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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Blicke nach Osten

auf sich ablenken und es an seiner Ostgrenze zunächst wohl vorwiegend zur
Verteidigung nötigen, Rußland also mehr oder minder freie Hand gegen
Osterreich gewinnen würde. Doch hätte Frankreich solchenfalls an den dritten
Verbündeten der beiden mitteleuropäischen Mächte, an Italien zu denken, und
anderseits könnte Nußland sich durch den Stand seiner Finanzen gezwungen
glauben, die Rolle des ersten Angreifers zu übernehmen, und daun wären die
weitern Fragen zur Losung gestellt: Wen wird es in erster Linie angreifen,
Osterreich oder Deutschland, in welcher Richtung könnte sich ein russischer
Augriff des einen oder des andern Reiches bewegen, und welche Aussichten
auf Erfolg böten sich ihm dabei? Schon ein oberflächlicher Vergleich der
militärischen Leistungsfähigkeit der Russen mit der der verbündeten Deutschen
und Österreicher lehrt, daß das Zarenreich gegen diese keinen Angriffskrieg
gleichzeitig auf zwei Fronten führen kann; es würde sich daher schlüssig zu
machen haben, gegen welche von beiden Mächten es zunächst angriffsweise
vorgehen und gegen welche es vorläufig sich auf die Defensive beschränken
müsse. Der Verfasser der Schrift "Das Kriegstheater an der Weichsel" beantwortet
diese Frage (wir geben nur das wesentlichste seiner Betrachtungen) wie folgt.

Rußland besitzt in der befestigten Weichfellinie eine sehr starke Verteidigungs¬
stellung gegen Deutschland, deren rechte Flanke durch Flußläufe, Sümpfe und
Seen von der Natur gesichert ist und seit einiger Zeit auch von dem befestigten
Lager von Kownv sowie von einer verstärkten Ostseeflotte verteidigt wird,
während die linke durch die bedeutende Festung Brest - Litewski sowie durch
die befestigten Plätze Zamose, Lnzk, Dubuo und Saslaw geschützt ist.
Die vier letztgenannten Punkte decken mich gegen Österreich. Dagegen ist
die russische Grenze von hier bis zur Küste des Schwarzen Meeres durch
Kamenez-Podolsr und Bender nur unvollkommen geschlossen und zwischen
Bender und Dubno völlig offen. Folglich würden die Russen ihr Gebiet gegen
Deutschland leichter verteidigen können als gegen Österreich. Der Kriegszweck
wird in der Weise erreicht, daß zuerst die Feldarmee des Feindes geschlagen,
dann ihm die Mittel zur Bildung neuer Streitkräfte entzogen werden, indem
man solche Orte oder Gegenden besetzt, die geeignet sind, solche Mittel zunächst
zu liefern, und das sind die großen Städte und die bedeutender"! Festungen.
Der russische Generalstab würde sich dem zufolge bei Aufstellung seines Opera-
tionsentwnrfs die Frage vorzulegen haben: in welchem Teile der Grenzbezirke
wird der Aufmarsch der feindliche" Armee erfolgen? und wenn er sich diese
dahin beantwortete: der des deutschen Heeres voraussichtlich zwischen Netze
und Warthe, der des österreichischen wahrscheinlich in Ostgalizien zwischen
Lemberg und Czernvwitz, so könnte er zu einem Angriffe folgende Wege wählen.

Gegen Deutschland drei: 1. vom Riemen gegen Ostpreußen, dessen Besetzung
wünschenswert ist, weil diese Provinz das russische Gebiet weithin umfaßt und
die Weichfellinie von Flanke und Rücken her bedroht, weil ferner hier Aussicht


Militärisch-politische Blicke nach Osten

auf sich ablenken und es an seiner Ostgrenze zunächst wohl vorwiegend zur
Verteidigung nötigen, Rußland also mehr oder minder freie Hand gegen
Osterreich gewinnen würde. Doch hätte Frankreich solchenfalls an den dritten
Verbündeten der beiden mitteleuropäischen Mächte, an Italien zu denken, und
anderseits könnte Nußland sich durch den Stand seiner Finanzen gezwungen
glauben, die Rolle des ersten Angreifers zu übernehmen, und daun wären die
weitern Fragen zur Losung gestellt: Wen wird es in erster Linie angreifen,
Osterreich oder Deutschland, in welcher Richtung könnte sich ein russischer
Augriff des einen oder des andern Reiches bewegen, und welche Aussichten
auf Erfolg böten sich ihm dabei? Schon ein oberflächlicher Vergleich der
militärischen Leistungsfähigkeit der Russen mit der der verbündeten Deutschen
und Österreicher lehrt, daß das Zarenreich gegen diese keinen Angriffskrieg
gleichzeitig auf zwei Fronten führen kann; es würde sich daher schlüssig zu
machen haben, gegen welche von beiden Mächten es zunächst angriffsweise
vorgehen und gegen welche es vorläufig sich auf die Defensive beschränken
müsse. Der Verfasser der Schrift „Das Kriegstheater an der Weichsel" beantwortet
diese Frage (wir geben nur das wesentlichste seiner Betrachtungen) wie folgt.

