatte der nationale Angriff der
habsburgischenSlawen gegen das Deutschtum bereits längst vor diescmMinisterium
begonnen. Jetzt schreitet das Slawentum besonders in Böhmen von Erfolg
zu Erfolg, der Kampf der beiden Völker tobt durch alle Lnuder der öster¬
reichischen Krone. Dabei stützen sich die Slawen anscheinend weniger als früher
auf Rußland; allem, sie Habens eben uicht nötig, solange als Graf Taaffe
ihnen dasselbe leistet, was der Zar thun könnte, und sie werden erst in dem
Augenblicke wieder, und dann unbedenklich, auf Rußland zurückgreifen, wo sie
in Wien etwa Steine in dem Wege finden sollten, den sie erwählt haben.
Im österreichischen Abgeordnetenhause hat Dr. Rieger am 7. Dezember vorigen
Jahres den Panslawismus weit von sich gewiesen. Man darf ein der
Aufrichtigkeit feiner Erklärung uicht zweifeln und darf getrost auch glauben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/66>, abgerufen am 28.09.2024.