Rußland besitzt in der befestigten Weichfellinie eine sehr starke Verteidigungs¬
stellung gegen Deutschland, deren rechte Flanke durch Flußläufe, Sümpfe und
Seen von der Natur gesichert ist und seit einiger Zeit auch von dem befestigten
Lager von Kownv sowie von einer verstärkten Ostseeflotte verteidigt wird,
während die linke durch die bedeutende Festung Brest - Litewski sowie durch
die befestigten Plätze Zamose, Lnzk, Dubuo und Saslaw geschützt ist.
Die vier letztgenannten Punkte decken mich gegen Österreich. Dagegen ist
die russische Grenze von hier bis zur Küste des Schwarzen Meeres durch
Kamenez-Podolsr und Bender nur unvollkommen geschlossen und zwischen
Bender und Dubno völlig offen. Folglich würden die Russen ihr Gebiet gegen
Deutschland leichter verteidigen können als gegen Österreich. Der Kriegszweck
wird in der Weise erreicht, daß zuerst die Feldarmee des Feindes geschlagen,
dann ihm die Mittel zur Bildung neuer Streitkräfte entzogen werden, indem
man solche Orte oder Gegenden besetzt, die geeignet sind, solche Mittel zunächst
zu liefern, und das sind die großen Städte und die bedeutender»! Festungen.
Der russische Generalstab würde sich dem zufolge bei Aufstellung seines Opera-
tionsentwnrfs die Frage vorzulegen haben: in welchem Teile der Grenzbezirke
wird der Aufmarsch der feindliche« Armee erfolgen? und wenn er sich diese
dahin beantwortete: der des deutschen Heeres voraussichtlich zwischen Netze
und Warthe, der des österreichischen wahrscheinlich in Ostgalizien zwischen
Lemberg und Czernvwitz, so könnte er zu einem Angriffe folgende Wege wählen.

Gegen Deutschland drei: 1. vom Riemen gegen Ostpreußen, dessen Besetzung
wünschenswert ist, weil diese Provinz das russische Gebiet weithin umfaßt und
die Weichfellinie von Flanke und Rücken her bedroht, weil ferner hier Aussicht


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[0594] Militärisch-politische Blicke nach Osten auf sich ablenken und es an seiner Ostgrenze zunächst wohl vorwiegend zur Verteidigung nötigen, Rußland also mehr oder minder freie Hand gegen Osterreich gewinnen würde. Doch hätte Frankreich solchenfalls an den dritten Verbündeten der beiden mitteleuropäischen Mächte, an Italien zu denken, und anderseits könnte Nußland sich durch den Stand seiner Finanzen gezwungen glauben, die Rolle des ersten Angreifers zu übernehmen, und daun wären die weitern Fragen zur Losung gestellt: Wen wird es in erster Linie angreifen, Osterreich oder Deutschland, in welcher Richtung könnte sich ein russischer Augriff des einen oder des andern Reiches bewegen, und welche Aussichten auf Erfolg böten sich ihm dabei? Schon ein oberflächlicher Vergleich der militärischen Leistungsfähigkeit der Russen mit der der verbündeten Deutschen und Österreicher lehrt, daß das Zarenreich gegen diese keinen Angriffskrieg gleichzeitig auf zwei Fronten führen kann; es würde sich daher schlüssig zu machen haben, gegen welche von beiden Mächten es zunächst angriffsweise vorgehen und gegen welche es vorläufig sich auf die Defensive beschränken müsse. Der Verfasser der Schrift „Das Kriegstheater an der Weichsel" beantwortet diese Frage (wir geben nur das wesentlichste seiner Betrachtungen) wie folgt. Rußland besitzt in der befestigten Weichfellinie eine sehr starke Verteidigungs¬ stellung gegen Deutschland, deren rechte Flanke durch Flußläufe, Sümpfe und Seen von der Natur gesichert ist und seit einiger Zeit auch von dem befestigten Lager von Kownv sowie von einer verstärkten Ostseeflotte verteidigt wird, während die linke durch die bedeutende Festung Brest - Litewski sowie durch die befestigten Plätze Zamose, Lnzk, Dubuo und Saslaw geschützt ist. Die vier letztgenannten Punkte decken mich gegen Österreich. Dagegen ist die russische Grenze von hier bis zur Küste des Schwarzen Meeres durch Kamenez-Podolsr und Bender nur unvollkommen geschlossen und zwischen Bender und Dubno völlig offen. Folglich würden die Russen ihr Gebiet gegen Deutschland leichter verteidigen können als gegen Österreich. Der Kriegszweck wird in der Weise erreicht, daß zuerst die Feldarmee des Feindes geschlagen, dann ihm die Mittel zur Bildung neuer Streitkräfte entzogen werden, indem man solche Orte oder Gegenden besetzt, die geeignet sind, solche Mittel zunächst zu liefern, und das sind die großen Städte und die bedeutender»! Festungen. Der russische Generalstab würde sich dem zufolge bei Aufstellung seines Opera- tionsentwnrfs die Frage vorzulegen haben: in welchem Teile der Grenzbezirke wird der Aufmarsch der feindliche« Armee erfolgen? und wenn er sich diese dahin beantwortete: der des deutschen Heeres voraussichtlich zwischen Netze und Warthe, der des österreichischen wahrscheinlich in Ostgalizien zwischen Lemberg und Czernvwitz, so könnte er zu einem Angriffe folgende Wege wählen. Gegen Deutschland drei: 1. vom Riemen gegen Ostpreußen, dessen Besetzung wünschenswert ist, weil diese Provinz das russische Gebiet weithin umfaßt und die Weichfellinie von Flanke und Rücken her bedroht, weil ferner hier Aussicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/594>, abgerufen am 28.09.2024.